soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 3 (2009) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/124/172.pdf


Julia Pfurtscheller:

Kriminalität im Asylverfahren

1. Einleitung: Zahlen und Fakten zur Kriminalität von AsylwerberInnen in Österreich
Kriminalität im Asylverfahren ist eine soziale Realität in der österreichischen Gesellschaft, die im täglichen politischen und medialen Diskurs einen allgegenwärtigen Problembereich darstellt. Wagt man einen näheren Blick auf das Thema, werden zwei Aspekte deutlich: Zum einen geben die vorhandenen statistischen Erfassungen der Kriminalität im Asylverfahren (siehe dazu BMI, 2007 sowie BMI & BMJ, 2006) wenig Aufschluss über Kriminalitätsmuster, Hintergründe und Ursachen (vgl. Pilgram, 2007: 360-363) und lassen sich vor diesem Hintergrund in Medienberichten gut "emotionalisieren und dramatisieren" (Walter, 2001: 212). Zum anderen erhält man bei der Suche nach wissenschaftlichen Analysen und Untersuchungen den Eindruck, es handle sich im Sinne von Steffen um das "Tabuthema Ausländerkriminalität" (Steffen, 2001: 231).

Die genaue Betrachtung der verfügbaren amtlichen Statistiken ermöglichte daher vorerst keine konkreten Erkenntnisse, förderte und untermauerte jedoch die Entstehung der leitenden Fragestellung. Es zeigte sich, dass unter allen tatverdächtigen und verurteilten AsylwerberInnen, die Deliktsgruppe der Vermögensdelikte sowie die strafbaren Handlungen nach SMG den weitaus größten Teil aller Delikte unter AsylwerberInnen ausmachen (vgl. BMI, 2007: Tabelle B41 und BMI & BMJ, 2006: Tabelle 2). Wenn Hofinger in diesem Zusammenhang von Fremden mit "prekärem, irregulärem oder ungesichertem rechtlichen Status, [von] Menschen, die oft jahrelang auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten, und [von] Menschen, die keine realistische Chance darauf haben, je regulär in Österreich leben und arbeiten zu können" (Hofinger, 2006: 5) spricht, liegt die Frage nach der Bedeutung der (Rahmen-) Bedingungen in rechtlicher, gesellschaftlicher und psychosozialer Hinsicht in Österreich bei der Entstehung von Kriminalität im Asylverfahren nahe.

2. Dimensionen des Alltags im Asylverfahren und die Entstehung von Kriminalität
Ausgangspunkt und Grundlage für die empirische Untersuchung war die Analyse vorhandener sozialwissenschaftlicher und kriminologischer Erkenntnisse mit dem Ziel ein Bild des Alltags von AsylwerberInnen in Österreich entstehen zu lassen. Dass sich AsylwerberInnen, bedingt durch ihren Status und damit in enger Verbindung stehende rechtliche, psychosoziale und gesellschaftliche Aspekte, von vornherein in einer belasteten Ausgangssituation befinden wird deutlich, wenn Freise im Migrationsprozess eine "Identitätserschütterung" (Freise, 2005: 88) sieht und Schütz über das Entstehen einer "Krisis" (Schütz, 1972: 59) durch den Verlust der Lebenswelt schreibt. Abhängig davon, wie eine Gesellschaft - hier insbesondere die österreichische - Rahmenbedingungen mittels rechtlichen Rahmenbedingungen für AsylwerberInnen wählt und welche Möglichkeiten auf gesellschaftlicher Ebene zur Unterstützung, Integration und Bearbeitung psychischer Belastungsmomente vorhanden sind, wird ein stabiler oder krisenhafter Alltag während dem Asylverfahren gefördert. Zahlreiche unterschiedliche Aspekte können vor diesem Hintergrund als einflussreiche Facetten identifiziert werden, insbesondere unterschiedlichste rechtliche Bestimmungen zum rechtlichen Status von AsylwerberInnen und zum Asylverfahren an sich, das Ausmaß der Grundvorsorgung durch den Bund, die Auswirkungen auf psychischer Ebene welche aus dem Migrationsprozess und den Bedingungen der Flucht hervorgehen und während des Asylverfahrens ihre unterschiedlichsten Wirkungen entfalten, aber auch die Einstellungen und Haltungen österreichischer StaatsbürgerInnen im indirekten aber auch direkten Umgang mit Schutzsuchenden.

Neben all diesen Rahmenbedingungen und Bedingungen in Österreich, mit welchen AsylwerberInnen, zwar in unterschiedlicher Intensität, aber unweigerlich konfrontiert werden, kann auch davon ausgegangen werden, dass dieser Rahmen eine grundlegende Bedeutung hinsichtlich der Entstehung von Kriminalität aufweist.

Kriminalität an sich bezieht sich auf menschliches Handeln, muss aber auch als eine abstrakte Kategorie erfasst werden, die "jene Verhaltensweisen, welche durch Gesetze oder Sitten von Gesellschaften geächtet, wenn sie begangen und entdeckt werden, gewisse Reaktionen von Agenten der sozialen Kontrolle hervorrufen" (Phillipson, 1982: 127) umfasst. Diese Definition des Begriffs lässt bereits die im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend bedeutende Beziehung zwischen Täter und Umwelt sowie die Bedeutung der Rahmenbedingungen für die Bearbeitung der Fragestellung als nahe liegend erkennen, wobei innerhalb der Kriminalitätstheorien die Anomietheorie nach R.K. Merton als Teil der Selektionstheorien diesen Aspekt besonders berücksichtigt. Merton beschreibt, dass "soziale Strukturen ausgesprochenen Druck auf bestimmte Personen in der Gesellschaft ausüben, sich eher nicht-konform als konform zu verhalten" (Merton, 1995: 127-128) wenn Menschen untergeordneter Schichtgruppen aufgrund des mangelnden Zugangs zu Ressourcen allgemein hoch angesehene Güter auf legalem Wege nicht erreichen können.

An dieser Stelle liegt ein mögliches Zusammenwirken unterschiedlicher Bedingungen und Dimensionen des Alltags im Asylverfahren bereits nahe, welches es mittels eines qualitativen Erhebungsverfahrens zu untersuchen galt.

3. Forschungsdesign
Mit dem Ziel die Bedeutung der (Rahmen-) Bedingungen in Österreich und das Zusammenspiel dieser in rechtlicher, psychosozialer und gesellschaftlicher Hinsicht im Entstehungsprozess von Kriminalität im Asylverfahren zu erfassen, wurde ein qualitatives Vorgehen mittels problem-zentrierter Leitfadeninterviews mit ExpertInnen gewählt, da der Zugang zur eigentlichen Zielgruppe AsylwerberInnen und die Befragung dieser hinsichtlich der Ursprünge und Hintergründe von Kriminalität im Asylverfahren durch "sozial erwünschte Antworten" (Kromrey, 2006: 360) zu Verzerrungen der Ergebnisse geführt hätte. ExpertInnen ermöglichten dabei eine professionelle Einschätzung und die Kompetenz der Erfassung eines möglichen Zusammenspiels der einzelnen Bedingungen, weshalb auch unterschiedlichste Berufsgruppen aus verschiedensten beruflichen Kontexten befragt wurden. Die Auswertung des erhobenen Materials passierte auf Basis der qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser & Laudel (2004) mithilfe eines aus den theoretischen Vorüberlegungen entstandenen Kategoriensystems.

4. Kriminalität im Provisorium "Alltag im Asylverfahren"
Die Ergebnisse zeigen - neben vereinzelten widersprüchlichen Sichtweisen und Aussagen - ein allgemein sehr einheitliches Bild auf. Im Allgemeinen ist ein Alltag von AsylwerberInnen in Österreich zu erkennen, der sich durch zahlreiche Belastungsmomente kennzeichnet und nur geringe Entlastungen und Unterstützungen zur Bewältigung der kritischen Lebenssituation beinhaltet. Dieser Alltag wird von einigen ExpertInnen hinsichtlich der drei relevanten Dimensionen des Alltags sogar als "Katastrophenzustand" beschrieben. Besonders zu erwähnen sind dabei in erster Linie aus rechtlichen Bestimmungen hervorgehende Belastungen wie die Länge der Asylverfahren, die daraus hervorgehende Unsicherheit, die Komplexität der rechtlichen Bestimmungen, das unzureichende Ausmaß der Grundversorgung sowie der rechtlich mögliche aber praktisch nicht umsetzbare Zugang zum Arbeitsmarkt. Hinzu kommt ein hohes Maß an Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierungsmechanismen innerhalb der österreichischen Gesellschaft, welche teilweise sogar rechtlich legitimiert zu sein scheinen. Zuletzt zeigt sich auch der psychosoziale Bereich als einer, der zahlreiche Einschnitte erfährt, insbesondere durch Erfahrungen, welche AsylwerberInnen auf der Flucht in das Zielland machen und dem Verlust der Heimat an sich. Der Alltag von AsylwerberInnen in Österreich ist und bleibt ein Provisorium mit gravierenden belastenden Konsequenzen hinsichtlich der Lebensführung und Lebensgestaltung.

Die gesellschaftliche Benachteiligung von AsylwerberInnen in Österreich knüpft daher an die Anomietheorie nach R. K. Merton an , womit die zahlenmäßig deutlich vor den Entlastungen stehenden Belastungsmomente als kriminogene Faktoren identifiziert werden können. Eine besondere Position kommt darin den Beschränkungen im Zugang zum Arbeitsmarkt zu, da die finanzielle Absicherung des eigenen Lebensbedarfs unter AsylwerberInnen bedeutend erschwert wird beziehungsweise nicht möglich ist.

Rahmenbedingungen in Österreich haben damit eine oftmals unterschätzte Bedeutung im Entstehungsprozess von Kriminalität. Ein Zusammenhang zwischen Belastungen im Alltag von AsylwerberInnen und der Entstehung von Kriminalität kann im Rahmen der durchgeführten Untersuchung jedoch nur für Formen der Kriminalität bestätigt werden, die nicht in organisierter Weise, zumeist in Form von Kleinkriminalität, auftreten. Organisierte Verbrechen stehen in keinem Zusammenhang zu (Rahmen-) Bedingungen des Alltags von AsylwerberInnen in Österreich.

5. Resümee
Kriminalität im Asylverfahren zeigt sich als eine soziale Realität der österreichischen Gesellschaft, die trotz mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder missbräuchlich für populistische Argumentationszwecke verwendet wird. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, einen möglichst weiten Blickwinkel auf dieses Thema zu werfen, um subtile und umfassende Hintergründe und Ursachen krimineller Handlungen von AsylwerberInnen erklärbar zu machen. Die Ergebnisse sind allgemein dargestellt, können daher nicht ohne Adaption auf Einzelfälle angewendet werden, sondern verstehen sich als ein Versuch, die Ursprünge der Kriminalität im Asylverfahren differenzierter betrachten zu können.

Es bleibt zu hoffen, dass die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zu weiterführenden Untersuchungen dieses tabuisierten Themenbereichs anregen und dazu beitragen, den Blickwinkel auf die Kriminalität im Asylverfahren zu erweitern, ohne dabei einseitigen und unreflektierten Analysen und Aussagen zu unterliegen, sondern nach umfassenden, unterschiedliche Dimensionen berücksichtigenden Strategien des Umgangs mit diesem gesellschaftlichen Problembereich zu suchen.

Literatur / Quellen
Bundesministerium für Inneres & Bundesministerium für Justiz (2006): Sicherheitsbericht 2005. Kriminalität 2005. Vorbeugung, Aufklärung und Strafrechtspflege. Bericht der Bundesregierung über die innere Sicherheit in Österreich. Wien: Bundesministerium für Inneres und Bundesministerium für Justiz.
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Fassmann, Heinz (Hrsg.) (2007): Zweiter Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht. Klagenfurt/Celovec: Drava Verlag.
Freise, Josef (2005): Interkulturelle Soziale Arbeit. Theoretische Grundlagen - Handlungsansätze - Übungen zum Erwerb interkultureller Kompetenz. Reihe Politik und Bildung. Band 36. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
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Lüderssen, Klaus & Sack, Fritz (Hrsg.) (1982): Abweichendes Verhalten I. Die selektiven Normen der Gesellschaft (2. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
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Steffen, Wiebke (2001): Strukturen der Kriminalität der Nichtdeutschen. In Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Raum und Kriminalität. Sicherheit der Stadt. Migrationsprobleme (S. 231-262). Godesberg: Forum Verlag.
Walter, Michael (2001): Migration und damit verbundene Kriminalitätsprobleme. In Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Raum und Kriminalität. Sicherheit der Stadt. Migrationsprobleme (S. 211-230). Godesberg: Forum Verlag.


Über die Autorin

Mag. a (FH) Julia Pfurtscheller, Jg. 1985
julia.pfurtscheller@gmx.at
Abschluss der Ausbildung zur Sozialarbeiterin an der FH Joanneum Graz im Oktober 2008.
Seit August 2008 als Sozialarbeiterin in einer Notschlafstelle für österreichische StaatsbürgerInnen tätig.