soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 3 (2009) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/133/174.pdf
Andrea Prieschl:
1. Einleitung
Phänomene sozialer Exklusion gewinnen im Bereich der Sozialwissenschaften an Relevanz und stellen hinsichtlich ihrer Folgen eine Herausforderung für die Soziale Arbeit dar. Die öffentliche Jugendwohlfahrt ist vermehrt mit Jugendlichen konfrontiert, die sich gegenüber dem normvarianten Jugendwohlfahrtsfall abgrenzen und die im gängigen Sprachgebrauch als "besonders schwierig" oder "unbetreubar" gelten. Sie haben entweder bereits mehrere Jugendwohlfahrtsmaßnahmen erfolglos durchlaufen oder nehmen die Betreuungen erst gar nicht an. Die Fachpraxis, bspw. der Steirische Jugendwohlfahrtsplan, spricht davon, dass die Jugendwohlfahrt an den Rand ihrer Möglichkeiten stößt (vgl. Steirischer Jugendwohlfahrtsplan, 2005:39).
Die Diplomarbeit betrachtet diesen Prozess unter systemtheoretischen Gesichtspunkten in der Luhmannschen Tradition. Die Differenzbildung im System Soziale Arbeit erfolgt dabei anhand der binären Codierung Fall/Nichtfall und führt zur Entwicklung von vier Leitthesen auf der Grundlage einer Einzelfallstudie.
2. Forschungsfrage, Forschungsmethode
Die Diplomarbeit betrachtet den Prozess des Herausfallens und behandelt letztendlich die Fragen wie der Prozess der sozialen Exklusion im Bereich der öffentlichen Jugendwohlfahrt aussieht und welche Aufträge sich für die Soziale ergeben.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der Fall der 18 jährigen Melanie1, anhand deren Fallverlaufs der Prozess der Exklusion beschrieben und analysiert wird. Das Forschungsdesign der qualitativen Einzelfallstudie ermöglicht es dabei, ein umfassendes und realistisches Bild der sozialen Wirklichkeit eines solchen Exklusionsgeschehens zu zeichnen. Neben der Erziehungsberatung durch Psychologen und Sprengelsozialarbeiterinnen wurden im Zeitraum von 1994 bis 2008 sechzehn Dienste durch die Jugendwohlfahrt eingesetzt und finanziert. Einzelne Institutionen verweigerten auch die Aufnahme. Melanie war sowohl Klientin der Jugendwohlfahrt, als auch Patientin der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zusätzlich war sie mehrmals in Haft.
Als Erhebungstechniken wurden Intensivinterviews mit der Klientin, ihren Eltern, einem Betreuer und einer Sozialarbeiterin sowie die Dokumentenanalysen des Jugendwohlfahrtsaktes herangezogen.
3. Exklusion und öffentliche Jugendwohlfahrt
Die öffentliche Jugendwohlfahrt ist systemtheoretisch betrachtet ein Organisationssystem, das als wohlfahrtsstaatliche Leistungsverwaltung der Sozialen Arbeit betrachtet werden kann. Operationen innerhalb von Systemen werden mittels binärer Codes vollzogen, die es dem Beobachter außerhalb des Systems ermöglichen, Zugehörigkeiten festzustellen. Zumindest der Kernbereich Sozialer Arbeit ist nach Eugster (2000:96) an der Differenz Fall/Nichtfall ausgerichtet. Als Organisationssystem operiert öffentliche Jugendwohlfahrt demnach aufgrund von Programmen, die Kriterien zur Umsetzung dieser übergeordneten Codierung sind und in diesem Sinne Individuen entweder inkludiert oder exkludiert.
In der Steiermark kann bspw. die LEVO (Leistungsverordnung) als solches Programm bezeichnet werden. Dort werden die einzelnen Angebote der öffentlichen Jugendwohlfahrt detailliert beschrieben. Unter dem Punkt Zielgruppe wird darin aufgezeigt, welche Indikationen bzw. Kontraindikationen gelten. Die Leitdifferenz Fall/Nichtfall anwendend, ist davon auszugehen, dass all jene Personen, die kontraindiziert sind, als Nichtfälle angesehen werden und somit exkludiert werden. Bei dieser Exklusionsvariante handelt es sich sozusagen um "absichtliche Entscheidungen", die kommuniziert werden.
Um dem Bereich des Nichtfalles zugeordnet zu werden, sind freilich auch "unbeabsichtigte (nicht kommunizierte) Entscheidungen" möglich. Wenn bspw. Verhaltensdispositionen sich in ihren Äußerungsformen nicht mit den Prozessstandards der Jugendwohlfahrtshilfen in Einklang bringen lassen, auch wenn die ihnen zugrunde liegende Störung als Indikation für eine Jugendwohlfahrtsleistung eingeführt wurde, werden diese Klienten eben nicht als Fall gesehen.
4. Entwicklung von Leitthesen und Ergebnisse der Untersuchung
Funktionssysteme exkludieren aufgrund ihres binären Codes - und in weiterer Folge auch Organisationssysteme aufgrund ihrer Programme - Individuen (vgl. Eugster, 2000:99). Exklusion wird als Strukturmerkmal begriffen. Solange in einem Teilsystem Angebote existieren, die Klientel als Fall identifizieren, ist diese in eine Betreuung inkludiert. In der Praxis allerdings wird dies dann problematisch, wenn keine eigenen Leistungen für eine Klientel, hier Jugendliche, definiert werden, wie bspw. in der LEVO.
Auf dieser theoretischen Basis werden vier Leitthesen zur Analyse des empirischen Materials formuliert:
Die Untersuchung zeigt, dass eine systemtheoretische Herangehensweise den Beobachter dazu auffordert, seinen Blick zu verändern. Nicht mehr die Jugendlichen selbst werden durch Etikettierungen wie "besonders schwierig" oder "unbetreubar" zu Symptomträgern, sondern die Exklusionsprozesse gelten als Strukturmerkmal einer modernen, ausdifferenzierten Funktionsgesellschaft. Für das Organisationssystem öffentliche Jugendwohlfahrt bedeutet dies, dass es als System selbst im Rahmen der LEVO bestimmte Individuen - Fälle - inkludiert und andere - Nichtfälle - exkludiert. Dieses Ein- beziehungsweise Nichteinordnen als Fälle geschieht teils absichtlich teils unbeabsichtigt. Der Identifikation eines Falles folgt sodann die Feststellung des Vorhandenseins von Fallverantwortung (vgl. Ewers/ Schaeffer, 2005:7). Üblicherweise wird Fallverantwortung in der Sozialen Arbeit in der Form des Case Management wahrgenommen, wobei nach Neuffer (2007:40-41) zwischen Generalistischem und Therapeutischem Case Management unterschieden werden kann. Im Sinne dieser Differenzierung erfolgt in der Jugendwohlfahrt die hauptsächliche Wahrnehmung von Fallverantwortung im Modell des Generalistischen Case Management, das jedoch nur in jenen Fällen angebracht ist, in denen der/die KlientIn kraft gelingend ausgeprägter Insider-Perspektive an den im Broking2 koordinierten Hilfen überhaupt teilhaben kann. Dabei müsste er/sie imstande sein "ein Gefühl für die Beherrschbarkeit der Situation (zu entwickeln, beziehungsweise die) eigene Bedarfs- und Bedürfnisstrukturen zu identifizieren, (und) wirkungsvolle Versorgungsangebote aus(zu)wählen" (Lamb/ Stempel, 2005:171). Fehlt diese Voraussetzung, wird eine gelingende Teilhabe an Interventionsprozessen, die, wie es im Organisationssystem öffentliche Jugendwohlfahrt der Fall ist, unter einer sozialpädagogischen Leitidee stehen, vor allem deshalb verhindert, weil das Verstehen des Selbst fehlt, das für das lernende Reflektieren sozialer Erfahrung aus sozialpädagogischen Settings vorauszusetzen ist. In diesen Fällen kann daher Therapeutisches Case Management als indiziert betrachten werden (vgl. Neuffer, 2007:40-41), womit allerdings ein - zumindest in der Eigenbetrachtung der traditionellen Sozialarbeit - Umweltmerkmal (das heißt, eine nicht dem System der öffentlichen Jugendwohlfahrt zuzuordnende Möglichkeit) vorliegt und es systemgemäß zur Exklusion kommt. Dadurch ergibt sich ein Widerspruch mit der gesetzlichen Verpflichtung zur Unterstützung von Minderjährigen. In der Folge werden bspw. gemäß dem Paradigma der LEVO Hilfen angeboten, die nicht indiziert - da sozialpädagogisch statt therapeutisch - sind. Die vielfältige strukturelle Koppelungen des Organisationssystems öffentliche Jugendwohlfahrt und anderer Organisationssysteme führt jedoch unter Umständen zur Verdichtung von Exklusionsprozessen beziehungsweise zu einem Exklusionsdrift. Folglich kann es auch zu Exklusionserscheinungen in anderen Organisationssystemen wie etwa dem Bildungssystem, der Kinder-und Jugendpsychiatrie oder dem Justizwesen kommen (vgl. Eugster, 200:67).
5. Resümee
Die Etablierung eines therapeutischen Ansatzes in der Profession der Sozialen Arbeit könnte hier zu einer Lösung beitragen. Er würde sich im Programm der LEVO wieder finden, da der binäre Code des Funktionssystems durch eben solche Programme in seinen Organisationssystemen umgesetzt wird. Ein solcher Ansatz ist bspw. jener der Klinischen Sozialen Arbeit, da dieser neben beratenden auch soziotherapeutische, psychotherapeutische und heilpädagogische Aufgabenstellungen mit einbezieht und als ihre spezifischen klinischen Kompetenzen, die Arbeit mit besonders schwierigen, "hard-to-reach" Patienten sieht. Es geht - " (...) um die Expertise in der psycho-sozialen Beratung, Behandlung und Prävention bei schweren Belastungen, Krisen und psychischen, sozio-und psychosomatischen sowie chronischen Erkrankungen" (Pauls, 2004:12). Als einen der Wirkungsbereiche der Klinischen Sozialarbeit beschreibt Pauls, "die Kinder-und Jugendhilfe mit ihren zunehmenden Aufgaben an Schnittstellen zur Kinder-und Jugendpsychiatrie wie auch zu den Schulen (u.a. intensive Einzelfallhilfe, (...) sozialpädagogische Kinder- und Jugendlichentherapie bzw. Spieltherapie, Schulsozialarbeit)" (Pauls, 2004:15). Im deutschsprachigen Raum und hier vor allem in Österreich hat die Klinische Sozialarbeit eine noch sehr junge Methodengeschichte und ist gerade erst dabei sich zu entwickeln und zu etablieren. Ihre Umsetzung in der Profession ist daher derzeit noch nicht von relevanter Bedeutung. Nichts desto trotz bietet sie innerhalb der Sozialen Arbeit einen Ansatz, der es ermöglicht auch jene Klienten einzubeziehen, die zur Zeit noch aus dem Angebotsbereich der öffentlichen Jugendwohlfahrt exkludiert werden.
Verweise
1Name geändert
1Neutrale Vermittlung zwischen Nutzern und Anbietern sozialer Dienstleistungen.
Literatur / Quellen
Amt der steiermärkischen Landesregierung Fachabteilung 11B - Sozialwesen (Hrsg.) (2005): Steirischer Jugendwohlfahrtsplan 2005. Graz: Eigenverlag.
Eugster, Reto (2000): Die Genese des Klienten. Soziale Arbeit als System. Bern: Haupt.
Ewers, Michael & Schaeffer, Doris (2005): Case Management in Theorie und Praxis (2. Auflage). Bern: Hans Huber Verlag.
Lamb, Gerri S.& Stempel, Joan E. (2005): Pflegerisches Case Management aus Patientensicht. Die Entwicklung zum Insider-Experten. In Ewers, Michael & Schaeffer, Doris (Hrsg.) (2005): Case Management in Theorie und Praxis (2. Auflage). Bern: Hans Huber Verlag. S.161-177.
Neuffer, Manfred (2007): Case Management. Soziale Arbeit mit einzelnen und Familien (3. Auflage). Juventa Verlag. Weinheim.
Pauls, Helmut (2004): Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung. Weinheim: Juventa.
Prieschl Andrea (2008): Herausgefallen. Exklusionsprozesse in der Sozialen Arbeit. Eine Untersuchung am Beispiel öffentliche Jugendwohlfahrt Steiermark. Diplomarbeit an der FH Joanneum Graz.
Über die Autorin
Andrea Prieschl, MA, Jg. 1972
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