soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 3 (2009) / Rubrik "Thema" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/144/211.pdf


Johannes Vorlaufer:

Wie weit reicht unsere Verantwortung?


Sozialethische Reflexionen in Zeiten der Vereinzelung

"Denken heißt nicht mehr Betrachtung, sondern Sicheinmischen, eingebunden sein in das Gedachte, mitgerissen werden - dramatischer Vorgang des In-der-Welt-seins." (Lévinas, 1995: 13)

1. Einleitung
Professionalisierung im Bereich der sozialen Praxis bedeutet nicht nur, aber auch, nach wissenschaftlich fundierten Kriterien zu agieren, Normierungen zu konzipieren, die nicht "subjektiven" Einschätzungen, sondern "objektiven" Erkenntnissen entspringen und eine höhere Sicherheit bei ethischen Dilemmata versprechen. Dieser Prozess kann daher als Suche nach objektiver Gewissheit oder zumindest Orientierung in Zeiten subjektiver Ünübersichtlichkeit verstanden werden. Aber wenn Sozialarbeit aufgrund ihres Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Akzeptanz auch den Zwang zur Professionalisierung verspürt, so bleibt ihr doch ein archaisch anmutender Anspruch erhalten, der sich trotz aller Wissenschaftlichkeit nicht abschütteln lässt: Verantwortlichkeit ihres Denkens und Handelns. Ein Anspruch, der mehr und anderes impliziert als Richtigkeit im Sinne der Gewissheit, regelkonform und auf sicherem Erkenntnisfundament zu handeln: in die verobjektivierten Regelsysteme bricht das Antlitz des Anderen ein, Subjektivität sucht im sozial Arbeitenden antwortende Subjektivität. Lässt sich aber Verantwortlichkeit nicht einfachhin in Professionalität aufheben, so verlangt sie umgekehrt eine Reflexion auf sich selbst, den Versuch, denkend zu begreifen, was Denken und Handeln in Atem hält. Ein solcher Versuch sei hier unternommen. Fragment, das er ist, sucht er die Sprache des Anspruchs zur Sprache zu bringen.

2. Hermeneutische Vorfragen: Zur Voraussetzung des Verstehens der Fraglichkeit des Gefragten aus dem Apriori unseres Mitseins
Da Verantwortung nicht ein objektiv Gegebenes, sondern eine Verobjektivierung eines Subjekts, d.h. ein Selbstentwurf menschlichen In-der-Welt-seins ist, kann die Frage nach ihr nicht direkt gefragt werden, sondern bedarf hermeneutischer Vorfragen, die diesen Selbstentwurf thematisieren, Verantwortung als eine spezifisch menschliche Weise, als etwas, was uns Menschen in unserem Menschsein betrifft, verstehen lassen. In einem ersten Schritt soll das Apriori unseres Mitseins mit Anderen als eine unabdingbare Voraussetzung eines zureichenden Verständnisses von menschlicher Verantwortlichkeit thematisiert werden. Blickt man allerdings auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Verantwortlichkeit, reflektiert man genauerhin die strukturelle Vereinzelung in ihrer Relevanz für den Grundvollzug menschlichen Daseins als eines personalen1, stellt sich die Frage nach Verantwortlichkeit neu und verschärft. Ihr personales Verständnis als ein Sein-dürfen für-einander erweist sich als emanzipatorisches, gesellschaftliche Verhärtungen sprengendes. Dieser Gedanke, in mancherlei Hinsicht fundiert und entfaltet aus dem Denken Heideggers und Lévinas`, wird anschließend durch einen Rekurs auf deren Denkentwürfe vertieft und abschließend in seiner Konsequenz für eine Verantwortungsethik entwickelt.

Die Grundfrage nach menschlicher Verantwortlichkeit reicht tief in den Grund, d.h. die Geschichte kultureller Selbstreflexivität zurück, die alte, genauer ätiologische Frage der jüdischen Bibel "Bin ich der Hüter meines Bruders?" stellt sich in zahlreichen Variationen und im Kontext unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedingungen immer wieder aufs Neue. Sie ist als Grund-Frage eine, in der die Abgründigkeit menschlicher Existenz sichtbar wird. Zugleich aber eine, die deutlich macht, wie sehr sich der Mensch den Grund seiner Existenz selbst entwerfen, sich in seiner Humanität allererst bestimmen muss. Mag die Frage nun aber schon mit der Existenz des Menschen gegeben, sie folglich eine altehrwürdige sein, die Antwort darauf lässt allerdings auf sich warten, zielt sie doch auf ein Selbst-Verständnis des Menschen, das offensichtlich nicht einfachhin selbstverständlich, d.h. in den alltäglichen Denkformen aus sich selbst verständlich ist. Vielmehr bedarf das hier gemeinte Selbst-Verständnis eines explizit reflektierenden Aufweises der konstituierenden Bedingungen von Alltäglichkeit: Selbst-Verstehen ist in sich ein vermittelter Prozess aus und durch die Begegnung mit Anderen, ein Prozess des Sich-überschreitens auf sich selbst, ermöglicht und gewährt gerade durch das vorgängige Je-immer-schon Sich-überschritten-haben Anderer auf uns hin. Weil nicht wir selbst uns selbst, sondern Andere uns ins Da-sein gerufen, beim Namen genannt und so zur Welt gebracht haben, dass sie selbst zum Raum unserer Anwesenheit wurden, ist Selbst-Erfahrung zutiefst und schon vorreflexiv Erfahrung des apriorischen Mit-daseins der Anderen (vgl. Vorlaufer, 2008). Selbst-Verstehen ist in jenen hermeneutischen Zirkel eingelassen, der unser gemeinsames Dasein in einer ihm eigentümlichen Tiefenstruktur umspannt. Dieser in sich dialogische Charakter menschlichen Daseins ist für ein zureichendes Verständnis menschlicher Verantwortlichkeit von entscheidender Relevanz. Wie weit reicht unsere Verantwortung? muss daher aus einem zugrunde liegenden Bezug und nicht aus einem solipsistischen Subjektivitätsverständnis, wie es gegenwärtig epochenbestimmend vorherrscht, gefragt werden. Denn dieses mag das Mitdasein der Anderen zwar als gemeinsames Vorhandensein, nicht aber aus einem Subjektivität allererst konstituierenden Bezug heraus zu begreifen. Aber nur in und aus diesem konstituierenden Bezug selbst kann diese Frage in ihrer Fragwürdigkeit, d.h. in ihrem Erfragten, überhaupt verstanden werden.

3. Personalität in Zeiten der Vereinzelung
Dem hier angedeuteten Verständnis des Mitseins mit Anderen kontrastiert ein gesellschaftlicher Prozess, von dem der Freiburger Philosoph Martin Heidegger schon 1926 in seinem Buch "Sein und Zeit" konstatiert hat, dass in ihm zwar mit jedem Einzelnen als Kosten- und Nutzenfaktor "gerechnet" wird, er innerhalb dieser instrumentellen Logik aber nicht "zählt" - als Person. In Abwandlung von Heideggers Begriff der "Seinsvergessenheit" könnte man hier den Begriff einer "Personvergessenheit" oder "personalen Seinsvergessenheit" einführen, um eine epochal relevante Erfahrung bzw. Nicht-Erfahrung - analog der "entfremdeten Entfremdung" bei Marcuse - zu bezeichnen: Die in diesem Prozess geschichtlich verschüttete Erfahrungsmöglichkeit ist die, dass der Einzelne in seiner Einmaligkeit je als er selbst sein- und zugelassen wird (vgl. Vorlaufer, 1994). Diese Erfahrung ist aber eine, die wir der ursprünglich frei-gebenden Begegnung mit Anderen verdanken: nur weil und in dem Maß als andere uns in unserem Wesen bejahen können wir die sein, die wir sind. Nur in dem Maß wie andere sich auf uns hin überschritten haben, in ihrer Fürsorge uns zur Selbständigkeit freigegeben haben, ist unser Selbst-sein als personale Existenz überhaupt ermöglicht. Spätestens seit Adorno ist allerdings ins Bewusstsein gekommen, dass Begegnung im angedeuteten Sinne zwar als ein ideologisch Verklärtes - und darin repressives - allerorten präsent, als lebensweltlich Erfahrenes und adäquat Gedeutetes aber höchst selten ist.2 Denn was Begegnung zu einer menschlichen Begegnung macht ist eine Zeiterfahrung, wo Gegenwart zum Ort einer neuen Zukunft wird, eine Zeiterfahrung, die im Loslassen der Zeit und dem Zulassen der Gegenwart im Da des Anwesens des je anderen gründet. Diese Zeiterfahrung ist uns aber innerhalb des spätkapitalistischen Tauschzyklus als einem horizontbildenden Kontext menschlicher Begegnung zunehmend nicht gegönnt, impliziert sie doch ein gesellschaftlich nicht konformes "Austakten" aus dem universalen Verwertungsmechanismus. Damit ist angedeutet, dass Personalität, die anthropologische Voraussetzung und das Fundament von Verantwortlichkeit, selbst einem geschichtlichen Prozess unterworfen und nicht als ungeschichtliche vorausgesetzt werden darf.

In Zeiten, wo der Einzelne nicht nur ökonomisch auf seine Vereinzelung zurückgeworfen wird, wird in der Folge auch die ethische Dimension menschlichen Daseins diesem gesellschaftlichen Prozess angepasst. Wenn nun Kants Personbegriff, der in der Möglichkeit der Selbstzweckhaftigkeit gründet, geschichtlich obsolet geworden ist,3 geht mit diesem Verlust dann auch die ursprüngliche Möglichkeit von Verantwortung verloren bzw. wird diese neu verstanden und konzipiert. Thesenhaft könnte gesagt werden: die Vorstellung von Verantwortung ersetzt deren Erfahrung und deren Erfahrbarkeit, insofern als Vor-Stellungen einen Erfahrung ver-stellenden Grundzug haben. Verantwortlichkeit wird dann aus dem erfahrenen Ganzen des menschlichen Grundvollzugs abstrahiert und reduziert auf die Vorstellung von Verantwortung, d.h. eine Normenethik - sie wird zur Pflicht, der man sich unterwerfen muss. Innerhalb einer kasuistischen Fragestellung trachtet dann der Einzelne, seiner Verantwortung, der Last des "Müssens", möglichst zu entkommen. Der Mensch, unter gegenwärtigen Bedingungen reduziert auf seinen Selbsterhaltungstrieb kann sich zwar immer noch mit anderen zusammenschließen, um etwa networkend seine Selbstbehauptungsfähigkeit zu stärken, die Tiefenerfahrung einer Verantwortung, die in einem personalen Mitsein gründet, wird unter den herrschenden Bedingungen aber zu einer Ausnahmeerfahrung.

4. Aller Statistik zum Trotz: Sein-dürfen für-einander als ursprünglich-freigebender Grund von Verantwortlichkeit
Aber eine Ausnahmeerfahrung könnte aller Statistik zum Trotz zur wesentlichen und geschichtlich notwendenden Erfahrung werden. Als in eine These gekleidete Frage sei hier der Gedanke zu denken versucht, dass der Grund der Verantwortung eine Erfahrung des Sein-dürfens für-einander ist, Verantwortung daher ursprünglich ein personales Ereignis, d.h. eine Weise der Begegnung ist, in der wir, einander übereignet, einander Personalität stiften und Humanität gewähren. Primär, so folgt daraus, haben wir also Verantwortung "für" jemanden und erst in abgeleiteter Weise Verantwortung für etwas, genauer: wir "haben" diese Verantwortung nicht so, wie wir Dinge haben, sondern wir sind "in" ihr. Dieses In-sein ist als Bezug zu verstehen und nicht als ein Vorhandensein "in" etwas. Bezug aber meint ein Geschehen, das allererst Bestand oder Identität stiftet, konstituiert.

Suchen wir diese ursprüngliche - aller Reflexion zugrunde liegende - Dimension von Verantwortung aufzuweisen, so bietet sich das im Wort Gesagte als wegweisend für die Reflexion an. Verantwortung ist zunächst ein Sprachereignis: Ant-worten können wir nur einem An- und Zuspruch durch Andere. Wenn das Wort des Anderen mich in seine Gegenwart ruft, wandelt sich Sprache von einem Instrument der Information zu einer Möglichkeit des einander Welt-Eröffnens, des einander Raum-Einräumens. Im Wort, das mich ruft, mich persönlich meint, werde ich in die Gegenwart des Anderen gerufen, sind wir miteinander "da" in der Weise des Füreinander. Dieses Da-sein ist anderes als bloße Vorhandenheit, ist in sich ein zeitlich-geschichtlicher Prozess der Begegnung, des einander-vereignet und -übereignet-Seins. Wo dieses Geschehen zugelassen wird, ist der Einzelne nicht mehr durch Selbstbehauptung und Abgrenzung definiert, auch nicht durch die Gruppenstärke einer als Netzwerk-"wir" auftretenden Ich-Illusion. Dieses Miteinandersein ist in seiner ursprünglichen Weise (vgl. Wucherer-Huldenfeld, 1994: v. a. S. 3-36) weder ein Neben- noch ein Gegeneinander, sondern ein frei-gebendes Für-einander, genauer ein "Durch"-einander. In diesem Durcheinander gewähren wir einander Identität, Selber-sein. So formuliert Fridolin Wiplinger:

"Aus ursprünglicher Erfahrung zeigt sich, daß das Da personalen Da- und Gegenwärtigseins Offen-sein, Offenbarkeit, Offenheit meiner selbst dir selbst gegenüber und umgekehrt ist. Ich erfasse aber zugleich auch, daß dieses Gegenüber- als Offen-sein-für-einander weder von mir noch von dir primär ausgeht, geleistet und zustandegebracht, 'konstituiert' wird, sondern meines ganz und gar von deinem ermöglicht und gewährt wird wie umgekehrt dir deines von meinem. Gleichwohl kann jeder von uns beiden sich auch verschließen. Tut dies auch nur einer, so ist auch der andere davon mitbetroffen, ist ihm ein personales Da-sein für 'das' zum 'Anderen' gewordene 'Du' nicht mehr möglich, oder doch nicht mehr in derselben Reinheit und Eigentlichkeit. Darum wird personale Gegenwart allemal, wann und wo sie in geglückter Weise zustandekommt, als Gnade und Aufgabe für die je eigene Freiheit zumal erfahren - zugleich aber auch als das eigentliche und wahre Selbstsein". (Wiplinger, 1985: 62)

Schon der Begriff des Dia-logs deutet darauf hin, dass Sprache und Wort nur dia-logisch gedacht werden können, dass das "Durch" als Vermittlungsgeschehen ein gewährendes Lassen ist. Je radikaler das Wort, "in" dem wir einander begegnen, in seiner Radix gedeutet wird, desto mehr begreifen wir, dass wir Sprache nicht haben, sehr wohl aber in ihr sind. Hölderlins Gedicht "Seit ein Gespräch wir sind..." meint daher Anderes als die Vorstellung einer Blackbox, einer sprachlichen input-output-Mechanik, je einholen könnte. Entgegen der alltäglichen Deutung zeigt sich hier: Wir haben Ohren, weil wir hören können voneinander - und nicht umgekehrt, wie es die alltägliche Deutung nahe legt. In dem Maß als wir einander im Wort begegnen und nicht bloß Informationen verarbeiten, lässt Sprache einen zugrunde liegenden Bezug offenbar werden, aus dem eine ethisch relevante Verantwortung ihre Bedeutung empfängt. Es ist die radikale Nichtselbstverständlichkeit dessen, dass Andere uns antworten, dass der eröffnete offene Raum der Gegenwart zum Zeit-Raum eines Du wird, gewährend-gewährter Ort der Selbst-Gegenwart. Schellings Grundfrage der Metaphysik: Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts? kann hier, personal gewendet, das Angedeutete verdeutlichen: der Mensch in seiner geworfenen Existenzialität erfährt die Offenheit seines Daseins auch in der Weise, dass er von tiefer Einsamkeit umgeben ist. Die sprachlichen Konstrukte des Alltags verschleiern dies, dass unsere Kommunikation eher ein Mit-dem-Anderen-nichts-zu tun-haben wollen ist als ein Mitsein mit dem Anderen; dass Sprache eher ein Abwehrinstrument ist denn die Weise, wie wir einander die Offenheit unseres Da eröffnen. In die Weite des Nichts gehalten sucht der Mensch, wie Martin Buber in treffender sprachlicher Formulierung sagt, "scheu nach einem Ja des Seindürfens aus":

"In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung, weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf. [...] aus dem Gattungsreich der Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins." (Buber, 1978: 36 f)

Das uns tragende Nichts, den abgründigen Grund unseres Daseins als einen Sein-Gewährenden erfahren zu können, dies ist jenes "Dürfen", das uns nur möglich, gewährt ist "durch" Andere, deren Zuspruch uns im Grunde unseres Da anspricht. Verantwortung für-einander zu übernehmen heißt dann einem Menschen so zu begegnen, dass er den Grund seines Daseins bejahen, er - metaphorisch gesprochen - auf eigenen Beinen stehen kann, Grund unter den Füssen hat und seiner Vergangenheit dadurch eine neue Zukunft eingeräumt wird. In der alten Sprache hieß dies Substantialität. Gleichwie eine solche Begegnung anderes ist als das raum-zeitliche Aufeinandertreffen zweier Vereinzelter, ist eine entsprechende Verantwortung Anderes als in Normierungskonstruktionen - bei aller Berechtigung, die sie im Sozialen haben mögen, sind sie Vorstellungen unseres Miteinanderseins, - je eingeholt werden könnte: Verantwortung kann dann zureichend nur als ein Sein-dürfen für-einander verstanden werden.

5. Ein Schritt zurück: Heideggers (Für-)Sorge
Diese Skizze eines personal-dialogischen Verständnisses von Verantwortung kann mit Heideggers Begriff der "Sorge"4 noch einmal existenzialontologisch reflektiert und so begrifflich eingeholt werden. Die existenziale Struktur menschlichen Daseins besagt, dass es ihm je wesentlich je um es selbst geht, es ist je umwillen seiner. Der aus der Alltagssprache entlehnte Begriff der Sorge fasst dieses ontologische Strukturmoment zusammen, mit "Sorge" wird bei Heidegger nach der Seinsganzheit des alltäglichen Daseins gefragt. Dasein "heißt: Sorge des in ihr ekstatisch erschlossenen Seins des Seienden als solchen, nicht nur des menschlichen Seins" (Heidegger, 1976: 31). Diese "eksistenziale" "Sorge für das Sein" (Heidegger, 1978: 343) ist jenes Hüten der Wahrheit des Seins, das den Menschen zum "Hirten des Seins" werden läßt: "Der Mensch ist der Hirt des Seins. Darauf allein denkt 'Sein und Zeit' hinaus, wenn die ekstatische Existenz als 'die Sorge' erfahren ist" (Heidegger, 1978: 331). Weil das Dasein als Dasein, also in der Erschlossenheit seiner Existenz Mitsein ist, begegnen die Anderen nicht umweltlich als bloß Besorgte, sondern in einer Mitwelt, in der Begegnisweise der Fürsorge - und sei es auch nur die der besorgenden Fürsorge. In der positiven, das heißt der ausdrücklich ergriffen Für-Sorge liegt für Heidegger das mögliche (freie) Selbst-sein - im Sinne des Freiseins für die eigene Sorge - im und durch das Sein füreinander. Fürsorge betrifft zwar grundsätzlich das faktische Miteinandersein, also das Sein mit "den Anderen" in einer alltäglichen Anonymität, hat aber ihren eigentlichen Sinn erst in einer personalen Begegnung, die den Anderen in seinem je eigenen Selbst-sein meint. Während die einspringende Fürsorge durchaus dem "Man-selbst" korrespondiert, in dem der Andere, als Abhängiger und Beherrschter in seinem Sein unterdrückt wird, er in dieser Fürsorge nicht zu seinem eigentlichen Selbstsein freigegeben wird, wird mit der vorausspringenden Fürsorge das zentrale Problem von "Eigentlichkeit" und "Selbstheit" thematisiert. Der Sinn dieser Fürsorge kann deshalb nur aus der Eigentlichkeit bestimmt werden, nicht aus defizienten Weisen des Daseins. Insofern die vorausspringende Fürsorge kein Was betrifft, sondern den Anderen selbst meint, sie ihm dazu verhilft, "in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden" (Heidegger, 1979: 163), läßt sie ihn in dieser "Durchsichtigkeit" sich selbst verstehen und frei sein für sein Selbstsein. Das Sich-verstehen in seinem Sein, das als Seinsverständnis hinsichtlich seiner Möglichkeit das Thema von "Sein und Zeit" ist, findet sich somit in dieser Fürsorge in einer eigentümlich existenziellen Konzentration wieder.

In der Freiheit dieser Fürsorge kündigt sich ein Sein-Lassen an, das mit dem Lassen der umweltlichen Bewandtnis nicht mehr eingeholt werden kann, sondern erst aus der Interpretation von Zeit und dem entsprechenden Verständnis des Zeit-Lassens als der spezifischen Weise des Seinlassens des Selbst auf den Begriff gebracht werden kann.

6. Ein Schritt vor und wieder zurück: Lévinas' Antlitz
Trotz aller Nähe zu Heidegger grenzt Emmanuel Lévinas seinen eigenen Entwurf radikal von begrifflichem Denken im Allgemeinen und der phänomenologischer Ontologie im besonderen5 ab:

"Die Beziehung zum Nächsten ist [...] nicht Ontologie. Die Verbindung mit dem Nächsten, die sich nicht auf die Repräsentation des Nächsten, aber auf seine Anrufung reduzieren läßt, und in der der Anrufung kein Verstehen vorausgeht, nennen wir Religion. Das Wesen des Diskurses ist Gebet. Was den Gedanken, der auf ein Objekt gerichtet ist, von der Verbindung zu einer Person unterscheidet, ist, daß sich in dieser ein Vokativ ausspricht: was hier benannt wird, wird gleichzeitig gerufen." (Lévinas, 1995: 19)

Lassen wir die Lévinas' eigentümliche spezifische Kategorie von Religion und Gebet beiseite, so bleibt eine Theorie, die den Vorrang der Praxis behauptet und versucht, diesen Vorrang positiv zu bestimmen: Als einen, der menschliches Dasein radikaler zu fassen imstande ist als begrifflich-vergegenständlichendes Denken bzw. Philosophie, insofern diese als Ontologie analog zu einzelwissenschaftlichem Denken einen Abstraktionsprozess impliziert: "... der Nächste: Ünser Verhältnis zu ihm besteht sicher darin, ihn verstehen zu wollen, aber dieses Verhältnis geht über das Verstehen hinaus" (Lévinas, 1995: 16). Lévinas' Abwehr verobjektivierenden Denkens reicht über diesen Wissenschaft konstituierenden Prozess weit hinaus und berührt die Frage der Möglichkeit ursprünglich-menschlicher Begegnung im alltäglichen Kontext:

"Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie sich dem Anderen wie einem Objekt zu. Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden, aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt." (Lévinas, 2008: 64)

Anders als etwa Heidegger oder Adorno, die beide begrifflich-objektivierendes Denken in ihren Möglichkeiten und Grenzen zu begreifen suchen und - wenngleich in unterschiedlicher bis konträrer Weise - die Notwendigkeit sehen, den Begriff gegen sich selbst zu wenden, gewissermaßen gegen sich selbst zu denken6, sieht Lévinas das Problem des Begriffslosen eigentümlich geschichtslos-apodiktisch: "Diese Ünmöglichkeit jedoch, als Philosoph das Von-Angesicht-zu-Angesicht [...] zu denken, ist nicht auf irgendeinen Irrweg des logischen Denkens zurückzuführen, sie entspringt dem unabänderlichen Formalismus der Logik selbst" (Lévinas, 1995: 5). Dieses undialektische Begreifen wäre ebenso einer kritischen Frage zu unterziehen wie Lévinas' Behauptung, Heidegger identifiziere seinen Begriff des Miteinanderseins ausschließlich mit einem bloßen Nebeneinandersein: "Die ethische Beziehung, das Miteinandersein, ist bei Heidegger nur ein Moment unserer Präsenz in der Welt. Sie hat keine zentrale Bedeutung. Mit, das heißt immer (sic!) sein neben ..., das ist nicht in erster Linie das Antlitz, das ist zusammensein, vielleicht zusammenmarschieren" (Lévinas, 1995: 148). Zwar kann man Lévinas zugestehen, dass die Einordnung Heideggers in ein personales Denken eine unangemessene Gewaltsamkeit bzw. gewaltsame (Üm)interpretation seiner phänomenologischen Ontologie wäre, gleichwohl aber fundiert schon "Sein und Zeit" ein Verständnis des personal-dialogischen Seins aus dem Verständnis eines ursprünglichen Mitseins und reduziert dieses nicht auf ein Nebeneinander-vorhandensein (vgl. Vorlaufer, 1986).

Abgesehen von einem solchen Verständnis bzw. Missverständnis wird bei Lévinas die reflektierende Verbindung vom Blick des Anderen bzw. seinem Antlitz mit seiner Verantwortungsethik wesentlich.7 Seiner Reflexion ist Sprachlichkeit ein zentrales und unvermitteltes Moment von Begegnung i.S. einer Welterschließung: "Die Erscheinung des Antlitzes ist die erste Rede. Sprechen ist vor allem anderen diese Weise, hinter seiner Erscheinung, hinter seiner Form hervorzukommen, eine Eröffnung in der Eröffnung" (Lévinas, 2007: 221). Zugleich aber auch die unmittelbare, durch keine Vorstellungen, Normen etc. vermittelte Genese von Verantwortlichkeit: "Das Ich ist unaussprechlich, eben weil es par excellence Sprechendes ist; antwortend, verantwortlich" (Lévinas, 1995: 40). Diese antwortend-verantwortliche Dimension wird unmittelbar ethisch als "Gebot" interpretiert: "Im Antlitz des Anderen kommt zu uns ein Gebot, das den Lauf der Welt unterbricht" (Lévinas, 1995: 140). Schon in diesem Ansatz seines Verantwortungsdenkens spielt die Zeitdimension eine zentrale Rolle: das Antlitz des Anderen unterbricht unseren Alltag, und dies Ünterbrechen verändert unsere alltägliche Zeitstruktur, ja Zeit selbst. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bekommen nicht nur eine neue Bedeutung, sondern verwandeln sich in dem, was Zeit für-uns überhaupt ist. Zeit selbst, das "Zeitigen der Zeit", wie man formulieren könnte, wird augen-blicklich, "von Anfang an", von Antwort und Verantwortung zum Anderen einer bloß chronologisch-vorgestellten Zeit, wie sich in Lévinas' weiterer Analyse der Begegnung andeutet:

"Die Begegnung mit dem Anderen ist von Anfang an Verantwortung für ihn. Die Verantwortung für den Nächsten ist zweifellos ein ernsterer Ausdruck für das, was man Nächstenliebe nennt, Liebe ohne Eros, caritas, Liebe, in der das ethische Moment das leidenschaftliche dominiert, Liebe ohne Begehrlichkeit." (Lévinas, 1995: 32)

In diesem "von Anfang an" manifestiert sich für Lévinas eine apriorische, jeder Erkenntnis der Andersheit des Anderen vorgängige Struktur. Im Verständnis Lévinas' ist Verantwortung daher auch kein Postulat - dies wäre eine bloß posteriorische Verantwortlichkeit -, sondern eine gleichursprünglich mit der Begegnung als Anspruch ungegenständlich und unvermittelt mitgegebene: "Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewusst, so als handele es sich um eine Schuldigkeit oder eine Verpflichtung, über die es zu entscheiden hätte. In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit" (Lévinas, 2007: 224). Verantwortung ist daher bei Lévinas primär kein Reflexionsbegriff, sondern eine Seinsmodalität, eine Art und Weise, wie wir unser Dasein vollziehen, d.h. "sind". Die Ümschreibung als "Liebe ohne Begehrlichkeit" mag für unsere Interpretation ein Hinweis darauf sein, dass Lévinas auf unterschiedlichen sprachlichen Wegen immer wieder Verantwortung in die Tiefendimension des Ünmittelbaren, Vorreflexiven und letztlich Apriorischen - letztlich doch begrifflich - zu begreifen sucht. Ünd diese "Tiefe" ist nicht gleichzusetzen mit der abgründigen Tiefe eigener Innerlichkeit, sondern diese selbst wird im und durch den Blick des Anderen ja gerade ebenso aufgehoben in eine Ünendlichkeit von Vergangenheit und Zukunft wie eine isolierte "Ich-Du"-Begegnung:

"In meiner Verantwortung für den Anderen 'blickt' mich die Vergangenheit des Anderen, die nie meine Gegenwart gewesen ist, 'an', sie ist für mich keine 'Re-Präsentation'. Die Vergangenheit des Anderen und in gewisser Weise auch die Geschichte der Menschheit, an der ich nie teilgenommen habe, bei der ich nie gegenwärtig war, sind meine Vergangenheit." (Lévinas, 1995: 146 f)

Gerade diese unendliche Weite menschlicher Verantwortlichkeit ist es aber auch, aus der die bei Lévinas so hartnäckig abgewehrte Philosophie und Gegenstandsreflexion dann doch wieder ihre Berechtigung erlangt: "Erst wenn ich nicht mehr allein auf das Antlitz des anderen Menschen zu antworten habe, wenn ich neben ihm einen Dritten einbeziehe, entsteht die Notwendigkeit der theoretischen Haltung" (Lévinas, 1995: 32.; vgl. Habbel, 1994 und Delhom, 2000). Doch kaum erlangt dieses Denken eine minimale Rechtfertigung, wird es auch schon wieder von einem "Besseren" eingeholt:

"... die wahre 'Phänomenologie'. Gedanke, der mehr denkt, als er enthalten kann, oder Gedanke, der denkend Besseres tut als zu denken, weil er sich sogleich als Verantwortung für den Anderen erkennt, dessen Sterblichkeit - und folglich dessen Leben - mich ansieht und mich angeht (me regarde). Gedanke, zum kategorischen Imperativ gezwungen, [...] gezwungen zum Tragen unendlicher Verantwortung, der aber so meine persönliche Einzigkeit, mein Erstgeburtsrecht, meine Erwählung verankert." (Lévinas, 1995: 191 f)

Aber je mehr man sich auf diese "wahre Phänomenologie" einlässt, desto mehr erweist sich das Seiende in seinem Vorrang vor dem Sein:

"Ünsere Verantwortung geht [...] über das Beabsichtigte hinaus. Ünmöglich für den die Tat verfolgenden Blick, die unbeabsichtigte Handlung zu vermeiden. Wir sind mit einem Finger im Räderwerk, die Dinge kehren sich gegen uns. Das bedeutet: Ünser Bewußtsein, die Realitätsbeherrschung durch das Bewußtsein, erschöpfen nicht unsere Beziehung zur Realität, wir sind ihr Teil mit dem ganzen Ümfang unseres Seins." (Lévinas, 1995: 14)

Wenn nun Lévinas dem Außerbegrifflichen einen Vorrang einräumt, bricht hier erneut Zeitlichkeit durch in der Form von Zukünftigkeit, welche Vergangenheit aufhebt:

"Nicht-Interessiertheit einer Verantwortung für den Anderen und für dessen Vergangenheit - Vergangenheit, die für mich unvordenklich ist - durch das Futur der Prophetie [...] das ist die Zeitlichkeit, in der sich in der Ethik das Rätsel des Seins und der Ontologie löst." (Lévinas, 1995: 191 f)

Gerade Letzteres aber steht zur Diskussion. Ist die Ontologie in Ethik aufgehoben, so kann nur ein radikal nicht-dialektisches Denken meinen, ihr Rätsel sei damit gelöst und ihre Wiederkehr ausgeschlossen. Denn dem Ün-vor-Denklichen einen ethischen Status zuzuerkennen, mag dem Anruf des Anderen adäquat sein. Doch diese zu begreifen, die hier genannte Zeitlichkeit als Problemlösung zu sehen, harrt gerade einer begrifflichen Bestimmung, die in der Lage ist, das Nicht des Nicht-Begrifflichen und das Begreifen in seinem Nicht-Begreifen begrifflich zu fassen. Darin regt sich das althergebrachte negative Denken.

7. Nochmalige Reflexion: Grenzen dieser Verantwortung und deren Folgen
Wie weit reicht nun unsere Verantwortung? Wo sind ihre Grenzen? Fasst man Verantwortung im skizzierten personal-dialogischen Sinn, muss "Grenze" anderes meinen als nur ein sicherstellendes Sich ab- und eingrenzen: die aus der Ent-Grenzung erfahrene personale Identität lässt Grenzen sich in ihrem frei-gebenden Wesen zeigen. Grenzen werden hier nicht einfachhin aufgehoben i.S. von beseitigt, sondern in ihrem umgrenzenden Wesen erfahren: Grenzen, die umgrenzen, grenzen nicht aus, sondern stiften Identität, gewähren Zeit-Spiel-Räume des Selbst-seins. Verantwortung wäre dann erst durch dieses Ümgrenztsein überhaupt möglich. Dieses Ümgrenztsein bietet die Gewähr, dass Verantwortung nicht zu einer unbegrenzten Last wird.

Verantwortungsethik wird seit Max Weber üblicherweise einer Gesinnungsethik gegenübergestellt. Doch diese Entgegenstellung greift vielleicht zu kurz, denn sie setzt voraus und verfestigt ein unzureichendes Vorverständnis von Subjektivität. Sowohl Heideggers Seinsdenken einer Selbstsorge als Sorge ums Ganze als auch Lévinas' personale Ethik einer Ünendlichkeit der Verantwortung haben gemeinsam, dass erst eine Verantwortung, die als vorgestellte Norm losgelassen ist, den Grund freilegt, aus dem eine Verantwortungsethik entspringen kann.

Die Konsequenzen dieses Ansatzes könnten so skizziert werden: Ist die Ideologie, derzufolge "ein jeder sich selbst der nächste ist", eine vorherrschende Verstümmelung menschlicher Selbstinterpretation und -erfahrung, die einerseits einer verkürzten Reflexion von Identität entspringt, anderseits dem gesellschaftlichen Stand der Entwicklung korrespondiert, so gerät eine dialogisch verstandene Verantwortung zu einer emanzipatorischen. Verantwortung als emanzipatorische Praxis ist (wäre) aber nur in einer Gesellschaft möglich, deren Grundstruktur ein personales Sein überhaupt zulässt, d.h. eine solche, in der die Erfahrung bedingungsloser, nicht-instrumententeller Begegnung von Menschen Mitsein konstituiert, konkret: eine Gesellschaft, deren Struktur sichert, dass der einzelne nicht einfachhin im Allgemeinen aufgeht - nicht aber in einer Gesellschaft von Raubtieren, wie sie in Nietzsches Verherrlichung der Bestie Mensch prophetisch angekündigt wird. Ein verantwortliches Sollen gewinnt aus dieser Erfahrung des Dürfens allerdings wieder einen neuen Sinn: ein solches Sollen entspringt einer Selbst-Erfahrung und ist in diesem Sinn ein autonomes Wollen: nicht ein Wollen wird gesollt, sondern ein Sollen gewollt. Nicht Heteronomie, sondern Autonomie ist daher das Prinzip einer dialogischen Verantwortungsethik, die im Hören-lernen auf den Zuspruch bzw. das Offen-sein für das Antlitz des Anderen gründet. In Hölderlins schon genannter Friedensfeier wird daher nicht nur davon gesagt, dass wir ein Gespräch sind, sondern dass wir in der Möglichkeit stehen, voneinander hören zu können:

"Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
erfahren der Mensch." (Hölderlin, 1979: 140)

Diese Möglichkeit, in der wir qua Mensch stehen, ist es, die Verantwortung in ihrer grenzenlosen Weite und Abgründigkeit begründet, ohne uns zu erdrücken. Ünd diese ist es auch, die Adornos Beobachtung des epochal verstümmelten Menschen vielleicht einst obsolet werden lassen könnte, falls ein so utopisch-hoffnungsfroher Gedanke unter den gegenwärtigen Verhältnissen überhaupt rechtens gedacht werden darf, ohne gleich ins Ideologische abzugleiten:

"Die Regression der Massen heute ist die Ünfähigkeit, mit eigenen Ohren Üngehörtes hören, Ünergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst." (Adorno, 1981: 53 f)


Verweise
1 Zum Begriff der Person vgl. u.a. die umfangreiche Dissertation von Leder, 1999.
2 Vgl. Adorno, 1977: 464 f: "'Begegnung' wird dem buchstäblichen Sachgehalt entfremdet und durch dessen Idealisierung praktisch verwertbar. In einer Gesellschaft, in der virtuell der Zufall selbst dessen, daß Menschen einander kennenlernen: was man einmal einfach Leben nannte, immer mehr zusammenschmilzt und, wo es sich erhält, als Toleriertes bereits eingeplant ist, gibt es Begegnungen [...] kaum mehr, sondern allenfalls Verabredungen vom Typus des Telefonats. Gerade deshalb aber wird Begegnung angepriesen, organisierte Kontakte von der Sprache mit Leuchtfarbe beschmiert, weil das Licht erlosch."
3 Vgl. Kant, 1958: 61: "Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen (sic!) seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden."
4 Zum Verständnis einer in der Fundamentalontologie grundgelegten Ethik vgl. v.a. Wucherer-Huldenfeld, 2003.
5 Vgl. z.B. Lévinas, 2007: 211: "Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie. Aus diesem Grunde ist sie wesentlich Philosophie des Seins, ist Seinsverständnis ihr letztes Wort und die fundamentale Struktur des Menschen."
6 Vgl. dazu z.B. Vorlaufer, 1994b und ders., 1999b.
7 Während Lévinas den Blick fast synonym mit dem Antlitz verwendet und ihm eine positive Bedeutung gibt, wäre wohl auch Adornos kritische Bemerkung zu reflektieren, der gegen den reflexionslosen Blick Vorbehalte einwendet: "Der sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der freie die Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur einseitigen Treue, indem er sie in die fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person weist. Er weckt nicht das Gewissen, sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert" (Adorno, 1981: 216 f). Ünter den Versuchen, Lévinas' Verantwortungsbegriff für die Sozialarbeit zu zugänglich zu machen vgl. v.a. Mührel, 2008 und ders., 1999.


Literatur / Quellen
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Über den Autor

Prof. (FH) Mag. Dr. Johannes Vorlaufer, Jg. 1959
johannes.vorlaufer@fh-campuswien.ac.at

Studium der Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft und Theologie in Wien und München, Promotion 1986 (publiziert als: Das Sein-lassen als Grundvollzug des Daseins. Eine Annäherung an Heideggers Begriff der Gelassenheit. Passagen-Verlag, Wien 1994). Derzeit Lehrender an der FH Campus Wien, zuvor Ünterrichtstätigkeit am Institut für Philosophie der Üniversität Wien, in Einrichtungen der Erwachsenenbildung und an AHS.