soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 3 (2009) / Rubrik "Thema" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/148/209.pdf
Marlene Schagerl:
1. Einleitung - Soziale Arbeit und Gerechtigkeit
Laut Österreichischem Berufsverband der SozialarbeiterInnen (OBDS) beruht Sozialarbeit "auf der Achtung der Würde des Menschen und strebt soziale Gerechtigkeit an" (OBDS, 2004: 2). In der internationalen Definition von Sozialer Arbeit (IFSW) werden Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit als grundlegend für die Profession erachtet, da diese als "Motivation für sozialarbeiterisches Handeln"1 dienen. Das heißt, (soziale) Gerechtigkeit stellt ein zentrales Thema der Sozialen Arbeit dar. Auf den engen Konnex zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit wird in den Definitionen von Sozialer Arbeit mehrmals hingewiesen. Bei einer näheren Beschäftigung mit dem Begriff der Gerechtigkeit wird jedoch schnell klar, dass dieser in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird und ihm je nach Kontext jeweils verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden (vgl. Koller, 2001b: 19). Peter Koller bezeichnet die Idee der Gerechtigkeit deshalb als "gedankliches Konstrukt" (Koller, 2001a: 12), das auf unterschiedliche Weise begriffen und verstanden werden kann. Das jeweilige Verständnis von Gerechtigkeit ist daher immer erst zu klären. Folglich muss auch in der Sozialen Arbeit eine Konkretisierung vorgenommen werden, wenn soziale Gerechtigkeit als eines der Leitmotive der Profession gelten soll.
Im Rahmen meiner Diplomarbeit zum Thema 'Gerechtigkeit als Motivation für sozialarbeiterisches Handeln. Gerechtigkeitsvorstellungen von SozialarbeiterInnen in Organisationen sozialer Sicherung' erfolgte als Grundlage für die qualitative Forschung eine theoretische Beschäftigung mit Aspekten von 'Gerechtigkeit', die für die Soziale Arbeit relevant erschienen. Insbesondere wurden dabei unterschiedliche Möglichkeiten der Annäherung an den Gerechtigkeitsbegriff skizziert. Unter anderem wurden unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien beleuchtet, da davon ausgegangen werden kann, dass diese das Verständnis bzw. die Auffassung von Gerechtigkeit wesentlich prägen (vgl. Badelt/Österle, 2001: 40 f., vgl. Koller, 2001b: 37 ff.). Im vorliegenden Artikel sollen nun jene zwei Gerechtigkeitsprinzipien näher betrachtet werden, die in sozialpolitischen Debatten zum Thema Gerechtigkeit eine besonders große Rolle spielen, nämlich das Bedürfnis- bzw. Bedarfsprinzip einerseits und das Leistungs- bzw. Beitragsprinzip andererseits. Insbesondere wird dabei der Frage nachgegangen, inwieweit die Gerechtigkeitsvorstellungen von in der Praxis tätigen SozialarbeiterInnen von diesen beiden Prinzipien beeinflusst bzw. geprägt sind, also welche Bedeutung diese Prinzipien in der Sozialen Arbeit haben. Dazu werden die Ergebnisse der für die Diplomarbeit durchgeführten ExpertInneninterviews herangezogen, die in zwei Wiener Einrichtungen des Feldes der materiellen Sicherung, nämlich einem Sozialzentrum und der Einrichtung 'P7 - Wiener Service für Wohnungslose' mit SozialarbeiterInnen stattfanden.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen von SozialarbeiterInnen deren berufliches Handeln wesentlich prägen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass SozialarbeiterInnen ihre Gerechtigkeitsnormen in der Praxis nicht immer vollständig umsetzen können, da diese im Widerspruch zu konkreten Aufträgen, Rahmenbedingungen und Vorgaben, die sie für ihre Arbeit erhalten, stehen können. So sind sie an die staatlichen Aufträge gebunden, die in Form von institutionellen Vorgaben bzw. Rahmenbedingungen, in Form von Rechtsvorschriften sowie in Form von politischen Aufträgen an sie herangetragen werden (vgl. Braitenthaller, 2007: 35). SozialarbeiterInnen haben die Verantwortung, diesen staatlichen Auftrag in ihrer Arbeit umzusetzen. Darüber hinaus besteht eine Verantwortung ihren KlientInnen gegenüber, die sich an sie wenden und Unterstützung erwarten. Mitunter ergeben sich Spannungsfelder zwischen den Aufträgen bzw. Interessen der KlientInnen einerseits und des Staates andererseits, was meist unter dem Schlagwort 'doppeltes Mandat der Sozialen Arbeit' zusammengefasst wird (vgl. beispielsweise Lüssi, 2001: 125 f.). Im vorliegenden Artikel soll neben den unterschiedlichen Mandaten, die die Soziale Arbeit durch Gesellschaft bzw. Staat sowie durch ihre KlientInnen erhält, die Position der SozialarbeiterInnen selbst in den Mittelpunkt gerückt werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Soziale Arbeit als Profession auch für sich selbst Aufträge definieren und sich auf der Grundlage ihres eigenen professionellen Verständnisses und ihres Wissens in Zusammenhang mit sozialen Problemen und deren Lösungen selbst mit einem Mandat ausstatten kann (vgl. Staub-Bernasconi, 2003: 20 f.). In diesem Sinne haben SozialarbeiterInnen neben der Verantwortung dem Staat und ihren KlientInnen gegenüber die Verantwortung, aus ihrem eigenen, selbstbestimmten professionellen Auftrag heraus zu handeln.
2. Der sozialpolitische Konflikt zwischen Leistungs- und Bedarfsprinzip
Bei der nun folgenden Ausführung des Bedürfnis- bzw. Bedarfsprinzips einerseits und des Leistungs- bzw. Beitragsprinzips andererseits muss vorweggenommen werden, dass es sich dabei um unterschiedliche Prinzipien oder Kriterien der Verteilung handelt. In diesem Sinne wird die Verteilungsgerechtigkeit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit sozusagen gleichgesetzt. Dies kann mit der weit verbreiteten Auffassung begründet werden, dass die Verteilungsgerechtigkeit das wichtigste Element der sozialen Gerechtigkeit darstellt (vgl. Koller, 1995: 57). So steht meist die Frage der gerechten Verteilung im Mittelpunkt, wenn es in Alltagsdiskussionen oder sozialpolitischen Debatten um das Thema der sozialen Gerechtigkeit geht.
Dem Leistungsprinzip nach erfolgt die Verteilung von Gütern bzw. Ressourcen verhältnismäßig zur Leistung bzw. zum Beitrag einer Person. Das heißt, eine gleiche Verteilung von Gütern wird als gerecht angesehen, wenn die VerteilungsadressatInnen gleiche Leistungen erbringen. Anders ausgedrückt, sind Unterschiede oder Ungleichheiten als zulässig und gerecht zu werten, wenn sie aus unterschiedlichen bzw. ungleichen Leistungen resultieren. In diesem Sinne kann nur von einer 'relativen Gleichbehandlung' gesprochen werden (vgl. Döring, 1998: 217). Der Begriff der Leistung bedarf noch einer näheren Bestimmung. Denn was als Leistung angesehen wird und wie die Messung oder Beurteilung einer Leistung erfolgt, ist nicht von vornherein klar (vgl. Döring, 1998: 218). So stellt sich die Frage, ob die 'subjektive Mühe' bzw. die Anstrengung von Menschen oder nur das Ergebnis ihres Handelns, also die tatsächlich erbrachte Leistung, berücksichtigt werden (vgl. Eisenmann, 2006: 212). Aufgrund der Schwierigkeiten bzw. Probleme, die Leistung oder den Beitrag eines Menschen eindeutig zu bestimmen, setzte sich nach Diether Döring ein sehr wirtschaftsorientierter Leistungsbegriff durch. Das heißt, der Begriff der Leistung wird vor allem auf den Bereich der Erwerbsarbeit bezogen und im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Leistungen am Arbeitsmarkt für eine/n ArbeitgeberIn (vgl. Döring, 1998: 218). Familien- oder Hausarbeit zählen somit nicht als Leistungen im wirtschaftlichen Sinne. Auch die subjektive Mühe wird dieser Leistungsauffassung nach nicht berücksichtigt.
Im Gegensatz dazu erfolgt dem Bedürfnis- bzw. Bedarfsprinzip nach eine Verteilung von Gütern bzw. Ressourcen nach den Bedürfnissen bzw. dem Bedarf der Menschen. Die nähere Bestimmung des Bedürfnisbegriffes scheint jedoch fast noch schwieriger als die Bestimmung des Leistungsbegriffes zu sein. Die Frage, was als Bedürfnis angesehen wird, wie ein Bedürfnis festgestellt und wie dieses gemessen wird, beherrscht die Diskussion um das Bedürfnisprinzip. In diesem Zusammenhang muss auch bedacht werden, dass nicht jeder Mensch in der Lage ist, seine Bedürfnisse anderen mitzuteilen und es weiters Bedürfnisse gibt, die gesellschaftlich nicht anerkannt bzw. akzeptiert sind (vgl. Badelt/Österle, 2001: 46). Die Schwierigkeiten, die mit der Bestimmung von Bedürfnissen verbunden sind, werden oft dadurch gelöst, dass von politischer Seite ein bestimmter Bedarf festgelegt wird. Meist wird dabei von einem durchschnittlichen Bedarf oder Mindestbedarf ausgegangen, der allen Menschen zur Verfügung stehen sollte (vgl. Döring, 1998: 219). Der Vorgang der Festlegung bzw. Standardisierung von Bedarfen scheint aber mit erheblichen Problemen bzw. Unstimmigkeiten verbunden zu sein, da nicht eindeutig bestimmt werden kann, welche Bedarfe berechtigt und auch 'notwendig' sind (vgl. Nullmeier/Vobruba, 1995: 34 f.). Es kann davon ausgegangen werden, dass in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden. Beim Vorgang der Festlegung der Bedarfe dürften die jeweiligen Machtkonstellationen und Hierarchien eine wesentliche Rolle spielen.
Aus der kurzen Skizzierung des Leistungs- bzw. Beitragsprinzips einerseits und des Bedürfnis- bzw. Bedarfsprinzips andererseits zeigt sich, dass diese nicht ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Wie bereits angedeutet, spielen die beiden Prinzipien jedoch in der Sozialpolitik eine wichtige Rolle. Deshalb überrascht es nicht, dass ein wesentlicher Diskussionspunkt "das angemessene Verhältnis zwischen 'Leistungsgerechtigkeit' und 'Bedarfsgerechtigkeit'" (Nullmeier/Vobruba, 1995: 13) betrifft. Vom Leistungsprinzip ist die Sozialpolitik insofern geprägt, als jede Sozialleistung an eine bereits erbrachte Leistung (zum Beispiel eine frühere Erwerbstätigkeit) oder an die grundsätzliche Bereitschaft, eine Leistung zu erbringen, geknüpft ist (Voraussetzung der Arbeitsbereitschaft bzw. -willigkeit für den Bezug von Sozialhilfe). Unter 'Leistung' wird, wie bereits problematisiert, hauptsächlich eine Erwerbsarbeit verstanden, weshalb von einer 'Lohnarbeitszentrierung' des Sozialstaates gesprochen werden kann (vgl. Nullmeier/Vobruba, 1995: 12). Das heißt, nicht nur der Arbeitsmarkt selbst, sondern auch das soziale Sicherungssystem ist von einem starken Leistungsdenken geprägt. So verstanden, stehen Sozialleistungen nur jenen Menschen zu, die keine marktbezogenen Leistungen (mehr) erbringen können (zum Beispiel aufgrund von Krankheit oder Behinderung) und nur dann, wenn die "Gründe für einen Belohnungsverlust [als Belohnung gilt das Markteinkommen, Anm. d. Verf.] gerade nicht im Verhalten der Person verankert sind" (Liebig/Schupp, 2007: 13). Die Feststellung der 'Leistungsunfähigkeit' dürfte jedoch aufgrund von fehlenden, eindeutig definierten Kriterien mit erheblichen Problemen verbunden sein (vgl. Badelt/Österle, 2001: 45). Bei einer Vielzahl von Sozialleistungen erfolgt eine Orientierung an von der Politik festgelegten Bedarfen. Ein Beispiel stellen die Richtsätze der Sozialhilfe dar, über die eine Sicherung des Lebensunterhaltes erreicht werden soll. Allerdings bleibt bei einer Orientierung am Bedarfsprinzip die grundsätzliche Lohnarbeitszentrierung ebenfalls bestehen. So ist für den Bezug von Sozialhilfe die Arbeitsbereitschaft nachzuweisen (vgl. Nullmeier/Vobruba, 1995: 15) Überdies stellt sich die Frage, wer die Festsetzung von bestimmten Bedarfen vornimmt. In Bezug auf sozialpolitische Leistungen liegt die "Definitionsmacht über das, was Bedarf sein soll" (Nullmeier/Vobruba, 1995: 22) eindeutig bei der Politik.
3. Leistungsprinzip versus Bedürfnisprinzip im Gerechtigkeitsverständnis von SozialarbeiterInnen in Organisationen materieller Sicherung
Durch ExpertInneninterviews wurde versucht, die Gerechtigkeitsvorstellungen von in der Praxis tätigen SozialarbeiterInnen zu erforschen. Es wurden jeweils zwei Interviews mit diplomierten SozialarbeiterInnen von 'P7 - Wiener Service für Wohnungslose' und einem Wiener Sozialzentrum durchgeführt. Die Gemeinsamkeit der beiden Einrichtungen liegt darin, dass sie eine Art Schlüsselposition haben. Wer finanzielle Hilfe benötigt (und mit keinen minderjährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt lebt), muss sich an das zuständige Sozialzentrum wenden. In Wien gibt es insgesamt zehn Sozialzentren, die eine untergeordnete Stelle des Fachbereiches 'Sozialarbeit und Sozialhilfe' der Magistratsabteilung 40 - 'Soziales, Sozial- und Gesundheitsrecht' - der Stadt Wien darstellen.2 Die Sozialzentren dienen als Anlaufstelle für soziale und finanzielle Probleme. Von den SozialarbeiterInnen wird einerseits sozialarbeiterische Beratung und Betreuung angeboten, andererseits der Anspruch auf finanzielle Hilfen (Sozialhilfe) abgeklärt.3 Die Grundlage der Arbeit bildet das Wiener Sozialhilfegesetz. Dieses wird von institutioneller Seite, also der Stadt Wien, in den so genannten 'Internen Richtlinien' konkretisiert. Die Internen Richtlinien regeln, wie das Sozialhilfegesetz zu interpretieren und vollziehen ist, stellen eine 'Handlungsanleitung' dar und sollen zu einem einheitlichen Sozialhilfevollzug beitragen (vgl. MA 15, 2007: 8).
Bei Wohnungslosigkeit fungiert 'P7 - Wiener Service für Wohnungslose', eine Einrichtung der Caritas der Erzdiözese Wien, als zentrale Anlaufstelle für alle Erwachsenen ohne minderjährige Kinder. Durch professionelle sozialarbeiterische Beratung und Betreuung wird Unterstützung für Menschen in 'akuten sozialen Notsituationen' angeboten.4 Eine Hauptaufgabe von P7 besteht darin, obdachlosen Menschen Plätze in den Nachtquartieren der Wiener Wohnungslosenhilfe zu vermitteln.5 Die rechtliche Grundlage der Arbeit bei P7 stellt ebenfalls das Wiener Sozialhilfegesetz dar. Neben diesen rechtlichen Vorgaben ist P7 an die Richtlinien und Aufträge des Fördergebers, nämlich des Fonds Soziales Wien, gebunden. Dieser legt beispielsweise die Hauptzielgruppe von P7 in den 'Durchführungsbestimmungen zur Gewährung von Unterkunft für Fremde im Rahmen des Wiener Sozialhilfegesetzes' (vgl. FSW, 2006) fest. Weiters wird die Arbeit der SozialarbeiterInnen von institutionellen Vorgaben des Trägers selbst, nämlich der Caritas der Erzdiözese Wien, beeinflusst.
Wie bereits einleitend deutlich gemacht wurde, können sich Spannungsfelder zwischen den gesetzlichen/politischen sowie institutionellen Vorgaben und den Gerechtigkeitsvorstellungen der SozialarbeiterInnen ergeben und manche Rahmenbedingungen in Widerspruch zum Gerechtigkeitsempfinden der SozialarbeiterInnen stehen. Von den InterviewpartnerInnen wurde eine Reihe an Beispielen für die Unmöglichkeit der Verwirklichung eigener Gerechtigkeitsvorstellungen in der Arbeit ausgeführt. Im vorliegenden Artikel werden jedoch hauptsächlich jene Bereiche der sozialarbeiterischen Praxis fokussiert, in denen die SozialarbeiterInnen selbst Entscheidungen treffen können und müssen, weil es keine entsprechenden Richtlinien bzw. Vorgaben gibt. Ein Beispiel dafür stellen die Handlungs- und Ermessensspielräume der Arbeit dar. Es kann davon ausgegangen werden, dass in diesen Bereichen die Umsetzung eigener Gerechtigkeitsauffassungen möglich ist. Bei der nun folgenden Skizzierung der Gerechtigkeitsvorstellungen der SozialarbeiterInnen soll das Hauptaugenmerk auf folgende Frage gelegt werden: welchem Stellenwert und welcher Bedeutung kommen dem Leistungs- und dem Bedürfnisprinzip im Gerechtigkeitsverständnis der interviewten SozialarbeiterInnen zu? Es zeigt sich, so viel sei vorweggenommen, dass beide Prinzipien eine Rolle spielen, wodurch sich jedoch Diskrepanzen innerhalb der Gerechtigkeitsauffassungen einzelner SozialarbeiterInnen ergeben. Dies gilt sowohl für P7 als auch für das Sozialzentrum, weshalb bei der nun folgenden Ausführung nur dann ein Bezug zur jeweiligen Einrichtung hergestellt wird, wenn dies für das Verständnis notwendig erscheint.
3.1. Bedeutung und Umsetzung des Bedürfnisprinzips in der Sozialen Arbeit
Das Bedarfsprinzip spielt eine sehr wichtige Rolle in der Sozialen Arbeit. So bedeutet Gerechtigkeit für die interviewten SozialarbeiterInnen, auf den Klienten/die Klientin und seine/ihre individuellen Bedürfnisse eingehen zu können. Diese Sichtweise wird von allen InterviewpartnerInnen geteilt. Nach Meinung der SozialarbeiterInnen ist Zeit nötig, auf den Einzelfall einzugehen, um den Bedürfnissen des jeweiligen Klienten/der jeweiligen Klientin gerecht zu werden und folglich auch gerechte Entscheidungen treffen zu können. Durch einen (zeit)intensiveren Kontakt mit KlientInnen sei es möglich, sich ein umfassenderes Bild von einer Person zu machen und die gesamte Situation einer Person zu berücksichtigen:
"Das trägt eher dazu bei, dass man vielleicht sogar ein bisschen gerechter wird. Je mehr Wissen man über die Person hat, je mehr man auch versteht, warum die Person so ist, wie sie ist, desto eher, glaub ich, handelt man dann nach einem gerechteren System."
Die Sozialarbeit sollte 'personenabgestimmt' sein und durch das Eingehen auf den Einzelfall der Unterschiedlichkeit der KlientInnen gerecht werden. Ein/e InterviewpartnerIn meint dazu, dass Menschen in schwierigen Situationen, die sehr belastet sind, möglichst viel Unterstützung, auch in Form einer besseren Ressourcenausstattung, erhalten sollten. In diesem Sinne werden KlientInnen zwar nicht gleich, aber trotzdem gerecht behandelt:
"Da sehe ich sehr oft sogar einen Sinn dahinter, dass Ungleichbehandlung durchaus auch gerecht sein kann, weil es einfach auf den Einzelfall abgestimmt einen Sinn macht und gescheit ist, ungleich zu behandeln."
Ein/e SozialarbeiterIn wünscht sich, dass neben klaren, einfachen Vorgaben und Richtlinien sowie einer klaren Regelung von 'Standardsituationen' festgelegt ist, dass ein individuelles Vorgehen möglich ist, um auf die individuellen Bedürfnisse der KlientInnen eingehen zu können. Das Gerechtigkeitsverständnis der International Federation of Social Workers ist ebenfalls bedürfnisorientiert. So wird im Dokument 'Ethik in der Sozialen Arbeit - Erklärung der Prinzipien' gefordert, dass sich SozialarbeiterInnen dafür einsetzen, "dass die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel gerecht - gemäß den Bedürfnissen verteilt werden"6. Die Frage, was als Bedürfnis angesehen wird und wie die Bedürfnisse der KlientInnen festgestellt oder gemessen werden, wird allerdings weder von der International Federation of Social Workers noch von den interviewten SozialarbeiterInnen konkretisiert. Auch wie mit Bedürfnissen, die gesellschaftlich nicht anerkannt und akzeptiert sind, umgegangen wird, bleibt offen.
In den Interviews zeigte sich, dass es für die SozialarbeiterInnen nicht immer möglich ist, auf die wahrgenommenen Bedürfnisse der KlientInnen einzugehen. Ein Beispiel dafür stellen die Angebote im Bereich der Wohnungslosenhilfe dar, die nicht spezifisch und vielfältig genug seien, um den Bedürfnissen der KlientInnen zu entsprechen. Von den SozialarbeiterInnen wird zwar ein bestimmter Bedarf, der sich aus den 'Gruppeninteressen und -bedürfnissen' bestimmter KlientInnengruppen ergibt, wahrgenommen. Aufgrund fehlender adäquater Schlaf- und Wohnplätze der Wohnungslosenhilfe ist es für die SozialarbeiterInnen jedoch nicht möglich, ihre bedürfnisorientierten Gerechtigkeitsvorstellungen in diesem Bereich umzusetzen:
"Wir müssen das trotzdem denen zumuten, weil kein anderes Angebot vorhanden ist. Das ist [...] ein Bedürfnis oder Bedarf von einem Klienten, dem ich nicht nachkommen kann, also dem ich nicht gerecht werde mit meinem Angebot, weil einfach die Ressourcenausstattung dafür nicht passt."
Mangelnde zeitliche Ressourcen und ein zunehmender Druck in der Arbeit verhindern ebenfalls, so die InterviewpartnerInnen, dass auf die Bedürfnisse der KlientInnen eingegangen werden kann. In jenen Bereichen, in denen die SozialarbeiterInnen selbst Entscheidungen treffen können und Handlungsspielräume bestehen, müsste jedoch eine bedürfnisorientierte Vorgehensweise möglich sein. Ein Beispiel dafür stellen einmalige finanzielle Unterstützungsleistungen dar, auf die kein Rechtsanspruch besteht. Die SozialarbeiterInnen versuchen bei den Entscheidungen über die Vergabe dieser finanziellen Hilfen, den einzelnen Fall zu fokussieren. Es wird die gesamte Situation und Vorgeschichte sowie der 'Unterstützungsbedarf' der Person erhoben. Weiters werden die Gründe, die eine Hilfeleistung notwendig machen, geklärt. Die SozialarbeiterInnen scheinen so sichergehen zu wollen, dass das Bedürfnis bzw. der Bedarf an finanzieller Unterstützung wirklich 'berechtigt und notwendig' ist:
"Da muss man sich natürlich schon anschauen, was ist vorher passiert, gab es ein Einkommen, warum braucht er jetzt dringend eine Wohnung, [...] warum wurde er aus der Wohnung delogiert oder warum hat er die Wohnung verloren beziehungsweise wie lang gibt es das Problem schon. Hat er Möglichkeiten gehabt, sich etwas anzusparen oder sich auf die Situation einzustellen und von dem hängt es dann auch oft ab, ob man Unterstützung gewähren kann oder nicht. Die Gründe müssen grundsätzlich für uns nachvollziehbar oder klärbar sein."
Die Beurteilung, ob eine 'echte' Notsituation vorliegt und ob das Bedürfnis des jeweiligen Klienten/der jeweiligen Klientin berechtigt ist, scheint allerdings sehr stark von der individuellen Einschätzung des Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin abzuhängen. So wird die Entscheidung auf einer recht subjektiven Ebene getroffen. Damit wird klar, welche Probleme sich aus der Unbestimmtheit des Bedürfnisbegriffes ergeben können. Als Voraussetzung für eine einmalige finanzielle Unterstützungsleistung gilt auch das Vorliegen einer Perspektive. Dies bedeutet, dass die SozialarbeiterInnen neben dem Bedürfnis des Klienten/der Klientin noch weitere Kriterien für ihre Entscheidung heranziehen. Möglicherweise versuchen sie so, ihre Entscheidung zu 'objektivieren' und die Unstimmigkeiten bzw. die Unschärfe, die mit einer bedürfnisorientierten Vorgehensweise verbunden sind, zu verringern.
Fest steht, dass das Gerechtigkeitsverständnis der SozialarbeiterInnen sehr stark vom Bedürfnisprinzip geprägt ist. Über dieses Prinzip wurde, im Gegensatz zum Leistungsprinzip, in den Interviews sehr häufig gesprochen. Es könnte vermutet werden, dass das Leistungsprinzip keine oder eine lediglich untergeordnete Rolle in der Sozialen Arbeit spielt. Diese Vermutung konnte durch die Analyse der Interviews aber klar widerlegt werden.
3.2. Stellenwert und Anwendungsbereiche des Leistungsprinzips in der Sozialen Arbeit
Von den interviewten SozialarbeiterInnen wurde in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Gerechtigkeit immer wieder eine Orientierung am Bedürfnisprinzip gefordert. Allerdings scheint in konkreten Entscheidungssituationen sehr wohl auch das Leistungsprinzip zur Anwendung zu kommen. Ein/e InterviewpartnerIn erklärte beispielsweise, dass die Möglichkeit besteht, KlientInnen, die sich gegenüber dem/der SozialarbeiterIn 'unangemessen' verhalten, - z. B. weil sie sehr fordernd sind oder den/die SozialarbeiterIn beschimpfen -, die Unterstützung zu verweigern oder diese auf ein Mindestmaß zu reduzieren:
"Ähnlich ist das wenn jetzt jemand kommt und sich ungut aufführt, der kommt herein und ist sehr fordernd, beschimpft einen, [...] - dem will ich klare Grenzen ziehen und ihn nicht mit Hilfsangeboten überhäufen. Ja, wo ich die Möglichkeit habe, zu sagen: schauen Sie, so will ich nicht mit Ihnen zusammenarbeiten, [...] wenn Sie so weitermachen, dann werde ich auf stur schalten und dann mache ich nichts für Sie."
Das bedeutet, dass sozusagen als 'Gegenleistung' für eine Unterstützung ein Mindestmaß an höflichem Umgang bzw. ein angemessenes Verhalten der KlientInnen gefordert werden. Diese Vorgehensweise kann dem Leistungsprinzip zugeordnet werden. Entscheidungen der SozialarbeiterInnen hängen in diesen Situationen somit vom Verhalten der KlientInnen ab und scheinen für den Klienten/die Klientin eher vorteilhaft auszufallen, wenn er/sie sich 'nett' und kooperativ verhält. So werden sympathischen, freundlichen und kooperativen KlientInnen beispielsweise mehr Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings erhält der/die KlientIn unabhängig von seinem/ihrem Verhalten zumindest ein 'Minimalangebot'. Denn im Gegensatz zu früher gäbe es, so ein/e InterviewpartnerIn, ein stärkeres 'rechtliches Korsett', das vorsieht, dass die SozialarbeiterInnen bestimmte Leistungen zu vollziehen haben, auf die ein Anspruch besteht.
Die eben beschriebenen leistungsbezogenen Gerechtigkeitskriterien werden somit in jenen Bereichen angewendet, in denen es um eine sozialarbeiterische Unterstützung ohne Rechtsanspruch geht und in denen die SozialarbeiterInnen selbst entscheiden können bzw. müssen. Ein weiteres Beispiel dafür ist eine intensivere sozialarbeiterische Begleitung und Betreuung, die aufgrund der begrenzten zeitlichen Ressourcen nur einem (geringen)Teil der KlientInnen angeboten werden kann. Hier entscheiden die SozialarbeiterInnen nach ihren eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen, welche/r KlientIn diese erhält. Ähnlich ist dies bei finanziellen Aushilfen, die an KlientInnen vergeben werden können. Die Entscheidungen über die Vergabe scheinen den SozialarbeiterInnen überlassen zu werden und wesentlich von deren Gerechtigkeitsauffassung beeinflusst zu sein. Dabei werden auch Freundlichkeit und Sympathie der KlientInnen als Kriterien für die Entscheidungen herangezogen. Besonders offen wurde dieser Punkt von einem/r SozialarbeiterIn angesprochen, der/die meint, "dass einen Freundlichkeit sehr weit bringt" insofern als dies eher dazu führt, dass der/die KlientIn eine finanzielle Aushilfe von ihm/ihr erhält. Weiters besteht die Möglichkeit, die Qualität des Angebotes auf den Klienten/die Klientin 'abzustimmen'. So erklärte ein/e InterviewpartnerIn, dass besonders 'nette' und kooperative KlientInnen von ihm/ihr tendenziell mit einem besseren Angebot belohnt werden:
"Aber eben sozusagen dann die Kategorien, in denen es sich dann abspielt, da kommt dann wahrscheinlich schon dieser Belohnungsaspekt sozusagen hinein."
An anderer Stelle nimmt der/die InterviewpartnerIn allerdings wieder eine Relativierung dieser Aussage und Vorgehensweise vor, wenn er/sie sich dafür ausspricht, dass die Qualität des Angebotes von den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Klienten/der Klientin abhängig gemacht wird.
Zusammenfassend stellte sich heraus, dass in den Entscheidungsbereichen der SozialarbeiterInnen zum Teil das Leistungsprinzip zur Anwendung kommt, insofern als einerseits für Unterstützungsleistungen eine Gegenleistung (freundliches, angenehmes Verhalten) erwartet oder gefordert wird und andererseits besonders 'nette' und kooperative KlientInnen mit einem besseren Angebot oder einer (zusätzlichen) finanziellen Aushilfe belohnt werden. Im Gegensatz zu einer Leistungsorientierung, die auch in der Vergangenheit erbrachte Leistungen berücksichtigt, geht es hier um eine Leistung, nämlich ein bestimmtes Verhalten des Klienten/der Klientin, die in der konkreten Beratungs- bzw. Betreuungssituation erwartet wird. Unerwünschtes Verhalten wird auf diese Weise sanktioniert. Es stellt sich die Frage, warum die SozialarbeiterInnen in diesen Fällen eine derartig disziplinierende Funktion übernehmen. In den Interviews entstand der Eindruck, dass immer restriktivere Rahmenbedingungen, Vorgaben und Richtlinien häufig mit Gefühlen der Ohnmacht verbunden sind. Diese Ohnmachtsgefühle scheinen bei einigen SozialarbeiterInnen dazu zu führen, dass den (wenigen) Bereichen, in denen Entscheidungen nach den eigenen Vorstellungen getroffen werden können, eine besonders große Bedeutung verliehen wird. Die SozialarbeiterInnen halten sich diese Spielräume bewusst frei und scheinen die Macht und den Einfluss in diesem Bereich positiv zu bewerten und zu 'genießen', was an folgender Aussage deutlich wird:
"Das ist die Macht, die ich habe." und weiter: "Also das ist für mich eine Möglichkeit zum Beispiel, absolut Gerechtigkeit walten zu lassen."
Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Macht nicht zum Teil missbräuchlich verwendet wird, wenn sie beispielsweise dafür eingesetzt wird, besonders 'nette' KlientInnen mit besseren oder zusätzlichen Unterstützungsleistungen zu belohnen. Einem derartigen Missbrauch könnte durch klare rechtliche Regelungen und politische Vorgaben entgegengewirkt werden:
"Es hängt nicht davon ab, ob dem Mitarbeiter das jetzt als gerecht vorkommt oder nicht gerecht, dass er jetzt etwas bekommt, sondern das muss er machen, weil er das Gesetz zu vollziehen hat, das hat, glaube ich, für viele Klienten auch Vorteile."
Das bedeutet, dass es für den/die SozialarbeiterIn zwar unbefriedigender ist, nicht nach den eigenen Gerechtigkeitsüberzeugungen handeln und entscheiden zu können, für die KlientInnen kann dies jedoch auch mit Vorteilen verbunden sein. So spricht sich ein/e SozialarbeiterIn explizit für eine gesetzliche Absicherung bzw. einen Anspruch auf Leistungen der materiellen Grundsicherung aus. Dadurch könnte eine Vergabe von Unterstützungsangeboten nach dem Leistungsprinzip verhindert werden. Insgesamt führen sehr umfangreiche bzw. restriktive Regeln und Rahmenbedingungen jedoch zu einer Starrheit im System, die das Eingehen auf den Einzelfall sowie die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse der KlientInnen verhindern. Dies würde dem Bedürfnisprinzip klar widersprechen.
Möglicherweise führt die Ohnmacht der SozialarbeiterInnen, die sich aus immer restriktiveren Vorgaben ergibt, aber auch dazu, dass die verbleibenden eigenen Entscheidungsbereiche und Spielräume weniger bewusst gestaltet werden und von den SozialarbeiterInnen weniger reflektiert wird, an welchen Gerechtigkeitskriterien sie sich bei ihren Entscheidungen orientieren. Eine weitere Erklärung für die Leistungsorientierung der SozialarbeiterInnen könnte sein, dass sie in ihrer Arbeit (unbewusst) immer mehr jenes Prinzip umsetzen, an dem sie selbst gemessen werden. Der wichtige gesamtgesellschaftliche Stellenwert des Leistungsprinzips und die Tatsache, dass SozialarbeiterInnen ebenfalls bestimmte 'Leistungen' erbringen müssen, könnten dazu führen, dass sie selbst für ihre Entscheidungen ebenfalls dieses Gerechtigkeitskriterium heranziehen. Als Grund für die Leistungsorientierung der SozialarbeiterInnen nennt ein/e InterviewpartnerIn darüber hinaus den zunehmenden Stress und Druck in der Arbeit und mangelnde zeitliche Ressourcen, um auf den Einzelfall eingehen und bedürfnisorientiert vorgehen zu können. Stattdessen fließen leistungsbezogene Gerechtigkeitskriterien ein. Diesem Erklärungsansatz nach würden jene Rahmenbedingungen, die zu einem zunehmenden Zeitdruck in der Arbeit führen, die Leistungsorientierung der SozialarbeiterInnen wesentlich mit verursachen
Insgesamt ergeben sich, wie bereits einleitend angedeutet wurde, recht große Widersprüchlichkeiten innerhalb der Gerechtigkeitsauffassungen einzelner SozialarbeiterInnen. Obwohl in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gerechtigkeit immer wieder das Bedürfnisprinzip in den Mittelpunkt gerückt und Gerechtigkeit im Sinne dieses Prinzips interpretiert und verstanden wurde, scheint in konkreten Entscheidungssituationen auch das Leistungsprinzip das Handeln der SozialarbeiterInnen zu prägen. Diese Diskrepanz zwischen dem 'Reden' über Gerechtigkeit und der konkreten Arbeit bzw. konkreten Entscheidungen wurde in den Interviews mehrmals deutlich. Das bedeutet, dass einige SozialarbeiterInnen das, was sie in Zusammenhang mit dem Thema Gerechtigkeit fordern, selbst nicht oder unzureichend umsetzen. Denn die vorangegangenen Ausführungen belegen, dass nicht immer eine Orientierung an den Bedürfnissen der KlientInnen, sondern am Verhalten bzw. am Grad der Freundlichkeit und Kooperation der KlientInnen erfolgt. Der (sozialpolitische) Konflikt bzw. das Spannungsfeld zwischen dem Leistungsprinzip und dem Bedarfsprinzip scheint sich so auch in der Sozialen Arbeit widerzuspiegeln.
4. Das Leistungsprinzip im Widerspruch zum Inklusionsauftrag der Sozialen Arbeit
Der Auftrag der Sozialen Arbeit besteht nach Heiko Kleve in der 'Inklusion' ihrer KlientInnen. Das heißt, SozialarbeiterInnen greifen dort ein, wo Menschen von Exklusion(en) betroffen sind und zwar vor allem dann, wenn durch den Ausschluss aus einem oder mehreren gesellschaftlichen Funktionssystemen die sozialen, psychischen, emotionalen oder materiellen Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Soziale Arbeit kompensiert diese Exklusionen insofern, als sie eine 'stellvertretende Inklusion' vollzieht und damit Partizipationsmöglichkeiten schafft (vgl. Kleve, 1999: 70 ff.). Die International Federation of Social Workers erachtet die Förderung der 'Integration' ebenfalls als wesentliche Aufgabe der Sozialen Arbeit.7 Diesen Funktionsbestimmungen nach bekämpfen SozialarbeiterInnen den Ausschluss von Menschen.
Mit den im vorigen Kapitel beschriebenen Vorgehensweisen tragen SozialarbeiterInnen jedoch selbst zum Ausschluss von KlientInnen bei. Denn in jenen Bereichen, in denen sie Entscheidungen nach ihren eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen treffen und Handlungsspielräume bestehen, ziehen sie zum Teil Kriterien wie Freundlichkeit oder Kooperationsbereitschaft der KlientInnen als Voraussetzungen für die Vergabe einer (zusätzlichen) Unterstützung heran. Das bedeutet, dass in diesen Bereichen sozialarbeiterische Angebote nach dem Leistungs- bzw. Beitragsprinzip verteilt werden. Auf diese Weise schaffen SozialarbeiterInnen Beschränkungen in Zusammenhang mit dem Zugang zu Unterstützungsangeboten. Dies erscheint vor allem auch deshalb paradox, weil die InterviewpartnerInnen einige der von politischer und institutioneller Seite geschaffenen Zugangsbeschränkungen heftig kritisieren und im Sinne mangelnder Gerechtigkeit ablehnen. Ein Beispiel dafür stellen die Zugangsbeschränkungen für MigrantInnen und AsylwerberInnen dar. Sowohl im Sozialzentrum als auch bei P7 hängt es vom Aufenthaltstitel der jeweiligen Person ab, ob eine Unterstützung möglich ist, was von den SozialarbeiterInnen mehrmals in Frage gestellt wurde. Einige der SozialarbeiterInnen schließen jedoch ebenfalls bestimmte KlientInnen von einer Unterstützung aus, wenn sie die erwartete 'Leistung' nicht erbringen (können). Unangemessen erscheint dies, wenn berücksichtig wird, dass die geforderten 'Leistungen', also zum Beispiel Freundlichkeit oder ein angenehmes Verhalten des Klienten/der Klientin sehr unscharfe Kriterien darstellen. So hängt es vom individuellen Empfinden des jeweiligen Sozialarbeiters/der jeweiligen Sozialarbeiterin ab, ob er/sie ein bestimmtes Verhalten als 'angenehm' oder 'nett' einstuft. Die Sympathie und die Tagesverfassung des Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin dürften dabei eine wesentliche Rolle spielen. SozialarbeiterInnen, die sich an leistungsbezogenen Gerechtigkeitskriterien orientieren, tragen in jedem Fall zur Exklusion von Menschen bei. Dies steht jedoch im Widerspruch zu ihrer eigentlichen Aufgabe, wie sie von Heiko Kleve definiert wird, nämlich der Inklusion ihrer KlientInnen.
Die SozialarbeiterInnen dürften sich ihrer (unbewussten) Orientierung am Leistungsprinzip und den Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben, nicht immer klar sein. Vielmehr zeigten die Interviewergebnisse, dass der Begriff der Gerechtigkeit generell recht unterschiedlich aufgefasst und verstanden wird. Gerechtigkeitsfragen wurden auf jeweils unterschiedliche Ebenen bzw. Kontexte der praktischen Tätigkeit bezogen.
Somit scheint der Begriff der Gerechtigkeit zwar einerseits eine wichtige Rolle in der Sozialen Arbeit zu spielen, was sich daran zeigt, dass er in den Definitionen Sozialer Arbeit einen zentralen Stellenwert einnimmt. Andererseits scheinen SozialarbeiterInnen in der Praxis ganz unterschiedliche Vorstellungen davon zu haben. Oftmals, so die Vermutung, wird der Begriff ohne nähere Definition und Konkretisierung verwendet, woraus sich große Interpretationsspielräume ergeben. Insgesamt zeigt sich, dass die normativen Orientierungen der SozialarbeiterInnen, also beispielsweise die Orientierung am Bedürfnisprinzip, dem disziplinären Auftrag der Sozialen Arbeit recht gut entsprechen. So ist auch das Gerechtigkeitsverständnis der International Federation of Social Workers bedürfnisorientiert. Unstimmigkeiten bzw. Diskrepanzen ergeben sich jedoch zwischen den Normen der SozialarbeiterInnen, wie sie in den Interviews deutlich gemacht wurden, und der konkreten Handlungsebene. Denn in der Interaktion zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn scheinen situativ auch leistungsbezogene Gerechtigkeitskriterien zur Anwendung zu kommen.
Im vorliegenden Artikel wurde gezeigt, dass es einen Unterschied macht, ob Gerechtigkeit im Sinne des Bedürfnisprinzips oder des Leistungsprinzips verstanden wird. Diese beiden Prinzipien wurden beispielhaft ausgewählt, da sie im Alltagsverständnis von Gerechtigkeit eine sehr große Rolle spielen. Die widersprüchlichen Orientierungen der SozialarbeiterInnen in Zusammenhang mit diesen Prinzipien machen deutlich, dass in der Sozialen Arbeit ein großer Reflexionsbedarf besteht, was das Thema Gerechtigkeit anbelangt. Insbesondere dürfte sich dieser Reflexionsbedarf auf die Frage nach Gerechtigkeit im konkreten Interaktionsverhältnis zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn beziehen und speziell auf jene Entscheidungsbereiche, in denen das sozialarbeiterische Handeln nicht durch gesetzliche/politische und/oder institutionelle Vorgaben geprägt bzw. vorherbestimmt ist. Denn in diesen Bereichen scheinen situationsabhängig eigene Wertmaßstäbe angelegt zu werden, die nicht immer mit den professionstheoretischen Werten und Normen der Sozialen Arbeit übereinstimmen.
Nach Mark Schrödter muss die Soziale Arbeit jedoch nicht über ein einheitliches Gerechtigkeitsverständnis verfügen. Für ihn gibt es unterschiedliche Möglichkeiten einer gerechtigkeitstheoretischen Fundierung. Unabhängig davon, welche konkreten Gerechtigkeitsnormen vertreten werden, stellt die Gerechtigkeit als solche den 'Zentralwert' und einen der Grundbegriffe der Profession dar. Das bedeutet jedoch nicht, dass jede beliebige Gerechtigkeitsvorstellung möglich ist. Vielmehr ist es nach Mark Schrödter notwendig, dass SozialarbeiterInnen ihre Gerechtigkeitsurteile sowie Gerechtigkeitsnormen gut begründen (vgl. Schrödter, 2007: 19). Das bedeutet, dass die Auswahl bestimmter Gerechtigkeitsnormen, an denen sich SozialarbeiterInnen in ihrer sozialarbeiterischen Praxis orientieren, argumentativ abgesichert sein sollte. In diesem Sinne haben SozialarbeiterInnen die Verantwortung, ihr Gerechtigkeitsverständnis und die Gerechtigkeitsnormen, auf die sie sich beziehen, ständig zu reflektieren. Diese Verantwortung betrifft insbesondere auch die eigenen Entscheidungsbereiche und Ermessensspielräume der SozialarbeiterInnen. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass folgender Appell der International Federation of Social Workers keine Leerformel darstellt, sondern Teil des professionellen Selbstverständnisses von SozialarbeiterInnen wird:
"Sozialarbeiter/innen haben eine Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit zu fördern in Bezug auf die Gesellschaft im Allgemeinen und in Bezug auf die Person mit der sie arbeiten."8
Verweise
1 http://www.ifsw.org/p38000409.html [14.04.2009]
2 vgl. http://www.wien.gv.at/advuew/internet/AdvPrSrv.asp?Layout=stelle&Type=K&stellecd=2004072314021440&STELLE=Y [14.04.2009]
3 vgl. http://www.wien.gv.at/ma40/sozial/einrichtungen.htm#1 [14.04.2009]; vgl. http://www.wien.gv.at/ma40/sozial/sozialzentren.htm [14.04.2009]
4 vgl. http://www.caritas-wien.at/219.htm [14.04.2009]
5 vgl. http://wohnen.fsw.at/wohnungslos/p7.html [14.04.2009]
6 http://www.ifsw.org/en/p38000739.html [14.04.2009]
7 vgl. http://www.ifsw.org/p38000409.html [14.04.2009]
8 http://www.ifsw.org/p38000739.html [14.04.2009]
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Über die Autorin
Mag.a (FH) Marlene Schagerl, Jg. 1985
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