soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 5 (2010) / Rubrik "Rezensionen kurz" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/180/269.pdf
244 Seiten
Naturwissenschaft verspricht die Illusion von Sicherheit und Klarheit. Soziale Arbeit verbindet man mit Unsicherheit und Diffusität.
Die 13 Beiträge dieses Bandes fragen danach, an welchen Stellen naturwissenschaftlich orientierte Denkmuster die Soziale Arbeit bereichern können und wo Soziale Arbeit im Sinne ihres Selbstverständnisses und ihres Auftrages auf Abgrenzung beharren muss. Erwartungsgemäß vertreten die einzelnen Autor/innen in ihren diesbezüglichen Einschätzungen nicht eine einheitliche Linie. Sie bereichern aber die Bandbreite, unter welcher dieses Verhältnis diskutiert werden kann. Dies geschieht im Wesentlichen in den zwei umfassenden Teilen des Bandes.
Zunächst jedoch weisen die beiden Herausgeber in ihrem inhaltsreichen Einleitungsbeitrag darauf hin, dass sich zwischen Pädagogik und Naturwissenschaft frühe und durchgängige Referenzen nachweisen lassen, die sie kenntnisreich nachzeichnen. Die Diskurslandschaften reichen von affirmativ über skeptisch ablehnend bis zu kritisch-selbstvergewissernd. Dabei können sie zeigen, dass das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als sozialwissenschaftlich und ihre bevorzugte Ausrichtung an der Soziologie und an den politischen Debatten den Blick auf die Naturdimensionen des Geschehens der Sozialen Arbeit immer wieder verstellt haben. Und schließlich reißen sie grundsätzliche, immer wiederkehrende und somit auch die aktuelle Diskussion bewegende Themenstellungen an: Sie gehen aus von methodologischen Problemen, wonach naturwissenschaftliche Ergebnisse, unter präzise kontrollierten Bedingungen hergestellt, nur eine beschränkte Reichweite in den alltäglichen Lebenswelten Sozialer Arbeit erzielen. Im Vergleich dazu finden sich die eher ungenauen und kaum replizierbare Erkenntnisse aus Life-Experimenten der Sozialen Arbeit. Diese stehen jedoch für die umfassenden und komplexen Lebenswirklichkeiten, vermögen allerdings nicht mehr als die komplexe Welt etwas besser aufzuschlüsseln. Die Autoren berühren weiters die Thematik, wie aus vorgeblich gesicherten Befunden normierende "Eckwerte" abzuleiten wären. Sie münden schließlich in der Problematik der Effizienzhoffnungen, wonach naturwissenschaftliche Befunde die Illusion nähren, "mit günstigen Mitteln das Geschehen optimieren und die Menschen formen und normalisieren zu können" (S. 34).
Von da her entschlüsselt sich auch der Themenbereich des ersten Teiles des Buches, in welchem neun Beiträge solchen Themen wie Entwicklungsstörungen, ADHS, Gesundheitsförderung, körperbezogene Wahrnehmung, Pubertätskonstruktionen oder auch der Bedeutung des autobiographischen Lernens im Alter gewidmet sind. Alle diese Themen veranschaulichen, dass Soziale Arbeit ohne Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Denkformen, Methoden und Befunde eine unzulässige Verkürzung ihrer Arbeits- und Forschungsansätze in Kauf nehmen würde.
Die vier Beiträge des zweiten Teiles befassen sich grundlagentheoretisch mit dem Einfluss naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses auf sozialpädagogische Denkformen. Der erste Beitrag über "Neo-soziale Körperlichkeiten in der Sozialen Arbeit" (F. Kessl), in komplexer Diktion gehalten, warnt vor dem Versuch eines veränderten Zugriffs der Sozialen Arbeit auf die individuelle Körperdimension, das innere Erleben der einzelnen Person, z.B. unter den Schlagworten wie "Konfrontative Pädagogik", "Konsequent Grenzen setzen", "Zwang als erzieherisches Mittel" (S. 194). Gerade der letzte Punkt zeigt, dass im Rahmen dieser Diskussion gezielt Überspitzungen platziert werden, die in einer reflexiven Sozialen Arbeit keinen wirklichen Rückhalt haben. In Fortsetzung einer verdeckten neomarxistischen Ideologie dient eine solche Diktion wohl eher einer Diffamierung der individuellen Verantwortlichkeit unter dem Label neo-sozialer Politik. Denn kein ernst zu nehmender Ansatz in der Sozialen Arbeit - weder im theoretischen Diskurs noch im Rahmen praktischer Interventionen - würde die Relevanz von sozialstrukturellen Gegebenheiten ausblenden. Als Lösungsperspektive wird die ziemlich konturlose beliebige Forderung erhoben "dass das pädagogische Handeln zwar immer auch risikokalkulativ sein sollte, allerdings nicht in Bezug auf quasi-naturwissenschaftliche Gewißheiten (...) sondern dahingehend, dass alle Beteiligten immer achtsam sein sollten gegenüber ihren körperlichen Ressourcen, leiblich habitualisierten Ängsten (...), ohne damit das formale Ziel (sozial)pädagogischer Handlungsvollzüge zu gefährden - das Ziel nämlich, möglichst vielfältige und auch bisher nicht sichtbare und unzugängliche Handlungsoptionen zu ermöglichen und zu eröffnen" (S. 196). Solches läßt sich - allerdings ohne die herausfordernde Sprachakrobatik - regelmäßig bei den Klassikern seit Pestalozzi finden.
Die nächsten beiden grundsätzlichen Analysen über die "Natur des Menschen und das Leben als Person" (U. Steckmann) und über den "Neurophysiologischen Determinismus" (K. Schumann), wo in Auseinandersetzung mit dem klassischen "Libet-Experiment" (1982) die Bedeutung des Menschenbildes für den Erziehungsprozeß erörtert wird, machen eines deutlich: Trotz genauer Messungen z.B. von neuronalen Prozessen ist "nicht auf der Grundlage biologischer Kriterien" entscheidbar, was "als gelingende Form personaler Existenz zu betrachten ist" (S. 211). Über die grundsätzlichen und feinsinnigen Analysen zu diesen beiden Themen hätte man gerne etwas darüber hinaus, mehr und breiter gelesen - z.B. über Verantwortung und Schuld, einem in der Sozialen Arbeit doch wohl grundsätzliche Problem im Zusammenhang der neuropädagogischen Wende. Der inhaltsreiche Text zum Neurophysiologischen Determinismus bleibt in manchen Passagen und Referenzen zu sehr den Diskussionen der traditionellen Erziehungswissenschaft verhaftet.
Unerwartet konkret in diesem eher grundsätzlich ausgerichteten Zusammenhang ist der vierte Beitrag "Entwicklungspsychiatrische und psychodynamische Diagnostik als Grundlage interdisziplinärer Intervention bei Kindern und Jugendlichen" (O. Bilke) angelegt. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass Fragen der sozialpädagogischen Diagnostik in letzter Zeit Konjunktur haben (vgl. z.B. die Übersichtswerke von M. Heiner 2004, P. Pantucek 2005 und P. Pantucek/D. Röth 2009). Im Rahmen einer ressourcenorientierten Grundhaltung betont der Autor unter Hinweis auf die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik für Kinder und Jugendliche/OPD-KJ (2007, S. 2. Auflage) den Wert einer regelmäßigen multiaxialen Diagnostik im Rahmen von Evaluation und Prozeßdokumentation in stationären Einrichtungen der Jugendwohlfahrt. Die vier Achsen "Beziehung", "Konflikt", "Struktur" und "Behandlungsvoraussetzungen/Ressourcen" scheinen gut abgesichert und ermöglichen es, mit altersspezifischen operationalisierten Ankerbeispielen psychodynamische Befunde durchaus in reliabler und valider Weise zu erheben.
Insgesamt ein gehaltvolles Buch, das viele Zusammenhänge sichtbar macht, aber auch manche Fragen offen hält.