soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 6 (2010) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standortredaktion St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/190/296.pdf


Michaela Brandl:

"Case Management - Work in Progress"


Zur Implementierung von Case Management in der Jugendwohlfahrt


1. Ausgangslage
1.1 Case Management
Case Management wurde in den 1970er Jahren in Amerika entwickelt und verbreitete sich in Folge in Europa. Seit 2000 ist die Methode in Österreich Thema. Im Unterschied zu Case Work erfasst Case Management nicht nur die Fallebene, sondern verbindet diese ganzheitlich mit Netzwerkarbeit und sozialraumorientiertem Vorgehen und bedarf zur Ausübung einer Erweiterung der Grundkompetenzen Sozialer Arbeit (siehe Löcherbach 2005a).

Um einer Beliebigkeit im Verständnis und in der Verwendung des Begriffes "Case Management" entgegenzuwirken formulierte die Österreichische Gesellschaft für Care und Case Management Basics und Handlungsanleitungen. Als Indikation für den Methodeneinsatz wird eine zeitlich begrenzte Anwendung in komplexen Fällen mit hoher Akteursdichte angeführt. Aufbauend auf konsequenter Ressourcenorientierung sind die Übernahme von Fallverantwortung, das Ausüben anwaltschaftlicher Vertretung, die Zugangssteuerung und die Vermittlung von Hilfen Grundlagen der Methode, ebenso ist das Realisieren des Case Management Regelkreises (siehe Moxley 1989; Wendt 2008; Neuffer 2007; Kleve u.a. 2008) - bestehend aus Assessment, Planning, Intervention, Monitoring und Evaluation - erforderlich.. Der Ansatz am individuellen Bedarf der Klientinnen/Klienten, konsequente Ressourcenarbeit und der effektive und effiziente Einsatz bedarfsangepasster Hilfen soll Schnittstellenprobleme und Hilfeabhängigkeiten reduzieren, sowie Empowerment und ökosoziale Passungen ermöglichen (vgl. ÖGCC o. J.: Grundlagenpapier) .

1.2 Jugendwohlfahrt
Das Jugendwohlfahrtsgesetzt und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch stellen die rechtlichen Grundlagen der Jugendwohlfahrtsarbeit dar.

Öffentliche Jugendwohlfahrt versteht sich prinzipiell präventiv und subsidiär und umfasst alle dem Kindeswohl dienenden Hilfen (vgl. BMWFJ o. A.). Das Wohl des Kindes - welches das körperliche, geistige und seelische Wohlergehen umfasst - stellt die oberste Richtschnur des Hilfeeinsatzes dar (vgl. Wienerroither 2004: 176). Dabei sind die Hilfen dem Bedarf und den Lebensverhältnissen des Kindes anzupassen und je nach Entwicklung zu verändern oder aufzuheben. Ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Jugendwohlfahrt und Familie ist gefordert und die Verhältnismäßigkeit der Hilfe ist zu beachten.

2. Forschungskonzeption
Das Forschungsinteresse entstand aus dem Spannungsfeld zwischen dem Methodendiskurs und den Erfahrungen der Autorin mit dem Einsatz von Case Management in der Jugendwohlfahrt. Als Forschungsfeld wurde eine österreichische Landes-Jugendwohlfahrts-Organisation ausgewählt, in der Case Management seit 2002 Thema ist. Die Definitionen, die Chancen und Risiken der Methode und deren Implementierungsstand interessierten ebenso, wie die aktuelle Praxis und deren Rahmenbedingungen in Hinblick auf die Methode. Die Arbeit will einen Beitrag zur Qualitätssicherung und Weiterentwicklung von Case Management in der Jugendwohlfahrt leisten.

3. Forschungsmethode
Zur komplexen Erfassung der Thematik - bei gleichzeitiger Offenheit für Neues - wurde ein qualitativer Zugang gewählt (siehe Früh 2007). Eine Triangulation in der Datengewinnung diente der Absicherung der Forschungsergebnisse, der Erhöhung der Aussagekraft und der Reduktion von Fehlerquellen. Den Ebenen von Case Management entsprechend (Fallebene, Systemebene, Netzwerkebene) basiert die Arbeit auf vier Expertinnen-/Experteninterviews (siehe Bogner/Littig/Menz 2009) zur Darstellung der Fallebene und der Verwertung von acht Dokumenten der Organisation zur Präsentation der Systemebene. Erhebungen auf der Netzwerkebene könnten ein Folgeschritt sein, wurden jedoch im Rahmen dieser Arbeit, die sich für die organisationsinterne Umsetzung interessierte, vernachlässigt. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte nach den Regeln der inhaltsanalytischen Zusammenfassung (siehe Mayring 2007).

4. Ergebnisse und Erkenntnisse der Forschungsarbeit
Der Diskurs startet mit der Definition und der Implementierung von Case Management in der beforschten Organisation und widmet sich danach der Anwendung der Methode. Veränderungen für die Klientinnen/Klienten sowie Chancen und Risiken der Methode fließen in beide Abschnitte ein. Rahmenbedingungen für Case Management und die Empfehlungen zur weiteren Vorgehensweise bilden den Abschluss der Darstellung.

4.1 Definitionen und Implementierung
Die Dokumente der Systemebene zeigen ein auf Fallmanagement verkürztes Verständnis der Methode, das durch Produktvorgaben und Dokumentationsrichtlinien getragen ist. Korrelierend mit der Aktualität der Grundausbildung wurde auf der Fallebene eine umfassendere Methodensicht deutlich. Die Beschreibung der Methode im Qualitätshandbuch und deren Nennung in den Hauptaufgaben der SozialarbeiterInnen erreichte keine Implementierung. Ein Implementierungsprozess ist den Expertinnen/Experten ebenso wenig bewusst wie die aktuelle Anwendung von Case Management.

4.2 Anwendung
Die Interviewdaten belegen, dass sich die Hilfeplanung in der Praxis fast ausschließlich auf professionelle Ressourcen stützt und von Hilfevorgaben getragen ist. Zeitmangel sowie System- und Absicherungsvorgaben werden als Gründe dafür genannt.

Hilfevorgaben und standardisierte Hilfeabläufe verkörpern systemorientiertes Case Management. Optimierungen der Hilfeabläufe - unter Einsatz professioneller Hilfen - können kurzfristig Einsparungen bringen, langfristig verursachen sie durch Hilfeabhängigkeiten eine Schwächung der Selbsthilfepotentiale und Mehrkosten (siehe Pantucek 2007). Die Vorgaben von Lösungen/Hilfen verstärken komplementäre Arbeitsbeziehungen, Macht und Ohnmacht der Sozialarbeit erwächst daraus. Partizipation und Ressourcenorientierung bedürfen der Bereitschaft der Fachkräfte und einer dementsprechenden Grundhaltung der Organisation (siehe Hansbauer u. a. 2007).

4.3 Rahmenbedingungen
Die Expertinnen/Experten formulieren das Anliegen nach mehr Personal und nach innovativen und bedarfsangepassten Ressourcen, um dadurch umfassendere und nachhaltigere Hilfe erarbeiten zu können. Sie schreiben der Förderung individueller Ressourcen und dem Einsatz bedarfsangepasster Hilfen eine Erhöhung der Hilfewirksamkeit zu und vermuten, dass es dadurch zu einer Senkung der Unterbringung von Kindern außerhalb der Familie kommen könnte.

Auch Sommer (vgl. 2009: 61) nennt in ihrer Forschungsarbeit zu Chancen und Risiken von Case Management in der Jugendwohlfahrt Personalaufstockungen und Ressourcenanpassungen als Voraussetzungen für die Methodenanwendung.

4.4 Empfehlungen
Die Fälle der Jugendwohlfahrt sind aufgrund ihrer komplexen Problemlagen, der hohen Dichte an beteiligten Personen und dem Vernetzungsbedarf der Helferinnen/Helfern für den Einsatz von Case Management prädestiniert. In der beforschten Organisation werden die Kriterien der Österreichischen Gesellschaft für Care und Case Management teilweise erfüllt. Zeitlich begrenzte Arbeit ist gegeben, auch wird die Fallverantwortung getragen. Die Umsetzung des Case Management Regelkreises - basierend auf Ressourcen- und Klientinnen-/Klientenorientierung - erfolgt derzeit lediglich in Ansätzen. Teilweise angewandtes Fallmanagement kann Verbesserungen in den Arbeitsabläufen bringen, lässt jedoch das wahre Potential des Konzeptes, die Verschränkung von individuellen und passgenauen Hilfen und den damit verbundenen effizienten Einsatz von Mitteln, ungenützt (siehe Löcherbach 2003). Die Umsetzung der Methode scheitert an strukturellen Problemen: dem fehlenden Implementierungsprozess, der zu hohen Arbeitsbelastung, der mangelhaften Bedarfsanpassung der Hilfen und der fehlenden Qualifizierung der SozialarbeiterInnen. Darüber hinaus bedürfen die Leitprinzipien der Methode einer genaueren Betrachtung. Spezielle Themenbereiche sollten dabei Verfahren der kooperativen sozialen Diagnostik, der Netzwerk- und Ressourcenarbeit, wie z.B. das Verfahren "Family Group Conference" (siehe Haselbacher 2009) sein.


Zusammenfassend wird die Implementierung von Case Management - ausgehend von einer grundsätzlichen Entscheidung der Systemebene und dem Schaffen der Voraussetzungen - angeregt. Alle Beteiligten sollten mit Offenheit und ausreichend Zeit an der Entwicklung eines - für die Herausforderungen der Jugendwohlfahrt - passenden Konzeptes arbeiten.


Literatur
BMWFJ (o. A.): Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend. Aufgaben der Jugendwohlfahrt - http://www.bmwfj.gv.at/BMWA/Schwerpunkte/Familie /default.htm - am 10. 10. 2009
Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (Hrsg.) (2009): Experteninterviews. Theorien, Methoden, Anwendungsfelder. 3., grundlegend überarbeitete Auflage. Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden
Früh, Werner (2007): Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 6., überarbeitete Auflage. UVK Verlagsgesellschaft: Konstanz
Hansbauer, Peter/Spiegel, Hiltrud von/Kriener, Martina/Müller, Katja (2007): Zwischenbericht zum Modellprojekt: Implementation und Evaluation von "Family Group Conference (FGC)" - Konzepten. Ein Instrument zur Förderung von mehr Partizipation und Gemeinwesenorientierung bei der Planung von Hilfen? Fachhochschule Münster und Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen.
Haselbacher, Christine (2009): "User Involvement" - KlientInnenbeteiligung in der Sozialen Arbeit anhand des Verfahrens Family Group Conference. Diplomarbeit an der Fachhochschule St. Pölten
Kleve, Heiko/Haye, Britta/Hampe-Grosser, Andreas/Müller, Matthias (2008): Systemisches Case-Management. Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit. 2. Auflage. Carl-Auer Verlag: Heidelberg
Löcherbach, Peter (2003): Einsatz der Methode Case Management in Deutschland: Übersicht zur Praxis im Sozial- und Gesundheitswesen. Vortrag beim Augsburger Nachsorgesymposium am 24. 3. 2003 - http://www.casemanager.de/ download/cm_ praxis.pdf - am 12. 3. 2009
Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/Remmel-Faßbender, Ruth/Wendt, Wolf Rainer (Hrsg.) (2005): Case Management. Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. 3. Auflage. Ernst Reinhard Verlag: Basel
Löcherbach, Peter (2005a): Qualifizierung im Case Management. Bedarf und Angebote. In: Löcherbach, Peter/Klug, Wolfgang/Remmel-Faßbender, Ruth/Wendt, Wolf Rainer (Hrsg.) (2005): Case Management. Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. 3. Auflage. Ernst Reinhard Verlag: Basel. S. 218-246
Loderbauer, Brigitte (Hrsg.) (2004): Kinder- und Jugendrecht. 3. Ausgabe. LexisNexis ARD Orac Verlag: Wien.
Maelicke, Bernd (Hrsg.) (2008): Lexikon der Sozialwirtschaft. 1. Auflage. Nomos Verlagsgesellschaft: Baden-Baden.
Mayring, Philipp (2007): Qualitative Inhaltsanalysen. Grundlagen und Techniken. 9. Auflage. Beltz Verlag: Weinheim und Basel.
Moxley, David P. (1989): The Pracitse of Case Management. Sage Publications. Newbury Park: California
Neuffer, Manfred (2007): Case Management. Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien. 3., überarbeitete Auflage. Juventa Verlag: Weinheim und München
ÖGCC (o.J.): Österreichische Gesellschaft für Care und Case Management. http://www.oegcc.at/ - am 14. 12. 2009
Pantucek, Peter (2007): Social Work Case Management als Systemmanagement? Referat am PraxisanleiterInnentag der FH Campus Wien: "Case Management. Das große Netzwerk?" 2. 3. 2007 - http://www.pantucek.com/texte/200703cm_ campuswien/pp_systemmanagement.html - am 18. 8. 2009
Sommer, Sabine (2009): Chancen und Risiken von Case Management in der Jugendwohlfahrt. Eine empirische Untersuchung des Diskurses aus Sicht der Sozialarbeit. Diplomarbeit an der Fachhochschule St. Pölten
Wendt, Wolf Rainer (2008): Case Management. In: Maelicke, Bernd (Hrsg.) (2008): Lexikon der Sozialwirtschaft. 1. Auflage. Nomos Verlagsgesellschaft: Baden-Baden. S. 173-176
Wienerroither, Peter (2004): Jugendwohlfahrtsrecht. In: Loderbauer, Brigitte (Hrsg.) (2004): Kinder- und Jugendrecht. 3. Ausgabe. LexisNexis ARD Orac Verlag: Wien. S. 175-206

Über die Autorin

Mag.a (FH) Michaela Brandl, Jahrgang 1962
michaela.brandl@chello.at
1987 - Abschluss der Sozialakademie an der Bundesakademie Wien
2010 - Abschluss des Masterstudienganges "Soziale Arbeit" an der Fachhochschule St. Pölten
Seit 1989 - Sozialarbeiterin im "Amt für Jugend und Familie - Soziale Arbeit mit Familien" in Wien