soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 7 (2011) / Rubrik "Rezensionen kurz" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/198/319.pdf


Karl Fallend:

Michael Günter / Georg Bruns: Psychoanalytische Sozialarbeit. Praxis - Grundlagen - Methoden. (Klett-Cotta) Stuttgart, 2010.


263 Seiten / EUR 27,95


In aller Regelmäßigkeit wollen uns Autoren ins 19. Jahrhundert zurück schreiben und hierzu ertönen zum x-ten Male die Buchmarktschreie: die Psychoanalyse sei entzaubert! Aktuell ist es Michel Onfray, der mit seinem Buch "Anti-Freud" in Frankreich einen best-seller landete und für gehörige Aufregung sorgte.1 Eine Hasstirade gegen Freud und die Psychoanalyse, die bekannt anmutet. Aber nicht der Inhalt, sondern die Resonanz dieses Pamphlets verlangt nach Aufmerksamkeit.

Eine traurige Konsequenz dieses Getöses ist die Überschwemmung der leisen Töne, der reflexiven Gedanken nach jahre-, jahrzehntelanger Arbeit, die die Psychoanalyse längst nicht mehr auf die klinische Zweierbeziehung beschränkt und auf eine lange Tradition verweisen kann. Ein solch gereiftes Buch liegt nun wieder vor und verschafft dem Leser erstmals einen systematischen Einblick in die Theorie und Praxis einer bestimmten Anwendung der Psychoanalyse jenseits der Couch, von der Onfray und Konsorten keine Ahnung haben: der psychoanalytischen Sozialarbeit.2

Die beiden Autoren, Michael Günter und Georg Bruns, meistern die schwierige Aufgabe ein so breites Feld der Geschichte, der Theorien, der Methoden, der Praxisfelder der psychoanalytischen Sozialarbeit ebenso in klarer Sprache darzustellen, wie durch erklärende Kurzdefinitionen, wichtige Detailinformationen und zahlreiche Fallbeispiele den Band nützlich und lebendig zu gestalten. Günter und Bruns, beide Psychoanalytiker, meiden bewusst und gekonnt die Verführung, jungen, an psychoanalytischer Sozialarbeit Interessierten eine ‚Psychotherapie für Arme’ als berufliche Perspektive in Aussicht zu stellen. Im Gegenteil: beständig wird sensibel auf Grenzen und Gefahren der psychoanalytischen Arbeit im sozialen Feld verwiesen, um eben nicht in eine Therapeutisierung der Sozialarbeit abzugleiten. Es sind andere Schwerpunkte, die sich kontinuierlich durch das Buch ziehen und gerade in der berechtigten Betonung das Spezifische einer psychoanalytischen Sozialarbeit herausarbeiten. Zentral liegt das Hauptaugenmerk auf der Reflexion des Beziehungsgeschehens, der kontinuierlichen Beobachtung der Emotionen sowohl des Klienten als auch des Betreuers; die Durcharbeitung der unbewussten Übertragung und Gegenübertragung, die so häufig einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis menschlicher Beziehung bereit hält. Die Autoren werden nicht müde auf den Unterschied zum klassischen psychoanalytischen Setting hinzuweisen, um die Möglichkeiten in der Begegnung von Alltagssituationen etwa durch das szenische Verstehen deutlich zu machen. In mehreren Kapiteln verweisen sie auf die fruchtbare Ergänzung der psychoanalytischen Sozialarbeit mit anderen Methoden und in diversen Einrichtungen und leisten damit einen unkomplizierten Praxisbezug.

Obwohl im Buch häufig wiederholt, liest sich ein Satz scheinbar beiläufig: "Psychoanalytische Sozialarbeit ist ohne Supervision nicht denkbar." (S. 159; Herv. K.F.) Gerade wenn ich an die Sozialarbeits-Ausbildung denke, muss dieser Satz nochmal betont werden.

Eben für diese Ausbildung haben Michael Günter und Georg Bruns ein wertvolles Einführungsbuch in die psychoanalytische Sozialarbeit verfasst, das in seiner Klarheit, in seiner Themenvielfalt und abwechslungsreichen Problembegegnung als besonders gelungen bewertet werden kann. Einzig die Auswahl der Sekundärliteratur hätte mehr Sorgfalt verdient.

Fast 90 Jahre ist es nun her, dass die amerikanische Sozialarbeiterin Caroline Newton in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Freud und seinen KollegInnen ihre Vorstellungen einer psychoanalytischen Sozialarbeit darlegte und gar eine kurze persönliche Analyse in der Fürsorge-Ausbildung integriert wissen wollte.3 Eine mutige Forderung - bis heute. Die Verbindung von psychoanalytischem Denken und sozialer Arbeit, durch den besonderen Stellenwert der Analyse des Beziehungsgeschehens, hat sich trotz der kontinuierlichen Widerstände als bedeutsames Anwendungsgebiet der Psychoanalyse durchgesetzt. Die hier besprochene, sehr empfehlenswerte Einführung in Praxis, Grundlagen und Methoden der psychoanalytischen Sozialarbeit kann sich in diese Tradition einreihen und wird gewiss noch viele best-seller überleben.


Verweise
1 Onfray, Michel: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. (Albrecht Knaus Verlag) München, 2011. Siehe auch die Erwiderung: Roudinesco, Elisabeth: Doch warum so viel Hass? (Turia & Kant Verlag) Wien, 2011.
2 An dieser Stelle sei auf eine weitere sehr interessante Publikation zum Thema verwiesen: Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hg.): Psychoanalytische Sozialarbeit. Journal für Psychoanalyse Nr. 51. (Seismo-Verlag) Zürich, 2010.
3 Eine biographische Studie über Caroline Newton von Karl Fallend ist geplant als Band 3 der Schriftenreihe zur Geschichte der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung (Hg. Karl Fallend und Klaus Posch). Band 1: Thomas Aichhorn (Hg.) zu August Aichhorn und Band 2: Bernhard Kuschey (Hg.) zu Ernst Federn werden im Herbst 2011 bzw. Frühjahr 2012 (Löcker-Verlag, Wien) veröffentlicht.


Karl Fallend / karl.fallend@fh-joanneum.at