soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 7 (2011) / Rubrik "Werkstatt" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/200/317.pdf


Regina Mikula, Gerald Hubner, Astrid Koreimann:

Jungen und Heimweh


Geschlechtersensible Bildungsarbeit zur Bewältigung emotionaler Probleme von Jungen im Berufsschulinternat


Der vorliegende Beitrag Jungen und Heimweh befasst sich mit einer Thematik, die zum einen für die sozialpädagogische Arbeit in der Praxis und zum anderen auch für pädagogische Theoriebildung in den Sozial- und Bildungswissenschaften bedeutsam ist. Auch wenn gegenwärtig in den Diskursen zu einer geschlechtergerechten bzw. geschlechtersensiblen Bildungsarbeit den Aufwachsbedingungen von männlichen Jugendlichen verstärkte Aufmerksamkeit zu Teil wird, ist doch die Frage nach unterstützenden Umgangsweisen in der Bewältigung von starken Emotionen bei Jungen ein nach wie vor eher unterrepräsentiertes Forschungsfeld. Obwohl Emotionen und deren Interpretationsweisen nicht nur sämtliche Phasen unseres menschlichen Lebens insgesamt mitbestimmen, stellen sie vor allem auch für Jugendliche, die in der Lebenswelt Berufsschulinternat leben und lernen eine spezielle Herausforderung dar. Es erfordert vielfältige Kompetenzen von den BetreuerInnen um diese Anforderungen zu bewältigen, die zum einen ihr Selbstkonzept bezüglich der stereotypen und heterogenen Rollenmuster treffen und zum anderen auf ihre Genderkompetenz im Umgang mit männlichen Jugendlichen abzielen. Eines der Phänomene, die nach Lösungsmöglichkeiten im emotionalen Umgang mit männlichen Jugendlichen drängen und immer wieder virulent in der Betreuungspraxis werden, ist es mögliche Antworten auf die Frage Heimweh - was tun? zu finden.

Den Ausgangspunkt des hier skizzierten Themenbereichs bilden im ersten Kapitel jene fundamentalen geschlechtssegregierten Sozialisationsbedingungen, die als sozialpädagogische Problemlagen auch die emotionalen Bewältigungsmuster von Jungen in unterschiedlicher Intensität beeinflussen. Der Fokus im zweiten Kapitel liegt schwerpunktmäßig bei der konkreten Ausprägung gefühlter Emotionen (z.B. Trauer, Ärger, Angst) und deren Funktion und Bedeutsamkeit in der Pubertät männlicher Jugendlicher. Im dritten Kapitel wird eine begriffliche Klärung des Phänomens Heimweh vorgenommen, deren Hintergrund brauchbare theoretische Ansätze für die pädagogische Betreuungsarbeit in der Praxis bilden. Über konkrete Heimweherfahrungen von Jungen und deren Bewältigungsstrategien berichten wir im vierten Kapitel. Im abschließenden fünften Kapitel werden im Rahmen geschlechtersensibler Bildungsarbeit ausgewählte Aspekte formuliert, um Jungen bei der Bewältigung von Heimweh angemessen zu unterstützen.


1. Gesellschaftstheoretische Erklärungsansätze für emotionssoziologische Erscheinungsformen
Die emotionalen Befindlichkeiten von Jungen, die in einem Berufsschulinternat untergebracht sind, verlangen zum einen die volle Aufmerksamkeit von ihren BetreuerInnen und zum anderen sind sie als mentale Selbstbewältigungsstrategien und verinnerlichte Selbstzwänge der Jugendlichen zu sehen, die in Abhängigkeit gesellschaftlicher Gefühlsregulierung stehen. Abgesehen davon, dass in modernen Gesellschaften Gefühle und emotionale Stimmungen zunehmend in einer gewissen Weise unterdrückt werden, sind Emotionen subjektiv aber auch sozial konstruiert und geformt. Das bedeutet, dass sie stets mit-geformt werden durch gesellschaftliche Regel- und Rahmenbedingungen und durch habitualisierte soziale und kulturelle Muster. Unterschiedlichste Gefühle, Emotionen und Stimmungslagen sind mit Hülshoff (2006) gesprochen "körperlich-seelische Reaktionen, durch die ein Umweltereignis aufgenommen, verarbeitet, klassifiziert und interpretiert" (Hülshoff 2006: 14) wird, wobei immer eine bestimmte Art der Bewertung bzw. Eigeninterpretation stattfindet. Einblicke in ein Jungeninternat zeigen, dass sich die Bewohner in einem besonderen Lebensabschnitt befinden, der unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich in einer Übergangsphase von der Schulbildung zur Berufsausbildung befinden, vielleicht den ersten Liebeskummer erleben, das erste Mal länger von zu Hause entfernt leben, sich plötzlich mit anderen Jungen ein Zimmer teilen müssen u.a.m. Diese komplexe Erlebniswelt stellt für die Jugendlichen einen spannungsgeladenen Erfahrungsraum dar, der für das Gelingen gesellschaftlichen Zusammenlebens von besonderer Bedeutung ist. Da der Ausgangspunkt für die Umgangsweise mit Emotionen in der frühkindlichen Sozialisation stattfindet, soll diese im Folgenden etwas näher betrachtet werden.


1.1 Männliche Sozialisation - widersprüchliche Aufwachsbedingungen von Jungen
Sozialisation ist ein komplexes Gefüge von unterschiedlichen Wechselwirkungen menschlichen Verhaltens und den strukturellen kulturellen Bedingungen, die es Heranwachsenden ermöglichen, die in der Gesellschaft vorherrschenden sozialen wie kulturellen Werte und Normen zu übernehmen oder diese eben abzulehnen. Bereits in der frühen Kindheit - das wissen wir aus unterschiedlichsten Studien zur männlichen Sozialisation (vgl. Böhnisch 2005) - sind Jungen in anderer Weise als Mädchen von stereotypen Rollenzuschreibungen und den damit verbundenen sozialen Erwartungen konfrontiert, die die Jugendlichen auf ihrem weiteren Lebensweg entscheidend prägen und beeinflussen. Wir erkennen in der Lebensweise, den Handlungsfeldern und den entsprechenden Ausdrucksweisen von Jungen vielfältige Formationen ihr soziales Geschlecht - gender - auszudrücken. Nach Zimmermann (2006) hat "[k]ein anderes Merkmal (...) so grundsätzliche Auswirkungen auf die Sozialisation wie die Geschlechtszugehörigkeit. In allen Gesellschaften werden die Neugeborenen der einen oder der anderen Geschlechtsgruppe zugeordnet, nicht zuletzt durch die biologische Verfasstheit, aber auch über die Verleihung eines an das Geschlecht gebundenen spezifischen sozialen Etiketts: Mädchen-Junge, männlich-weiblich, er-sie" (Zimmermann 2006: 176). Wie aber sieht nun das spezielle Etikett aus, mit dem Jungen heute gesellschaftlich konfrontiert und damit sozialisiert werden?

Die Rolle der Jungen in der postmodernen westlichen Gesellschaft ist - im Gegensatz zu jener der Mädchen - von anderen Erwartungen und Zuschreibungen normiert und unterliegt geschlechtsspezifischen Handlungsanweisungen und -praktiken. Das sogenannte Männliche wird in der westlichen Kultur als das Dominante dargestellt, dem sogenannten Weiblichen wird demgegenüber eine untergeordnete Rolle zugeordnet. Durch eine gesellschaftliche Überbewertung werden an Jungen enorme Erwartungen und Ansprüche auch in Bezug auf die Verarbeitung von Emotionen herangetragen. Jungen dürfen nach allgemeinen Alltagsvorstellungen beispielsweise keine Angst und Schwächen zeigen, zumindest öffentlich nicht und werden so in die Lage gedrängt, bestimmte Gefühle zu kontrollieren oder andere - wie Trauer etwa - verschlossen zu halten, kurz: dem Bild des fiktiven Helden (z.B. Superman, Spiderman, Feuerwehrmann) zu entsprechen. Durch diese und ähnliche Erwartungen wird ein "männliches Idealverhalten" (Auinger 2002: 30) gewünscht und gefordert, was für Jungen nicht selten zu einer Überforderung in ihrer gesellschaftlichen Rollenanpassung führt. Auch wenn das Identitätsverständnis vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen zunehmend fragwürdig geworden ist, so zeigt sich in der Prozesshaftigkeit der Subjektivitätsbildung von Jungen, dass sie nach wie vor in diskursiven Praktiken die gesellschaftlichen Rollenmodelle zu übernehmen versuchen. Mit anderen Worten: Obwohl die Herstellung von Subjektivität widersprüchlich, offen, instabil und situativ veränderlich ist, existiert eine konstitutive Abhängigkeit von gesellschaftlich normierten Rollenkonzepten. Die Suche nach der passenden Identität stellt eine entscheidende Entwicklungsphase im Übergang zum Erwachsenwerden dar und erfordert so betrachtet eine enorme Integrationsleistung jenseits stigmatisierender Effekte und normierender Identitätsmodelle.


1.2 Relevante Kontexte in der Entwicklung vom Jungen zum Mann: Peer-groups und die Abwesenheit der Väter
Folgen wir der Perspektive der machtvollen Konstruktionsprozesse im Verlauf der männlichen Sozialisation, so stellt gerade die Entwicklung von Jungen in der Gruppe der Gleichaltrigen (peergroup) einen entscheidenden Sozialisationsfaktor dar. Die männlichen Individuen agieren in der peergroup nicht mit vorgefertigten und geschlossenen Subjektvorstellungen, sondern werden mit Bedeutungen und Bemühungen anderer Gleichgesinnter konfrontiert, die sich allesamt auch als kollektives Subjekt in ihren Lebensverhältnissen handelnd erleben und somit ihre Geschlechterbilder konstruieren. In homogenen Geschlechtergruppen sind Jungen zum ersten Mal sozusagen nur unter Männern und werden so in die Lage versetzt, im Kraftfeld der Gesellschaftsordnung ihre Subjektposition an den männlichen Verhaltensmustern und Formen der Gestaltung von sex und gender zu orientieren. Ständig findet in diesen soziohomogenen Gruppen ein Ringen um Bestätigung, Machtbeziehungen, Neuordnungen u.a.m. statt. Prägend für die Durchsetzungskraft der Norm und Ausgestaltung der eigenen Formen in der Rolle als Mann ist dabei das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die geschlechtstypische Dynamik solcher Jugendgruppen ist laut Böhnisch (2004) unter anderem vom Mechanismus der Abwertung, der Idolisierung und Hegemonialisierung geprägt.

Will das Männliche Ausdruck und entsprechende Kontur gewinnen, dann wird dies über Gespräche, Kommunikationsformen, Habitus u.a.m. sichtbar. Um männlich zu sein, da zeigen sich unter anderem die Quellen der Macht, muss über Fußball und Autos Bescheid gewusst werden. Wer allerdings bei solchen Themen nicht mitreden kann oder will, setzt sich der Kritik und des Widerstandes aus; nicht selten wird dies mit Ausgrenzung bestraft. Im Kontext des Sich-Erfahrens spielt der Faktor Anerkennung im Kollektiv eine große Rolle. Das männliche Subjekt wird im Sinne der Sozialisation also formiert durch die Begegnung mit den anderen und die anderen werden ebenso transformiert durch die subjektive Begegnung. Jungen zeigen Risikoverhalten beispielsweise gegen sich selbst und eher nach außen (z.B. Alkoholmissbrauch, Raufhandel), Mädchen hingegen häufiger eher nach innen (z.B. Magersucht, Medikamentenkonsum). Sowohl eine Identifikation mit dem in der Gruppe als männlich anerkanntem Verhalten als auch eine Verweigerung der hegemonial wirkenden Rollen birgt Gefahren in sich. Sowohl eine Reflexion und Entlarvung von Normen seitens der Jugendlichen als auch die Verweigerung gegen die eigene Assimilation und Normalisierung bedeutet noch nicht, über alternative Geschlechterkonstruktionen zu verfügen. Gerade an diesen Punkten der Verunsicherung stellt sich die Frage, wie Jungen mit Heimweh umgehen.

Angesichts der Turbulenzen gesellschaftlicher Veränderungen, die sich nicht zuletzt auf die unzulängliche Zuschreibung von weiblichen und männlichen Eigenschaften verengen, spielen vor allem auch Veränderungen in den gewählten und gelebten Lebensformen und in der Arbeitswelt eine zunehmend bedeutende Rolle. Parallel dazu sind Auswirkungen zu erkennen, die sich in der An- bzw. Abwesenheit der Väter widerspiegeln. Empirischen Ergebnissen folgend, fehlt Jungen immer öfter eine männliche Bezugsperson mit all ihren positiven Kompetenzen, aber auch Schwächen. Traditionellerweise ist beim Erwachsensein meist beides getrennt - Stärke und Schwäche - und jeweils dem Männlichen bzw. dem Weiblichen zugeordnet. Es ist dann nicht selten so, dass, wer weiblich sein will, sich Stärke und Kraft nicht zugestehen kann und wer männlich sein will, sich keine Schwäche erlauben darf. Übersehen wird allerdings in diesem Geschlechtersystem, dass Stärke und Schwäche als unterschiedliche Bestandteile des Selbst aufgefasst werden können (vgl. Bilden 2001: 143). Es geht dann zum Beispiel darum, die Differenz dieser beiden Qualitäten zu überwinden, das Paradox der gleichzeitigen Annahme zu verfolgen. Nach Bilden geht es darum, "die unterschiedlichen Bestandteile des Selbst zu Wort kommen zu lassen, sie spielen zu lassen. Dann eröffnen sich die Möglichkeiten und Freuden der Geschlechtervielfalt" (Bilden 2001: 142). Genau diese "Zurichtung" bringt Jungen enorm unter Druck. Es ist ein gesellschaftliche Druck aber auch einer, der in der Gleichaltrigengruppe erfahrbar wird. Hier liegt die Möglichkeit der Überschreitung von Grenzen, der Anerkennung des emotionalen Ausdrucks. Das hieße: Jungen eine Art von Männlich-Sein zu ermöglichen, in der etwa der Ausdruck ihrer emotionalen Befindlichkeit - allerdings nicht nur von Aggression und Wut, sondern vielmehr auch von Trauer, Sorge, Angst und Heimweh - eine Selbstverständlichkeit wird.


2. Gelernte Gefühle und die grundlegende Schwierigkeit im Umgang mit Emotionen
Ein in der aktuellen Männerforschung vernachlässigtes Feld ist jenes der emotionalen Innenwelt von männlichen Jugendlichen, obwohl Mann-Sein - wie Böhnisch es ausdrückt - ein emotionaler Zustand ist, in dem sich das Anthropologische und das Soziale der Männlichkeit in Bewusstseinsformen verbinden (vgl. Böhnisch 1993: 21). Bei einem menschlichen Gefühl wirken demgemäß die innere Verfassung, die äußere Situation, die Persönlichkeitsstruktur und die Lebensgeschichte der Person sowie kulturelle Einflüsse unmittelbar zusammen. Das bedeutet, dass Jungen im Verlauf des Sozialisationsprozesses auch Regeln für die Ausdrucksweise von Gefühlen erlernen, die dann sozusagen als Emotionsregeln vorgeben, was in einer Gesellschaft überhaupt gefühlt bzw. als Gefühl zum Ausdruck gebracht werden darf. Diese feeling rules (vgl. Westphal 2003: 24) beeinflussen die Jungen in ihrem Gefühlsausdruck und geben gleichzeitig Anweisungen, die im Sinne von eindeutigen Instruktionen wirken, wie jeweils welche emotionalen Äußerungen in der gesellschaftlichen Praxis anerkannt oder eher abgewertet werden. Damit ist für Jungen ein geschlechtsspezifisches Gefühlsrepertoire vorgesehen. Dies bedingt eine unterschiedliche Herangehensweise, wenn sie etwa beispielsweise Gefühle der Angst, des Ärgers und der gefühlten Stimmungslage bei Heimweh zeigen. Nicht selten wird Heimweh als eine Art von Schwäche in der Peergroup geahndet, anders stellt es sich dar, wenn Betreuer Offenheit und Verständnis signalisieren. Bloß die Thematisierung von Heimweh gegenüber Betreuern stellt schon eine Möglichkeit dar, das Heimwehempfinden abzuschwächen (vgl. Hubner 2009: 40).


2.1 Umgang mit den Formen der Angst: Höhenangst ja - Angst vor dem Zahnarzt eher nein!
Gerade beim Ausdruck von inneren Ängsten haben es die Jungen im Vergleich zu den Mädchen etwas schwerer, da sie gerade in heterosozialen Räumen auf ihre Identität als das starke Geschlecht zurückverwiesen werden - Angstsymptome gelten dann nicht als besonders männlich - wobei homosoziale Räume hier eher eine Art Schutzraum darstellen, in dem die physische Überlegenheit in der Peergroup nicht als so zentral erlebt wird (vgl. Boldt 2004: 16ff.). Die Emotion Angst ist - wie verschiedene Studien zeigen (vgl. Hubner 2009) - der am häufigsten genannte Faktor, der die Befindlichkeit und das Wohlfühlen im Internat bestimmen. Das bedeutet, dass Anpassungsstörungen existieren, die sich häufig in einer ängstlichen Grundstimmung ausdrücken. So entsteht aus diesem ein soziales Angstverhalten, wofür das sonst vorherrschende männliche Konkurrenzprinzip nicht taugt und daher das Ausdrücken von persönlichen Stimmungen erschwert. Jungen stehen offensichtlich dem strukturellen Ausgesetztsein und ihren unterschiedlichen Facetten manchmal ziemlich hilflos gegenüber. Dies zeigt das Beispiel der Zimmereinteilung in Internaten - die erfolgt zunächst einmal grundsätzlich willkürlich. Treten im Verlauf des Zusammenlebens Spannungen auf, so können Schüler zwar das Zimmer wechseln, die Äußerung dieses Wunsches verlangt allerdings den Mut sich zu outen, was wiederum nicht selten von den anderen Jungen als Schwäche sanktioniert wird. Und vor dieser Infragestellung, die mit dem Absprechen von Männlichkeit im sozialen Rahmen verbunden ist, haben Jungen Angst sich mit fünf bis sechs Schülern ein Zimmer zu teilen, indem unterschiedliche Charaktere eine vorübergehende befriedigende Lebensweise finden müssen. Diese Herausforderung/Situation führt folglich unweigerlich zu Spannungen, die als Hilflosigkeit erlebt werden. Das zeigt sich auch bereits bei der Anreise ins Internat. Von den Vätern, die die Jungen meist ins Internat bringen, wird öffentlich versucht, die Gefühle aus dieser Umbruchsituation möglichst herauszuhalten. Mit den Worten Bleib stark, was so viel bedeutet wie Zeig keine authentische Gefühlsqualität, werden sie von ihren persönlichen Formen des Fühlens als Bewältigungsmöglichkeit direkt und eindringlich abgehalten. In Interviews mit Bewohnern eines Berufsschulinternats wird deutlich, wie schwer die Angst vor dem Versagen wiegt. Das bezieht sich auch auf ein authentisches Bekenntnis Heimweh zu haben. Dies wird allerding nicht offen eingestanden, denn die Stigmatisierung womöglich als Versager oder Schwächling zu gelten, hält sie vernünftigerweise davon ab.


2.2 Trauer - keine zugeschriebenen männlichen Emotionen?
Es ist nicht zu übersehen, dass die Aneignung der Gefühlswelt in geschlechtstypischer unterschiedlicher Weise erfolgt. Das gilt im Besonderen für den Umgang mit Trauer. Gerade bei Jugendlichen, die sich in einer Umbruchs- und Übergangsphase befinden, wird beispielsweise der Verlust eines nahestehenden Menschen oder gar eines Mitschülers als besonders problematisch und krisenreich wahrgenommen, da der sprachliche Ausdruck oft fehlt und so Kummer oder Trauer nicht selten zu einer Niedergeschlagenheit bis hin zu schweren Depression führen. Gerade für männliche Jugendliche, die im Internat leben und nicht in direktem Kontakt zu ihren Eltern oder Erziehungsberechtigen stehen, ist der Erzieher bzw. die Erzieherin in den meisten Fällen der erste und wichtige Bezugspunkt. Im Umgang mit dieser einschneidenden schmerzvollen Erfahrung helfen auch der Kontakt zu den Zimmerkollegen nicht in der Weise, da die Freundschaftsbeziehungen in den ersten Wochen im Berufsschulinternat noch nicht derart gefestigt sind, dass eine persönliche Betroffenheit offen zum Ausdruck gebracht wird. Ein Hauptgrund scheint hier darin zu liegen, dass Jungen Sorge davor haben, als "nicht stark" genug ausgegrenzt zu werden. Lieber entscheiden sie sich für ein sogenanntes "underachievement", das sich durch eine distanzierte Haltung den eigenen Gefühlen gegenüber oder durch besonders hohes Aggressionspotenzial äußert (vgl. Budde 2009: 77). Solche Probleme haben auch Auswirkungen auf die schulischen Leistungen sowie auf den Umgang mit Heimweh. Da ein beträchtlicher Teil der Jungen im Berufsschulinternat eine eher verletzliche Konstitution aufweisen, ist seitens der BetreuerInnen besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität im Umgang mit trauriger Verstimmtheit gefordert. Viele Jungen, die sich im Berufsschulinternat befinden, müssen die Trennung von ihrer Eltern oder ihren Freunden und Freundinnen verarbeiten. Gelingt dieser Verarbeitungsprozess nur ungenügend, dann ist sozusagen der fruchtbare Boden für Heimweh bestellt. Wichtig ist in dieser Zeit die Gestaltung einer Beziehungskultur mit wertschätzender Haltung und offener Sorge um die Anliegen der Jungen, damit Ansprechpersonen ihnen bei dieser emotionalen Anforderung behilflich sind. Eine aus der Geschlechterperspektive sinnvolle Herangehensweise liegt unserer Ansicht in der Ent-Dramatisierung von Geschlechterdifferenzen und der damit einhergehenden Abwendung von Stereotypen mit dem Ziel der Schaffung von Anerkennungsräumen für den Umgang und Ausdruck menschlicher Gefühle. Die homosoziale Gruppe ist aber nur scheinbar homogen, denn auch innerhalb einer Geschlechtergruppe ist die Diversität der Individuen vielfältig. Auf der Basis eines wertschätzenden Klimas ist dann möglich, jene Jungen, die große Selbstunsicherheit zeigen, derart zu unterstützen, damit sie eine alternative Praxis abseits vom tradierten männlichem Habitus entwickeln können.


3. Heimweh - eine jungenspezifische Herausforderung
Heimweh ist ein Phänomen, das in vielen Kulturen existiert. Es beschreibt generell die psychischen Erfahrungen, die in bestimmten Fällen mit einem Ortswechsel verbunden sind. Besonders bedeutungsvoll ist das Wort für Situationen, in denen eine Person ihr Zuhause - und das heißt auch die Familie, FreundInnen und Bekannte - zumindest zeitweise verlässt, um sich in einer neuen Umgebung niederzulassen. Interessanterweise trifft es besonders junge Menschen, die ihr Elternhaus verlassen (müssen), um zum Beispiel eine bestimmte Ausbildungseinrichtung zu besuchen oder aber beruflich an einem anderen Ort Fuß zu fassen (vgl. Fisher 1991: 24).

Jugendliche, die Symptome von Heimweh aufweisen, leben in ihrer Vorstellung noch in ihrer früheren Umgebung und können daher nur schwer Anpassungsleistungen vollziehen, damit sie sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden. Ein Heraustreten aus einer gewohnten und vertrauten Umgebung löst offensichtlich Verunsicherung und damit verbunden Stress aus, die sowohl die körperliche Verfasstheit (sprich Gesundheit) betreffen können als auch die Leistungsfähigkeit in der Schule im Sinne eines Nachlassens der Leistungsbereitschaft. Zudem belegen Daten, dass der Übergang von einer gewohnten Umgebung in eine fremde Umgebung bei vielen Betroffenen zu einer erhöhten Depressionsneigung führt. Gerade bei Jugendlichen, die psychisch noch nicht so gefestigt sind und zum ersten Mal in ihrem Leben längere Zeit von zu Hause entfernt leben, können durch eine Trennung von Elternhaus und Freundeskreis ausschlaggebende Reaktionen hervorgerufen werden, die nahezu immer mit Ängstlichkeit bzw. starken Angstsymptomen auftreten (vgl. Fisher 1991). Gefühle von Heimweh werden so gesehen wesentlich von Angstsymptomen begleitet.

In der Literatur (vgl. Fisher 1991) existieren verschiedene Erklärungsmodelle für das Auftreten von Heimweh. Die Unterbrechungstheorie geht beispielsweise von erhöhter Angst aus und zwar, weil die Personen durch eine überaus starke gedankliche Beschäftigung mit der vertrauten Umgebung nicht die Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt aufbringen können. Die Kontrolltheorie erklärt den Übergang von der alten in die neue Umgebung als eine Phase des Kontrollverlustes. Dies bezieht sich auf vertraute Gespräche, das gewohnte Essen, das vertraute Bett, die erworbenen Handlungsmuster u.a.m. Das Rollenmodell geht davon aus, dass der Übergang von einer Umgebung in eine andere unweigerlich zur Veränderung der sozialen Rolle führt; diese muss aber erst neu erworben und eingeübt werden, und das braucht Zeit. Im Konfliktmodell konkurriert die neue Herausforderung mit dem Wunsch, wieder in die sichere Umgebung zurückkehren zu wollen. Das Verlustmodell geht demgegenüber davon aus, dass heimwehkranke Jugendliche in gewisser Hinsicht trauernde Menschen sind, die unter akuter Angst und Panik leiden, weil ihnen der direkte Kontakt zur vertrauten Umgebung weitgehend fehlt (vgl. Fisher 1991). All diese Modelle sind theoretische Erklärungsversuche von Heimweh. Sie verweisen einerseits auf komplexe Wirkungsweisen der entscheidenden Kräfte und situative wie kommunikative als auch soziale Bedingungen und andererseits auf mögliche Handlungsmuster zur Bewältigung von Heimweh. Im Folgenden skizzieren wir einige zentrale Ergebnisse aus einer Studie (vgl. Hubner 2009), die sich mit der Theorie und Praxis der Heimweherfahrungen von männlichen Jugendlichen in einem Berufsschulinternat beschäftigt.


4. Forschungsergebnisse zur Heimweherfahrung von Jungen im Internat
Wenn Kinder und Jugendliche als Akteure ihrer Lebenswelt untersucht werden, dann gehören für Jungen auch die Vorstellungen dazu, was es bedeutet ein Junge zu sein. Hier zeigt sich auch, welche Interaktionsformen in Bezug zu Heimweherfahrungen möglich sind und in welcher Form Heimweh als emotionales Phänomen inszeniert und verarbeitet wird. Die im Folgenden skizzierten Merkmale lassen sich alle als Formen der Herstellung des Jungenseins interpretieren. Das bedeutet auch, dass die Umgangsweise mit Heimweh sehr stark davon abhängt, wie die Gleichaltrigen diese emotionale Verstimmung beurteilen, akzeptieren oder als der Rolle unangepasst ablehnen oder aber auch ignorieren.

Vorweg sei gesagt, dass jeder der Schüler des untersuchten Berufsschulinternats im Verlauf seines Internatsaufenthaltes vier Mal für ca. 10 Wochen die Berufsschule besucht.

Wer als Junge schon einmal das Elternhaus verlassen hat, um eine Bildungseinrichtung oder Ähnliches zu besuchen, leidet seltener unter Heimweh als ein Junge, der zum ersten Mal alleine von zu Hause fort ist. Das ist auch im Berufsschulinternat ganz deutlich zu beobachten. Für viele Jungen ist Heimweh ein Schlüsselerlebnis, das im Berufsschulinternat auftritt, weil sie zum ersten Mal für längere Zeit von zu Hause weg sind. Gedanklich fühlen sie sich allerdings sehr mit ihrer Herkunftsumgebung verbunden, und real erfahren sie sich in einer fremden Umgebung. Es fehlen in dieser ersten Phase adäquate Umgangsweisen mit dieser räumlichen Distanz einerseits und emotionalen Nähe andererseits. Interessant ist, dass bereits beim zweiten Besuch zu Hause das Gefühl von Heimweh sich merklich verringert. Zudem haben die Beobachtungen gezeigt, dass Heimwehgefühle während des Tages kaum auftreten, am Morgen gelegentlich. Am stärksten sind die Gefühle am frühen Abend, nach dem Unterricht zwischen 16.00 und 17.00 Uhr. Generell konnte festgestellt werden, dass die Gefühle von Heimweh hauptsächlich in passiven Phasen und während kognitiver Tätigkeiten auftreten, weniger während körperlicher Betätigungen wie etwa beim Sport. Verstärkt wird das Auftreten noch bei Jungen, die über lose oder wenige soziale Kontakte verfügen. Die theoretische Perspektive des Verlustmodells ist offensichtlich ein tragendes Erklärungsmodell um die grundlegenden Wurzeln der Heimweherfahrungen in der Praxis zu benennen. Beim Verlust geht es erstens um den Verlust von geliebten Person (z.B. Eltern, Großeltern, Freundin, Freund), zweitens um den Verlust der vertrauten örtlichen Umgebung (z.B. Haus, Zimmer, Schulweg, Discotreff) und/oder drittens um den Verlust eines lieb gewonnenen Objekts (z.B. eigenes Bett) oder aber auch um das Fehlen eines vertrauten Tieres (z.B. Katze, Hund). Bei Schülern, die ins Internat kommen, treten diese verschiedenen Arten des Verlusts manchmal gleichzeitig auf. Die geographische Distanz stellt, wie unsere Studie zeigt, einen entscheidenden Faktor für die Entstehung von Heimweh dar: Je weiter der fremde Aufenthaltsort von Zuhause entfernt ist, desto stärker treten Gefühle von Heimweh auf.

Obwohl kein geschlechtsspezifischer Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in der Reaktionsweise bei Heimweherfahrungen erkennbar ist, geht Fisher davon aus, dass Mädchen interessanterweise Heimweh eher am Abend zeigen, Jungen hingegen weisen eher in den Morgenstunden Symptome von Heimweh auf (vgl. Fisher 1991: 74). Die Ergebnisse unserer Studie belegen diese Differenz nur zum Teil. Ein Ergebnis ist interessant, nämlich dass die Position in der Geschwisterreihe sowie die Anzahl der Geschwister als auch die harmonische Beziehung zwischen den Elternteilen oder aber auch der Verlust eines Elternteils (z.B. durch Tod oder Scheidung) offensichtlich keine signifikanten Auswirkungen auf Gefühle von Heimweh haben. Auch wenn Geschwister das gleiche Internat besuchen, heißt das noch nicht, dass die Jugendlichen von Heimweh sozusagen verschont bleiben. Im Gegenteil, es kann sogar - durch gemeinsames Erleiden dieses Gefühlskomplexes - dazu kommen, dass sich die Empfindung von Heimweh verstärkt. Auffallend ist jedoch, dass Jugendliche, deren Brüder schon das gleiche Berufsschulinternat besucht haben, weniger unter Heimweh leiden. Eine Erklärungsmöglichkeit ist, dass durch die Erfahrungen und Erzählungen des Bruders dem betroffenen Jugendlichen bereits im Vorfeld bedeutsame Informationen vorliegen, die zu einer Reduktion der Angst führen und damit auch das Kraftpotenzial von Heimweh reduziert wird.

Jungen, die Heimweherfahrungen machen, können prinzipiell geteilt werden in Gruppen mit "episodischen Heimweherfahrungen" (60-70 Prozent) und Gruppen mit ständigem Heimweh (10-15 Prozent). Episodisches Heimweh scheint kontrollierbar zu sein, da die Heimwehphasen vorwiegend in passiven Momenten, in langweiligen Unterrichtsstunden oder während ungerichteter geistiger Aktivitäten aufzutreten scheinen (vgl. Fisher 1991). Diverse Aktivitäten im Schulalltag lindern das Heimweh also zumindest teilweise. Diese Feststellung ist für die Bewältigung von Heimweh von großer Bedeutung, da es hilfreich erscheint, Schüler aktiv zu beschäftigen sowie ihren Einsatz und ihr Engagement zu fördern. Bei passiven Jugendlichen, die unter starkem Heimweh leiden, ist auch zu beobachten, dass sie sich schwerer in ihrer neuen Umgebung zu Recht finden und auch weniger Engagement bei gemeinsamen Aktivitäten zeigen und sich so das Gefühl von Heimweh noch weiter verstärkt.

Erfahrungen aus dem Berufsschulinternat zeigen zudem, dass Heimweh gelindert werden kann, wenn Jugendliche zum Beispiel einmal in der Woche eine Nacht zu Hause verbringen. Auch das Gefühl mobil zu sein, also mit dem Auto oder Moped das Berufsschulinternat verlassen zu können, schwächt die Heimweherfahrungen, da die Jungen das Gefühl haben, nicht im Internat festzusitzen. Beobachtbar ist auch, dass es nur scheinbar kleine Dinge sind, welche die Gedanken an das Zuhause hervorrufen. Das kann ein Mittagessen sein, das nicht schmeckt, genauso wie bislang vertraute Rituale zu bestimmten Zeiten, wie etwa Radio hören, die verboten sind.

Ein zentraler Punkt bei der Entstehung von Heimweh ist, dass die Jungen, die das erste Mal ins Berufsschulinternat kommen, keine vertrauten GesprächspartnerInnen haben. Die Zimmerkollegen sind ihnen genauso fremd wie das gesamte Umfeld. Somit bleibt ihnen meist nur der Anruf bei den Eltern oder Freunden, um mit ihnen ihre aktuellen Lebenserfahrungen und die damit verbundenen Befindlichkeiten zu besprechen. Das ist aber genau der Punkt, wo das Heimweh bereits beginnt intensiver zu werden, und relativ schnell befinden sich die Bewohner in einem gefährlichen Kreislauf, aus dem sie nur sehr schwer wieder einen Ausweg finden. Besonders wenn Eltern am Beginn der Internatszeit versprechen, ihre Söhne bald wieder abzuholen, leiden diese umso öfter unter Heimweh. Es scheint, als würden diese Jugendlichen relativ leicht aufgeben. Sie finden sich offensichtlich in der neuen Umgebung nicht selbstständig zurecht. Eine Möglichkeit, Jungen hier professionell zu unterstützen liegt darin, diese emotionale Gefühlslage ernst zu nehmen, ihnen die volle Aufmerksamkeit dafür zu schenken. Ihre Sorgen und Nöte müssen ernst genommen werden und eine emotionale Beziehung ist zu kreieren, damit sie auf der Basis eines Vertrauensverhältnis in die Lage versetzt werden, mit dieser Gefühlsqualität umzugehen.


5. Geschlechtersensible Bildungsarbeit als Bewältigungsstrategien bei Heimweherfahrungen
BetreuerInnen, die in einem Berufsschulinternat für Jungen arbeiten, sind bei dieser emotionalen Problematik in dreierlei Hinsicht pädagogisch herausgefordert: Zum Ersten geht es darum, die Selbstverständlichkeiten in der traditionellen Geschlechterrolle zu reflektieren. Zum Zweiten sind darauf aufbauend damit verbundene Unsicherheiten und Orientierungsbedürfnisse zu erkennen. Und zum Dritten ist daraus eine geschlechtersensible Jungenarbeit zu entwickeln, die die von Heimweh betroffenen Jungen unterstützen, entsprechende Bewältigungsmuster zu entwickeln. Abschließend werden nun punktuell einige wesentliche Aspekte einer geschlechtersensiblen Bildungsarbeit benannt, die sowohl als konzeptioneller Entscheidungsrahmen als auch als methodische Arrangements für die pädagogische Praxis nützlich sind.


5.1 Geschlechtssensible Erziehung
Der Tatsache, dass Jungen von negativen Sanktionen betroffen sind, wenn sie Gefühle von Trauer und Heimweh zeigen, verleiht der geschlechtersensiblen Bildungsarbeit ihren Kern. Die Praxis zeigt, dass Jungen häufig versuchen das Gefühl von Heimweh zu unterdrücken, da sie sonst in der Gemeinschaft als weinerlich oder Muttersöhnchen abgestempelt werden. Diese Form der Anerkennung durch einen entsprechenden männlichen Habitus ist im Rahmen einer geschlechtersensiblen Bildungsarbeit zu reflektieren. Durch die geschulte Wahrnehmungs- und Deutungskompetenzen der Betreuer können alternative Habitusformen entwickelt werden, die jenseits der traditionellen Geschlechternorm liegen.


5.2 Wohlfühlen im Internat
Voraussetzung für geschlechtersensible Bildungsarbeit, die dazu beiträgt Heimweh zumindest zu lindern ist, dass sich die Jugendlichen im Internat wohlfühlen. Das bedeutet, eine soziale Atmosphäre zu schaffen, in der Verunsicherungen thematisiert aber nicht stigmatisiert werden. Wenn ein Gefühl von Zugehörigkeit und von Gemeinschaftlichkeit unter Berücksichtigung der individuellen Vorlieben und Schwächen entstehen kann, dann stellt dies einen zentralen Faktor bzw. eine wichtige Ressource bei der Bewältigung des Lebensalltages im Internat dar.


5.3 Vertraute Dinge/Anruf zu Hause
Schüler, die an Heimweh leiden, sollten vertraute Dinge von zu Hause mitnehmen. Das könnte ein Stofftier oder ein Foto von zu Hause sein, was allerdings vielen Schülern schwer fällt, weil sie Angst vor Abwertung fürchten. Gerade das sind Beispiele, an denen das gesellschaftlich tradierte Rollenbild reflektiert, revidiert und neukonstruiert werden muss. Zudem zeigt sich in der Praxis, dass neben vertrauten Gegenständen ein regelmäßiger Kontakt - durch Anrufe nach Hause etwa - sich positiv auf das Sozialklima im Internat auswirken.


5.4 Gemeinsame Aktivitäten
Für das Gelingen des Zusammenlebens jenseits von Heimweh ist es auch bedeutsam, dass die Zimmerkollegen miteinander gemeinsame Aktivitäten entwickeln, die ihnen Freude bereiten. Die Aufgabe der betreuenden Personen ist es, kongruente Interessen herauszufiltern und entsprechende Angebote zu setzen, wie etwa gemeinsame Kegelabende, Kinobesuche, Fußball-, Tischtennisturniere u.a.m. In diesem Zusammenhang spielt auch das Angebot an sportlichen Freizeitaktivitäten eine entscheidende Rolle. Je vielfältiger das Angebot gestaltet ist, desto eher finden Jugendliche Möglichkeiten zur Entfaltung. In der Praxis trägt die Ermutigung, sich zu alternative Aktivitäten zu beteiligen insofern Früchte, als Jungen dadurch auch oftmals ungeahnte Fähigkeiten und Freuden erkennen. Gelingt es dann auf der Basis gemeinsamer Aktivitäten entsprechende Freundschaften zu schließen, so sind Potenziale vorhanden, die das Entstehen von Heimweh zumindest deutlich reduzieren.


5.5 Zuwendung/Orientierung an Konzepten von Männlichkeit
Aber nicht nur Aktivitäten sind im Lebensalltag eines Internats zu forcieren, sondern auch die emotionale Zuwendung, der Fokus auf aufmerksame Gespräche und Angebote zur Bildung von Freundschaften. Männliche Betreuer können gerade in dieser Entwicklungsphase (z.B. Berufsorientierung) entsprechende Ansprechpartner darstellen, in der es oft auch um Entscheidungen in Bezug auf individuelle Ausbildungs- und Berufspläne geht. Für Jungen ist es außerordentlich hilfreich, dass sie von männlichen Betreuern - die beispielsweise auch aus ihren persönlichen Erfahrungen berichten - auf dem Weg zum Erwachsenwerden vorbildlich begleitet werden.


5.6 Achtsamer Umgang mit sich selbst und anderen
Beziehungen erfordern Aufmerksamkeit, und das Zusammenleben im Internat fordert Achtsamkeit. Gefühle und Reaktionen des Gegenübers müssen beachtet werden, was nur bei entsprechender Selbstachtung gelingt. Schüler im Internat müssen lernen ihre Gefühle richtig zu deuten und unter Kontrolle zu behalten, um mit Konflikten besser umgehen zu können. Mit anderen Jungen ein Zimmer zu teilen bedeutet, dass auch mit Widerständen und Konflikten zu rechnen ist. Es ist wichtig einen Konsens zu finden, sich auszudrücken, um etwas zu bitten, aber auch mit klaren Grenzen umgehen zu können. Von den Betreuern erfordert dies ein gewisses Maß an Engagement und Gelassenheit, Unterstützung und gleichzeitig die Setzung klarer Regeln, eine Aufmerksamkeit für die Sache und Empathie sowie Achtsamkeit im Umgang mit den Jungen. Lernen an den Vorbildern bedeutet, dass sich auch die Fähigkeiten sich zu entspannen, belastende Situationen zu bewältigen und mit schwierigen emotionalen Befindlichkeiten - wie auch Heimweh - umzugehen, erlernt werden können.


Das Phänomen Heimweh stellt für männliche Jungendliche, die in ein Berufsschulinternat kommen, eine emotionale Herausforderung dar und bedeutet nicht selten eine seelische Belastung. Eine adäquate Umgangsweise seitens der zu betreuenden Personen zu finden ist eine enorme Anforderung und erfordert professionelle pädagogische Kompetenz auf höchstem Niveau. Die Bezugnahme auf die Heimwehproblematik erfordert - wie deutlich geworden ist - auch eine entsprechende Bezugnahme auf das soziale Geschlecht. Aus diesem Grund ist eine geschlechtsspezifische Betrachtung von Heimweh in der Sozialpädagogik im Allgemeinen und der Jungenforschung im Besonderen unerlässlich.


Literatur
Auinger, Hannes (2002): Männliche Sozialisation und geschlechtsspezifische Arbeit mit Burschen - zwischen Theorie und Praxis, ein Handbuch zur Jugendarbeit. Wien: Verein Wiener Jugendzentren.
Budde, Jürgen (2003): Perspektiven für Jungenforschung an Schulen. In: Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hrsg.)(2009): Jungenforschung empirisch. Wiesbaden: VS Verlag, S. 73-89.
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Über die AutorInnen

Ao.Univ.-Profin. Maga. Drin. Regina Mikula, Jg. 1959
regina.mikula@uni-graz.at
Studium der Pädagogik an der Karl-Franzens Universität Graz und der Universität für Bildungswissenschaft in Klagenfurt. Außeruniversitäre Ausbildungen in Systemtheorie II. Ordnung und als Reteaming-Coach (Mitglied der European Reteaming Society; Helsinki). Lehrt und forscht am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft im Arbeitsbereich Angewandte Lernweltforschung. Arbeitsschwerpunkte: Lernen und veränderte Lernwelten, Soziales Kapital, Biografie und Lebenswelt, Systemtheorien und Konstruktivismus, feministische Bildungstheorien u.a. In außeruniversitären Einrichtungen lehrt sie z.B. Systemische Pädagogik, Hochschuldidaktik, Biografiearbeit, Organisations-management und wissenschaftliche Textproduktion.

Cand. Bakk.phil. Gerald Hubner, Jg. 1969
g_hubner@gmx.at
Arbeitet im Lehrlingshaus (Internat für Schüler, die die Berufsschule für Kfz-Techniker besuchen) in Arnfels als Betreuer und studiert am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Karl-Franzens-Universität Graz.

Bakka. phil. Astrid Koreimann, Jg. 1983
astrid.koreimann@uni-graz.at
Studiert an der Karl-Franzens-Universität Graz das fakultätenübergreifende Masterstudium "Interdisziplinäre Geschlechterstudien" und am Institut für Bildungs- und Erziehungswissenschaft "Erwachsenenbildung/Lebensbegleitendes Lernen", an welchem sie auch als Studienassistentin im Arbeitsbereich der Angewandten Lernweltforschung tätig ist. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Hochschuldidaktik und des Nationalen Qualifikationsrahmens