soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 8 (2012) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/225/366.pdf


Dirk Jarré:

"Quo vadis Soziales Europa?"


Vortrag vom 30. September 2011 anlässlich der Festveranstaltung "10 Jahre Soziale Arbeit an der FH JOANNEUM Graz"


Es ist mir eine ganz große Ehre, im Rahmen der Festveranstaltung "10 Jahre Soziale Arbeit an der FH Joanneum in Graz" - und indirekt anlässlich des gleichen Jubiläums der Studiengänge für Soziale Arbeit in St. Pölten - einige Überlegungen zu weiteren Zusammenhängen entwickeln zu dürfen, in denen wir die sozialarbeiterische Ausbildung einordnen sollten. Mein Thema "Quo vadis Soziales Europa?" ist daher nicht in der direkten semantischen Übertragung "Wohin geht das Soziale Europa?" zu verstehen, sondern ich möchte der Frage nachgehen "Welche Bedeutung hat denn das Soziale Europa für unsere Gesellschaft?". Dabei stelle ich diese Frage mit der Absicht, uns alle zu ermuntern, uns die Zukunft des Unions-Europas nicht nur als großen, erfolgreichen Markt, sondern, als soziales Gebilde, als Solidargemeinschaft mit rund 500 Millionen Bürgern - und vielen Millionen in diesem Europa lebenden und arbeitenden Nicht-EU-Bürgern - zu denken und Position dazu zu beziehen. Folglich hat das Thema für mich drei wichtige Dimensionen, die ich beleuchten möchte - nämlich die Dimension "Europa", die Dimension des "Sozialen" und die Dimension der "Zukunft unserer Gesellschaft".

Zur ersten Dimension, zu "Europa": Warum sollten wir gerade bei diesem Festakt über Europa nachdenken? Die Antwort ist für mich, dem das europäische Integrationswerk lebensbestimmend war und ist, einfach und komplex zugleich. Das heutige Europa ist zunächst die Verwirklichung eines Traumes. Es ist zuvorderst ein einzigartiges Friedensprojekt zur Heilung einer langen Geschichte von schrecklichen Kriegen, die diesen Kontinent erschüttert und den Menschen unseliges Leid gebracht haben. Europa ist aber auch die Annäherung an eine Gesellschaft der Freiheit, der Sicherheit, der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichheit zwischen den Völkern - und nicht zuletzt ein Raum eines zuvor nie gekannten Wohlstandes für eine große Mehrheit der in der Europäischen Union lebenden Bürger.

Europa als Staatenverbund, in dem die heute 27 Mitgliedstaaten freiwillig substanzielle nationale Souveränitätsrechte an eine höhere Entscheidungs- und Verantwortungsebene, also die Europäische Union, abgetreten haben mit dem Ziel, den Frieden zu sichern und ihren Völkern über die Schaffung eines gemeinsamen Marktes bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen, wird von außenstehenden Betrachtern als ein höchst erfolgreiches Projekt mit Bewunderung, oft mit auch mit Neid, wahrgenommen. Aber wir, die wir in dieser Union leben und von ihr so sehr profitieren, hadern mit dem supranationalen Konstrukt, das wir als zentralistisch, undemokratisch und hyper-bürokratisch erleben. Wir tun uns schwer mit der Tatsache, dass Europa in unserem Leben allpräsent geworden ist. Wir nehmen vorwiegend Befremdliches, allerlei neue Probleme, sowie zusätzliche Regulierungen und Verpflichtungen wahr, jedoch kaum die beachtlichen neuen Rechte, Chancen, Erleichterungen und Vorteile, die uns dieser große integrative politische und wirtschaftliche Lebensraum bietet.

Ich meine, wir sollten uns über die Erfolge der europäischen Integration, über ihre Bedeutung für uns als Einzelne wie auch für unsere Gesellschaft insgesamt klarer werden. Wir sollten diese historische Entscheidung, Konfrontation durch Zusammenarbeit in Europa zu ersetzen, besser wahrnehmen, mehr diskutieren und uns auch dafür engagieren, die europäische Integration weiter zu gestalten, zu vertiefen und insbesondere gegen Anfeindungen zu verteidigen. Denn ohne das persönliche und kollektive Engagement könnte uns dieses friedenserhaltende und wertebetonte Europa schlicht eines Tages buchstäblich wieder zerbröseln.

Nun zur zweiten Dimension, zum "Sozialen": Die Debatte über "die Europäische Union als Solidargemeinschaft" findet derzeit als finanzpolitisches und wirtschaftspolitisches Reizthema besondere Aufmerksamkeit. Vermutlich hat jedoch Europa sehr wohl das Potential, die uns derzeit so belastenden und verunsichernden finanziellen Schwierigkeiten zu lösen und zum ökonomischen Alltagsgeschäft zurückzukehren. Wo ich hingegen ein sehr viel größeres und langfristigeres Problem sehe, ist die Frage der sozialen Solidarität und des sozialen Zusammenhalts in Europa - sowohl heute wie auch in der Generationenperspektive. Dabei handelt es sich um die wohl komplexeste und wichtigste Herausforderung für die Zukunft unserer europäischen Gesellschaft.

Leider wird die Thematik der sozialen Kohäsion in Europa - und die damit verbundene Aufforderung zur Solidarität - derzeit kaum öffentlich diskutiert. Sie wird eher verschwiegen, als handle es sich um eine zu verhüllende Obszönität. Dennoch ist dieser Aspekt für uns alle, die wir in der Europäischen Union leben, die wir heute hier in Graz und in St. Pölten versammelt sind und die wir große Verantwortung für die junge Generation und für die noch kommenden Generationen tragen, von allerhöchster Bedeutung. Warum das?

Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich Sie zunächst mit einer Frage konfrontiere, die ich bei meiner Lehre "zur europäischen und vergleichenden Sozialpolitik" an der FH Joanneum "meinen" Studierenden stelle, um sie für dieses zunächst etwas trocken klingende Thema zu sensibilisieren. Sie lautet recht einfach:

"Welches sind, Ihrer Meinung nach, die drei wichtigsten Entscheidungen, die ein Mensch noch vor seiner Geburt zu treffen hat und die sein Leben mit am stärksten beeinflussen werden?".

Zunächst herrscht gespanntes Schweigen, dann oft belustigtes Lächeln und schließlich ernsthaftes Nachdenken. Nach kurzem Zögern und einigen Kommentaren zur Sinnhaftigkeit dieser Frage kommen unsere Studierenden meist mit den durchaus richtigen Antworten und verblüffenden Begründungen dazu, die ich Ihnen in aller Kürze vorstellen möchte:

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenngleich wir gerne mal auf die Ungerechtigkeiten in anderen Kontinenten mitleidig herunterschauen, leben wir auch in Europa heute noch - trotz aller erreichten Fortschritte und unserem privilegierten wirtschaftlichen Status - in einer Gesellschaft mit sehr großen Ungleichheiten im Hinblick auf Lebenschancen und Möglichkeiten der Selbstbestimmung des Einzelnen und bestimmter sozio-ökonomischer Gruppen. Es ist immer noch eine sehr ungerechte Gesellschaft mit einer Vielzahl von Diskriminierungen und Benachteiligungen. Ich erinnere nur an die durch meine Frage an die Studierenden skizzierten Beispiele.

Den Zielen der Französischen Revolution, nämlich "Freiheit", "Gleichheit" und "Brüderlichkeit" (also "Solidarität") und der Umsetzung der im August 1789 verkündeten "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" sind wir über die letzten gut 200 Jahre nur bedingt nähergekommen. Ja, manche Fortschritte sind sogar durch die geschichtlichen Ereignisse in Europa - etwa durch Kriege, undemokratische Herrschaftsformen, wie den Faschismus, und in der Kolonialpolitik - wieder zunichte gemacht oder stark relativiert worden.

Erst mit der Europäischen Integration ist es uns gelungen, unsere gemeinsamen Werte, die Prinzipien und die Ziele, die uns verbinden und die uns eine europäische Identität geben, zu definieren und auf ihrer Grundlage einen spezifisch europäischen Kodex von Rechten für alle Menschen in unserer Gesellschaft zu formulieren. Diese "Charta der Grundrechte in der Europäischen Union", welche die Organe der EU in ihrem Handeln bindet, ist am 01. Dezember 2009 in Kraft getreten. In der Präambel sagt sie:

"Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet."

Die Charta beginnt mit dem - uns alle verbindenden und verpflichtenden - Grundsatz "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen". Das heißt schlicht "die Würde aller Menschen", seien sie nun Bürger der EU oder in der EU residierende Fremde. Das wird noch deutlich unterstrichen, wenn die Charta ausführt "Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten." Damit wären wir wieder bei den drei wichtigsten Entscheidungen, die in unserer Gesellschaft dringlichst bereits vor der Geburt zu treffen sind, weil sie eben immer noch lebens- und chancenbestimmend sind.

Die Thematik der Gerechtigkeit ist nicht neu. Bereits Aristoteles hat vor über 2.300 Jahren darüber intensiv nachgedacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass er zwar nicht "Gerechtigkeit" definieren kann - jedoch aber das, was "Ungerechtigkeit" darstellt. Entsprechend formulierte er seine Schlussfolgerung in folgendem tiefsinnigen und beeindruckenden Doppelsatz: "Ungerecht ist, wenn Gleiche ungleich behandelt werden; aber gleichermaßen ungerecht ist, wenn Ungleiche gleich behandelt werden". Das ist, wenn man es sich recht überlegt und alle Konsequenzen auslotet, der Leitsatz allen verantwortlichen sozialpolitischen Handelns - oder sollte es zumindest sein. Es wäre durchaus wünschenswert, dass dieser Satz jedem Politiker und jedem Bürger stets als Leitgedanke politischen wie individuellen Handelns Orientierung gäbe.

Wie beseitigt oder zumindest lindert man die Auswirkungen von Diskriminierung und Ausgrenzung? Ein wichtiges Instrument dafür stellt in unserem Kulturkreis das Konzept des "Sozialschutzes" dar, mit seinen beiden Säulen der "Sozialen Sicherheit" und der "Sozialen Dienste". Gegen die finanziellen Auswirkungen von allgemeinen Lebensrisiken - wie etwa Erkrankung, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Alter, Abhängigkeit von Pflege, aber auch Mutterschaft - gewähren uns die solidarischen Systeme der "Sozialen Sicherheit" monetären Schutz. Diese Systeme sind hochreguliert und lassen wenig Interpretationsraum offen. Nicht weniger wichtig für die Menschen ist die zweite Säule des Sozialschutzes, nämlich der Bereich der "Sozialen Dienste". Dabei handelt es sich um persönliche Dienstleistungen der Beratung und Unterstützung von Menschen in Krisensituationen, in sozialen, physiologischen wie psychischen Problemlagen und in ökonomischen Schwierigkeiten, die der professionellen Hilfe bedürfen. Sie sind ebenso unverzichtbar, um soziale Ausgrenzung und Verarmung - und dies nicht nur im finanziellen Sinne - zu verhindern oder als Prozesse umzudrehen.

Nun, wer erbringt diese Unterstützung in einem organisierten professionellen Rahmen, ohne die im Übrigen die monetären Leistungen sehr oft ihre Wirkung gar nicht oder nicht voll entfalten können und die für viele erst eine menschenwürdige Existenz ermöglichen? Es sind unter anderem die Menschen, die im Studiengang "Soziale Arbeit" hier im Joanneum - und an der Fachhochschule in St. Pölten - ausgebildet oder fortgebildet werden: nämlich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die nach Abschluss ihres Studiums in der öffentlichen Sozialverwaltung oder in gemeinnützigen Organisationen - zunehmend aber auch in marktorientierten Sozialunternehmen - tätig werden oder ihre Arbeit dort auf einer höheren Qualifikations- und Verantwortungsebene fortsetzen.

Es handelt sich hierbei um eine neue, nämlich der sozialen Gerechtigkeit verpflichteten, Elite Europas, die im Sinne der "Charta der Grundrechte" handelt, welche feststellt:

"Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten … Und zwar für jeden Menschen, der in der Union seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat und seinen Aufenthalt rechtmäßig wechselt, …"

Dieser Berufszweig hat die Aufgabe übernommen, entscheidend dazu beizutragen, dass die sozialpolitischen Ziele der Gesellschaft erreicht werden können und die sozialen Rechte von Einzelpersonen und spezifischen Gruppen konkret umgesetzt werden. Soziale Arbeit ist das Instrument der sozialen Solidarität und spielt eine herausragende Rolle dabei, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern, die möglichst vollständige Integration in die Gesellschaft zu fördern und den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Schließlich noch zur dritten Dimension, zur "Zukunft unserer Gesellschaft": Die Soziale Arbeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann und darf heute und morgen nicht mehr national gesehen werden, sondern muss im europäischen Kontext erfolgen, um den Grundsätzen der Gleichstellung und der Gleichbehandlung zumindest in Europa Rechnung zu tragen. Sie kann sich auch nicht mehr nur auf Bürger mit dem europäischem bordeauxroten Pass beschränken, sondern muss gleichermaßen und ohne Einschränkungen auch für Menschen gelten, die "von außen" zu uns gekommen sind und die Teil unserer Gesellschaft bereits sind oder noch werden wollen bzw. sollen. Dass wir diese Menschen, die neue Lebensmöglichkeiten und Arbeitschancen suchen, dringend für unseren Wohlstand brauchen und sie auch unsere Gesellschaft in vielfältiger anderer Hinsicht ungemein bereichern, müssen wir wohl noch besser verstehen, akzeptieren und wertschätzen. Europas größte Stärke - und manchmal auch gewisse Schwäche - ist ohnehin die große Vielfältigkeit, die gesellschaftliche Diversität, die uns im Gegensatz zur Monokultur ständig neue Kräfte, Ideen und Lösungen zur Überwindung von Problemlagen und Stillstand beschert. Die aktiven Migranten und Migrantinnen bedeuten für uns ein Gewinn an Vielfältigkeit und an neuen Ideen. Sie sind allerdings auch eine große Herausforderung!

Da das Konzept der Solidargemeinschaft ein integraler Teil des europäischen Selbstverständnisses ist und für Europa identitätsstiftend wie identitätsbeschreibend wirkt, stellt seine Festigung für die Qualität unserer europäischen Gesellschaft meiner Ansicht nach das entscheidende Element schlechthin dar. Das Erreichen und Erhalten sozialer Kohäsion wird der Prüfstein des Erfolgs der Europäischen Integration sein. Es ist, glauben Sie es mir, viel wichtiger für unsere Zukunft als die Frage der Beibehaltung oder nicht des Euro. In Anlehnung an einen vielzitierten Satz von Frau Kanzlerin Merkel zur Bedeutung des Euro möchte ich sagen: "Scheitert das Soziale Europa, dann scheitert Europa insgesamt". Im globalisierten Wettbewerb der Systeme und Gesellschaften wird letztlich nicht die wirtschaftliche Performance den Ausschlag geben, so wichtig diese auch sein mag, sondern die Glaubwürdigkeit von Werten und Zielen einer Gesellschaft sowie die Art und Weise, wie sie ihren Mitgliedern Stimme und Beteiligung an der Gestaltung des Gemeinwesens gewährt, wie sie Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit garantiert, wie sie die Entfaltung des Individuums ermöglicht und letztlich, wie sie für Lebensqualität, Sozialschutz und sozialen Zusammenhalt sorgt.

In diesem Verständnis ist Europa - immer noch - gut aufgestellt und verkörpert gewissermaßen eine Sehnsucht des weit überwiegenden Teils der Menschheit, welcher derzeit nicht in Gesellschaften dieser Konfiguration und Qualität leben kann. Um die Qualität der europäischen Gesellschaft auch nachhaltig zu gestalten und so für die kommenden Generationen zu erhalten, brauchen wir nicht nur höchst kompetente Ökonomen, Unternehmer, Ingenieure, Wissenschaftler, und so weiter, sondern insbesondere auch gut ausgebildete und engagierte Fachleute für das Soziale, welche die gesamtgesellschaftliche und die europäische Dimension ihres Arbeitsfeldes voll verstehen und in ihr, der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, verantwortungsvoll handeln - also Fachleute, welche die einzelnen sozialen Problemfelder kennen und mit geeigneten professionellen Lösungsansätze vertraut sind, die den Menschen als Mitgestalter der europäischen Gesellschaft begreifen und in seinen Fähigkeiten anerkennen, unterstützen und fördern.

Die Fachhochschule Joanneum in Graz und die Fachhochschule in St. Pölten leisten einen großen Beitrag zur Sicherung der Qualität unserer Gesellschaft und zur Gestaltung der Zukunft Europas, indem sie ihren Auftrag gegenüber den Studierenden im Ausbildungsbereich "Soziale Arbeit" außerordentlich ernst nehmen - nämlich nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern die Studierenden zu befähigen, gesellschaftliche Defizite und Opfer der sozio-ökonomischen Systeme sowie persönliche Einschränkungen und Schicksale zu verstehen und sich ein klares Urteil darüber zu bilden, was und in welcher Form im Rahmen der europäischen Werte und Normen zu geschehen hat, um durch kompetente Hilfe angemessene Lösungen zu erreichen. Die im Laufe der 10 Jahre ausgebildeten Studierenden haben nicht nur ein ganz hohes professionelles Niveau erreicht, sondern sind durch diese Ausbildung auch reifere Bürger geworden, die ihrer Verantwortung gegenüber dem Einzelnen und der europäischen Gesellschaft im beruflichen Kontext wie auch im Privatleben voll gerecht werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, bevor ich meinen Beitrag, beende möchte ich gerne noch eine persönliche Überlegung zur Zukunft Europas in aller gebotenen Kürze mit Ihnen teilen. Die überwiegende Mehrheit der Europäer unterstützt - immer noch - das großartige und historisch innovative Projekt der europäischen Friedenssicherung durch Integration. Eine ebenfalls überwiegende Mehrheit der Europäer spürt hingegen, dass der beschrittene Weg des elitären Europaprojektes irgendwie nicht der beste, ja sogar ein problematischer, ist. Die europäischen Institutionen werden als komplex und fern empfunden, die Entscheidungsprozesse als undurchsichtig, der Eurokratismus wird als übertrieben und lästig erlebt und insbesondere die Wahrnehmung der Sorgen und Bedürfnisse der Bürger sowie ihre Beteiligung an der Gestaltung der europäischen Gesellschaft erscheint den meisten als völlig unzureichend.

Was wäre zu tun - wie könnte man dieses Europa bürgerfreundlicher und bürgernäher gestalten, ohne das Ziel der Schaffung einer gesamteuropäischen Gesellschaft der friedlichen Kooperation, der Überwindung der nationalen Egoismen, der Durchsetzung der Grundrechte und der sozialen Gerechtigkeit für alle, der Vereinbarung von Solidarität und Wettbewerb, der sozialen Integration der Individuen und der Gruppen, des Erhaltes der kulturellen, sprachlichen und auch ökonomischen Vielfalt aufzugeben? Wie, im Gegenteil, könnte man die Verwirklichung dieses gossen Zieles wirkungsvoll und möglichst mit einer breiten Beteiligung der Bürger fördern?

Ich sehe da eigentlich nur eine wirklich vielversprechende Möglichkeit - nämlich die konsequente Umsetzung des Wahlspruches "Europäisch denken - lokal handeln!" Das heißt für mich, dass sehr wohl die wichtigsten Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens in Europa - insbesondere die Grundrechte der Menschen, entscheidende Qualitätsmerkmale von sozialen und medizinischen Diensten, Sicherheitsstandards für Produkte und Leistungen etc. - auf der europäischen Ebene gemeinsam vereinbart und für alle verbindlich festgelegt werden müssen. Die Umsetzung hingegen sollte der lokalen - beziehungsweise der regionalen Ebene - vorbehalten bleiben und ganz nahe am Bürger und so weit wie möglich mit dem Bürgern erfolgen.

Denn es ist von entscheidender Bedeutung für die Menschen und das Funktionieren der Gesellschaft, dass die Gestaltung der Gegenwart wie auch der Zukunft des Lebensraumes unter angemessener Berücksichtigung der kulturellen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen und Möglichkeiten sowie mit direkter Beteiligung der von Maßnahmen und Entwicklungen Betroffenen "vor Ort" geschieht. Die Bedürfnisse, die Erwartungen, die Hoffnungen, die Fähigkeiten und das Engagement der Menschen sind die Basis jeden konstruktiven demokratischen Prozesses der Gesellschaftsentwicklung - "von unten nach oben" unter dem Schutzschirm einer gemeinsamen Vision und verbindlicher europäischer Grundsätze.

Wim Wenders, der große Filmemacher, hat seine Gedanken zu Europa in einem Essay "Wo die Europäer leben", das mich durch seine Schlichtheit und Aussagekraft sehr beeindruckt, wie folgt ausgedrückt:

"Wo ist die große und gute Idee von Europa am lebendigsten? Nein, nicht in der Politik. Da ist sie eher auf den Hund gekommen. Politik als solche begeistert niemanden. … Überall wo Europa repräsentiert wird als ökonomisches Gebilde, als "Interessenvertretung" für Wirtschaft und Finanzen, da ist es für seine Bewohner selbst leblos (und lieblos) geworden. … Europa ist eine Seelengemeinschaft. Oder besser: will eine werden. Aber wo ist seine Seele? Wo schlägt sein Herz … wenn nicht da, wo die Europäer leben. In den ältesten Einheiten unseres Kontinents, in seinen Regionen. … So wie alle die wunderbaren europäischen Gegenden (…) ihre Eigenheiten behalten können unter den starken Schutz von Europa, so sehr braucht Europa auch seine Regionen als seine Urzellen, seinen harten Kern, um sich zu behaupten und zu sich selbst zu finden. In seiner Kultur, Wo sonst?"

Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Deutscher von Geburt und Nationalität aber zutiefst überzeugter Europäer liebe ich Österreich sehr. Dies insbesondere aufgrund seiner Kleinteiligkeit und regionalen Diversität, der Nähe zwischen Mensch und Natur, der vibrierenden lokalen Zivilgesellschaft, um nur einige Aspekte neben der Freundlichkeit der Österreicher und der Güte ihrer Küche zu nennen. Dass ich hier am Joanneum mit Menschen zusammenarbeiten darf, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die sozialen Probleme vor Ort zu verstehen und unter Berücksichtigung der Werte und Ziele einer europäischen Gesellschaft zu mindern oder gar zu lösen, ist für mich ein großes Privileg und eine sehr schöne Aufgabe.

Nun möchte auch ich meinen herzlichsten Glückwunsch zum 10-jährigen Bestehen des Studienganges "Soziale Arbeit" in Graz wie in St. Pölten aussprechen und alle Anwesenden ersuchen, dieser für das Funktionieren unserer Gesellschaft so wichtigen Ausbildung ihre Anerkennung, ihre Unterstützung und ihr Verständnis für die nunmehr unabdingbare europäische Dimension zu bewahren.


Ich danke Ihnen für Ihre geduldige Aufmerksamkeit!


Über den Autor

Mag. phil. Dirk Jarré, Jg. 1941
dirkjarre@aol.com

Jurist und Soziologe, Experte in europäischer und vergleichender Sozialpolitik
Ehemaliger persönlicher Berater der Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses der Europäischen Union,
Viele Jahre Vize-Präsident der Social Platform in Brüssel und Vorsitzender ihrer Fachgruppe "Sozialpolitik"
Delegierter in der "Beratenden Kommission für den industriellen Wandel" in der Europäischen Union (Mandat 2011-2015)
Lehrbeauftragter an der Universität Linz und an der FH Joanneum in Graz
Zahlreiche Publikationen in Fachzeitschriften in Deutsch, Englisch, Französisch u. a.