soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 8 (2012) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standortredaktion Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/226/364.pdf


Christian Hiebaum:

Krise und Gerechtigkeit


Zur Politik der Sozialen Arbeit


1. Einleitung
Mit Krisen dürften sich wenige so gut auskennen wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Im Gegensatz zu den meisten von uns erleben sie sie immer wieder (und nicht bloß gelegentlich) auf mehreren Ebenen und in mehreren Dimensionen gleichzeitig: als individuelle sozial, psychisch oder körperlich bedingte Krisen von anderen, als institutionelle Krisen und als persönliche Krisen. Nun wäre es auf geradezu lächerliche Weise vermessen von mir zu behaupten, ich könnte als Politikphilosoph irgendetwas Nennenswertes zur Überwindung dieser Krisen beitragen oder hilfreiche Aussagen darüber machen, wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ihren Job erledigen sollten. Ebenso wenig werde ich mich auf die soziologische und psychologische Theorie der Sozialen Arbeit einlassen. Dazu ist mein Wissen viel zu beschränkt und die Vielfalt sozialarbeiterischer Tätigkeiten viel zu groß. Erst recht nicht kann ich Lösungen anbieten für die grundlegenden Probleme, um die es mir hier geht. Was ich jedoch – hoffentlich – kann, ist, halbwegs systematisch, wenn auch etwas holzschnittartig darzulegen, was besagte Krisen, ihr Zusammenhang und ihre Verschärfung durch die sogenannte Finanzkrise über soziale Gerechtigkeit und die Rolle der Sozialen Arbeit als Gerechtigkeitsarbeit verraten.

Eine quasi amtliche Definition von Sozialer Arbeit, nämlich die der International Federation of Social Workers (IFSW), lautet:

„Die Profession Soziale Arbeit fördert den sozialen Wandel, Problemlösungen in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen, um ihr Wohlbefinden zu heben. Unter Nutzung von Theorien menschlichen Verhaltens und sozialer Systeme greift Soziale Arbeit an den Punkten ein, in denen Menschen mit ihrer Umgebung interagieren. Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit sind für die Soziale Arbeit fundamental. … Soziale Arbeit basiert auf humanitären und demokratischen Idealen, und diese Werte resultieren aus dem Respekt vor der Gleichheit und Würde aller Menschen. Seit ihrem Beginn vor einem Jahrhundert hat die professionelle Soziale Arbeit sich auf die menschlichen Bedürfnisse konzentriert und die Entwicklung der Stärken der Menschen vorrangig unterstützt. Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit dienen als Motivation für sozialarbeiterisches Handeln. Professionelle Soziale Arbeit ist bemüht, Armut zu lindern, verletzte ausgestossene und unterdrückte Menschen zu befreien, so wie die Stärken der Menschen zu erkennen und Integration zu fördern.“ (http://www.ifsw.org/p38000409.html)

Viel schöner und erbaulicher hätte man es nicht formulieren können, und ich meine das ernst. Hehre Ziele verlangen mitunter nach großen Worten. Gleichwohl übertüncht diese Charakterisierung, wie das Texte einer solchen Sorte an sich haben, einige Spannungen, ja vielleicht sogar Aporien, im Kampf um das Gute und Gerechte. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sich diese Spannungen aus der Perspektive der politischen Philosophie darstellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch Gegenstand der Diskussionen waren, die der Textierung vorausgingen. Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat, wie mir scheint, lediglich ein grelleres Licht auf die Probleme geworfen, mit denen die Soziale Arbeit immer schon zu kämpfen hatte. Auf Kritik an der Profession kann ich als Außenstehender getrost verzichten. Ich kenne kaum eine andere, in der so radikal und scharfsinnig Selbstkritik geübt wird wie in der Sozialarbeit.

Letzteres hat zweifellos mit dem strikt unerfüllbar anmutenden Anspruch zu tun, den diese Profession an sich stellt. Soziale Arbeit soll zur Veränderung der Gesellschaft in Richtung sozialer Gerechtigkeit beitragen und sich zugleich mit den Problemen konkreter emanzipationsbedürftiger Individuen befassen. Dass diese Ziele bis zu einem gewissen Grade konfligieren, liegt auf der Hand. So lautet ein traditioneller Vorwurf von Seiten der radikaleren, auf Strukturen fokussierenden Linken, dass die Sozialarbeit lediglich ein „systemstabilisierender“ Faktor sei, eine Praxis der Verwaltung und Verschleierung institutionellen Unrechts, während sie sich für Konservative durch eine Geringschätzung individueller Verantwortung auszeichnet, soll heißen: durch die Tendenz, die Klientel als Opfer von Institutionen bzw. „der Gesellschaft“ darzustellen. Tatsächlich jedoch haben wir es mit Ambivalenzen zu tun, die dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit selbst anhaften und für die die Spannungen zwischen den Zielsetzungen der sozialen Arbeit bloß ein Symptom sind.


2. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit
„Soziale Gerechtigkeit“ ist ein schillernder Begriff. Anders als „Gerechtigkeit“ (ohne den Zusatz „soziale“) meint „soziale Gerechtigkeit“ die Gesamtheit jener moralischen und zum Teil verrechtlichten oder zu verrechtlichenden Normen, die auf umfassende gesellschaftliche Zusammenhänge angewendet werden (Koller 2001:34-42). Es handelt sich dabei um Normen der Verteilungsgerechtigkeit, der Tauschgerechtigkeit, der politischen Gerechtigkeit und der korrektiven Gerechtigkeit. Nicht jede Gerechtigkeitserwägung, die Beziehungen in einem sozialen Mikrokontext zum Gegenstand hat, etwa zwischen den Mitgliedern einer Familie, zwischen Jugendlichen in einem Wohnheim oder zwischen Geschäftspartnern, ist eine Erwägung sozialer Gerechtigkeit. Allerdings ist das, was sich in solchen Mikrokontexten ereignet, unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit keineswegs belanglos, insbesondere wenn es sich regelmäßig ereignet. Man denke nur an Gewalt in der Familie. Gehäuft lassen solche Phänomene auch auf Defizite in der gesamtgesellschaftlichen Ordnung schließen. Und nicht selten lassen sich diese Defizite trefflich als soziale Ungerechtigkeit beschreiben, z. B. als Versagen des Staates bei der Gewährleistung gleicher fundamentaler Rechte, welches seinerseits – um eine ganz simple Kausalkette zu skizzieren – eine Folge mangelnder Ressourcenausstattung bei der Exekutive und den psycho-sozialen Diensten sein kann, die wiederum (teilweise) aus fragwürdigen Steuererleichterungen an Wohlhabende resultieren mag, deren Ursache womöglich eine geradezu grotesk ungleiche Verteilung politischer Macht zugunsten bestimmter gut organisierter und finanzstarker Interessengruppen ist.

Den Gegenstand sozialer Gerechtigkeit bilden also umfassende gesellschaftliche Ordnungen, im Gegensatz zu Mikrokontexten, in die im Rahmen der „normalen“ Sozialarbeit interveniert wird. Aber was bedeutet das? Wie umfassend müssen diese Ordnungen sein: Bezieht sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit nur auf die staatlich verfasste Gesellschaft oder gibt es auch so etwas wie globale soziale Ungerechtigkeit? Und was ist der Stoff, aus dem soziale Gerechtigkeit gemacht ist: Hängt die Gerechtigkeit einer Gesellschaft nur von rechtlichen und sonstigen sozialen Institutionen ab oder auch von der Bereitschaft der Individuen, mehr zu tun, als bloß die Freiräume nicht zu verlassen, die ihnen von den Institutionen eingeräumt werden?


3. Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit
Zur ersten Frage nur einige kurze Bemerkungen: Nach weitverbreiteter Auffassung (innerhalb und außerhalb der politischen Philosophie) beschränkt sich der Anwendungsbereich von Normen der sozialen Gerechtigkeit im Wesentlichen auf staatlich verfasste, jedenfalls aber partikulare Gesellschaften. Zwar möge es moralische Pflichten geben, etwa Pflichten zur Hilfeleistung, die über Staatsgrenzen hinausreichen, aber dabei handle es sich eben kaum um Pflichten der sozialen Gerechtigkeit, jedenfalls nicht um Pflichten der den Kern der sozialen Gerechtigkeit bildenden Verteilungsgerechtigkeit. Das ist die Position des starken Partikularismus. Demgegenüber bestreitet der schwache Partikularismus zwar nicht, dass bestimmte Grundrechte und die zu ihrer Gewährleistung nötigen Ressourcen global zu verteilen seien. Den Anwendungsbereich darüber hinausgehender Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, insbesondere von Gleichheitsprinzipien, beschränkt aber auch der schwache Partikularismus auf die domestische Sphäre. Generell können somit nach partikularistischer Auffassung Institutionen der Umverteilung ökonomischer Ressourcen nicht auf gleichheitsbezogene Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit gegründet werden. Globale Ungleichheit möge allerlei Probleme verursachen, aber im Gegensatz zu extremer Armut stelle sie selbst keine moralische Herausforderung dar.

Diejenigen, die in der Entwicklungshilfe tätig sind und dabei stark von der Idee der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit motiviert werden, vertreten typischerweise zumindest einen schwachen gerechtigkeitstheoretischen Partikularismus. Viele von ihnen bevorzugen aber vermutlich, so wie ich selbst, einen kosmopolitischen Ansatz, wonach die Ungerechtigkeit extremer Armut auch in der politischen und ökonomischen Ungleichheit liegt – mithin einer Ungleichheit, deren Ursache unzulängliche globale politische und ökonomische Institutionen sind. Aus kosmopolitischer Sicht bilden globale gesellschaftliche Zusammenhänge einen Anwendungsbereich nicht nur für Prinzipien der Suffizienz und die Menschenrechte, sondern auch für Normen mit einem deutlich stärkeren Bezug zur Idee der sozialen Gleichheit. Dass wir derzeit nicht über die geeigneten supranationalen politischen Institutionen verfügen, um solche Normen vernünftig zu diskutieren, fair zu beschließen und halbwegs verlässlich durchzusetzen, betrachten Kosmopoliten eher als Defekt des weltpolitischen Systems denn als zwingenden Grund, das Postulat der sozialen Gleichheit jenseits gleicher Menschenrechte auf das Zusammenleben in einem Nationalstaat zu beschränken. Das gegebene weltpolitische System ist für sie allzu sehr von öffentlichkeitsfernem Bargaining zwischen höchst ungleichmächtigen Partikularinteressen verfolgenden Akteuren gekennzeichnet. Sie nehmen deshalb aber nicht notwendig an, dass globale soziale Gleichheit einen Weltstaat erfordert. Zumindest für die Moderateren unter ihnen bedeutet soziale Gleichheit auf globaler Ebene durchaus nicht dasselbe wie auf nationaler. Aber es bedeutet für sie eben auch nicht nichts (wie für Partikularisten).1 Bei allem, was man am Partikularismus aussetzen mag – auch der Kosmopolitismus hat seine Probleme. Insbesondere scheint es ihm an hinreichend konkreten Vorstellungen dafür zu mangeln, wie sich übernationale politische Prozesse so institutionalisieren lassen, dass sie nicht einem Verteilungsgerechtigkeitsminimalismus und der Ungleichheit innerhalb der wohlhabenden Staaten Vorschub leisten. Anders gesagt: Es mangelt ihm an halbwegs präzisen und zugleich wenigstens prinzipiell realitätstüchtigen Konzeptionen trans- und supranationaler Demokratie (vgl. Hiebaum 2011).


4. Postulate der sozialen Gerechtigkeit
Die zweite Frage (nach dem „Stoff“, aus dem soziale Gerechtigkeit gemacht ist) betrifft den Kern unseres Problems. Diskussionen über soziale Gerechtigkeit handeln primär von den grundlegenden Institutionen, die eine Gesellschaft ordnen (ob man nun unter „Gesellschaft“ eine staatlich verfasste politische Gemeinschaft versteht oder auch globale soziale Zusammenhänge). Wenigstens hierzulande besteht noch recht breiter Konsens über die (ineinander verschränkten) Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit im Abstrakten (vgl. Koller 2001:42-44):

  1. Rechtliche Gleichheit: Alle Gesellschaftsmitglieder sollen die gleichen allgemeinen Rechte und Pflichten haben, wenn es nicht gute nicht-diskriminierende Gründe für Ungleichheiten gibt.
  2. Bürgerliche Freiheit: Alle Gesellschaftsmitglieder sollen die gleiche größtmögliche soziale Freiheit genießen, die mit einem friedlichen und gedeihlichen Zusammenleben vereinbar ist.
  3. Demokratische Beteiligung: Alle Gesellschaftsmitglieder sollen das gleiche Recht und die gleiche Möglichkeit haben, an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung mitzuwirken.
  4. Soziale Chancengleichheit: Allen Gesellschaftsmitgliedern sollen alle sozialen Positionen zu den gleichen Bedingungen offenstehen.
  5. Wirtschaftliche Gerechtigkeit: Alle Gesellschaftsmitglieder sollen die gleichen Aussichten auf Einkommen, Vermögen und Berufsmöglichkeiten haben, wenn es nicht allgemein akzeptable Gründe für Ungleichheit gibt.

Kaum jemand stellt diese Postulate als solche infrage. Darüber, was das alles im Konkreten bedeutet, gehen die Ansichten freilich auseinander. Nehmen wir die Chancengleichheit: Wer eine sehr formalistische Konzeption derselben vertritt, wird sich mit dem Abbau diskriminierender rechtlicher Barrieren zu bestimmten Berufsfeldern, Bildungseinrichtungen etc. zufrieden geben. Die meisten glauben allerdings, dass es noch etwas mehr braucht: etwa ein gut finanziertes und organisiertes öffentliches Bildungssystem sowie finanzielle, infrastrukturelle und sozialarbeiterische Unterstützung für Kinder, Jugendliche, deren Eltern und sonstige Gruppen, die einem erhöhten Risiko eines nicht selbst zu verantwortenden Wettbewerbsnachteils ausgesetzt sind. Manche (so wie ich) halten noch eine darüber hinausgehende Angleichung der Startbedingungen für geboten, sehen aber auch eine Gefahr in der starken Fokussierung auf gleiche Chancen: nämlich die Gefahr der Verfestigung eines Wettbewerbsethos, das letztlich jeden Sinn für gesamtgesellschaftliche Solidarität oder Gerechtigkeit und die Notwendigkeit gemeinsamer politischer Anstrengungen (selbst solcher zur Verwirklichung einer wenig anspruchsvollen Idee von Chancengleichheit) unter sich begräbt. Betroffen davon ist nicht zuletzt die soziale Freiheit derer, die ihre Lebensfreude nicht in erster Linie daraus beziehen wollen, dass sie im Wettbewerb auf dem „freien Markt“ reüssieren.

Dasselbe Unbehagen scheint sich in der aus der Profession selbst kommenden Kritik am „Aktivierungsparadigma“ der Sozialarbeit widerzuspiegeln (vgl. Seithe 2011). Anhaltspunkte für diesen Ansatz, dessen Zuordnung zum Neoliberalismus unter den gegebenen Bedingungen nicht ganz unberechtigt ist, bietet aber auch die zitierte Selbstbeschreibung der Profession. Immerhin ist dort davon die Rede, die Stärken von Menschen zu erkennen und ihre Entwicklung zu unterstützen. Und das kann auch heißen, etwas Druck auszuüben, um den Leuten „auf die Sprünge zu helfen“. Man mag die neoliberale Gerechtigkeitskonzeption mit ihrem Fokus auf Wettbewerb, Anti-Diskriminierung, Chancengleichheit und Armenhilfe für in vielerlei Hinsicht defizient halten. Gleichwohl ist schwer zu sehen, wie eine vernünftige Definition der Aufgaben Sozialer Arbeit auf die Idee der Aktivierung bzw. die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit gänzlich verzichten kann. Zumal die nächstliegende Alternative, der bloße Betreuungs- und Versorgungsansatz, kaum attraktiver erscheint.2 (Elemente desselben werden aber vermutlich ebenso immer eine Rolle spielen.) Der Zwiespalt zwischen Systemoptimierung auf der einen Seite und politischer Veränderungsambition auf der anderen dürfte, wenn man so will, zur Natur einer Sozialen Arbeit gehören, die als Menschenrechts- und Gerechtigkeitsdienst verstanden wird.

Noch umstrittener als die Chancengleichheit ist das Postulat der wirtschaftlichen Gerechtigkeit: Die einen denken dabei hauptsächlich an Tauschgerechtigkeit und blenden Fragen nach der Gerechtigkeit der Verteilung von Ressourcen hinter den Tauschgeschäften weitgehend aus. Andere (so wie ich) votieren dagegen für wesentlich striktere Begrenzungen der Einkommens- und Vermögensunterschiede im Wege der Sekundärverteilung (also über Einkommens- und Vermögensbesteuerung), aber auch durch entsprechende Einflussnahme auf Marktstrukturen und sogar deren partielle Beseitigung. Der Markt, so meinen sie, sei für viele kostspielige soziale Güter (etwa Bildung oder medizinische Versorgung) kein geeigneter Distributionsmechanismus. Für sie sind Märkte lediglich ein Teil der gesellschaftlichen Kooperation bzw. ein Mittel der Organisation gemeinsamen Wirtschaftens, und eben nicht bloß Orte, wo rational agierende autonome Tauschparteien aufeinander treffen. Und daraus folge, dass sie Gegenstand politischer Gestaltung und Begrenzung sein sollten und dass sie nicht selbst das letzte Wort bei der Verteilung von Wohlstand haben können.

Die Soziale Arbeit ist natürlich selbst Teil jedes vernünftigen Ensembles grundlegender gesellschaftlicher Institutionen, die den Anspruch erheben können, halbwegs gerecht zu sein. Es ist kein Zufall, dass ihre Organisationen unter besonderen finanziellen Druck geraten, wenn es gilt, kurzfristig gesamtwirtschaftliche Krisen so zu bewältigen, dass möglichst wenig an den Institutionen, die sie verursacht haben, geändert werden muss. Soziale Gerechtigkeit ist in Krisenzeiten eben notorisch ein Randthema. Nach verbreiteter Auffassung muss rasch ge- und zwischen den sogenannten Eliten verhandelt werden, und zu Letzteren gehören die in der Sozialen Arbeit Beschäftigten nicht, nicht einmal dann, wenn es ihnen gelingt, sich gut zu organisieren und zu kooperieren (etwa im Rahmen der Armutskonferenz). Für Grundsatzdiskussionen ist außerhalb akademischer Seminare und den Feuilletons der besseren Tageszeitungen wenig Zeit. Und für kollektives Handeln derer, die vom Krisenmanagement der Eliten, insbesondere von diversen Sparprogrammen, existenziell betroffen sind, der Klientel der Sozialen Arbeit und der sozialarbeiterisch Tätigen selbst, sind auch die sonstigen Rahmenbedingungen äußerst ungünstig. Viel mehr als „Widerstand“ in Form gelegentlicher Protestkundgebungen scheint nicht möglich zu sein. Und wenn die offiziellen sozialen Krisen überwunden sind, bleiben lediglich Myriaden individueller Krisen, für deren Bearbeitung dann aber typischerweise noch weniger personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen als zuvor. Für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit bedeutet dies regelmäßig eine weitere Schwächung, in organisatorischer wie in inhaltlicher Hinsicht.


5. Entpolitisierung
Was die inhaltliche Dimension angeht, so verfestigt sich damit ein Diskurs der „Treffsicherheit“ sozialer Leistungen und – da gesellschaftliche Probleme nun vorzugsweise als „kulturelle Konflikte“ verstanden werden – des „diversity management“. Wir können hier durchaus von einer „Entpolitisierung“ der sozialen Gerechtigkeit sprechen. „Soziale Gleichheit“ jenseits des Ausschlusses von Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu leicht identifizierbaren Gruppen hört zusehends auf, eine politische Ambition zu sein. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in den politischen Institutionen und Entscheidungsverfahren, die dem Postulat der demokratischen Beteiligung immer weniger gerecht werden. Komplexe transnationale Verhandlungen und Beratungen geben (fast) alle Macht finanzstarken Lobbys und sogenannten „Experten“. Für die breitere Öffentlichkeit werden von den wahlwerbenden Parteien, wie es scheint, mehr denn je Theaterstücke aufgeführt, die einerseits spontane, wenn auch vielleicht etwas widerwillige Akzeptanz generieren, ein Sich-Fügen angesichts unüberwindbar scheinender „Sachzwänge“, die hauptsächlich rationales Management verlangen würden – und andererseits natürlich die bekannten Affekte aufrufen: Affekte gegen „Fremde“ und andere, für die der Staat angeblich allzu viel Geld ausgibt. Man nennt diese Konstellation heute auch „Postdemokratie“ (vgl. Crouch 2008). Ein Gesellschaftsverständnis, welches eine anspruchsvollere Konzeption sozialer Gleichheit zwar nicht unumstritten macht, aber doch als eine diskutable Option erscheinen lässt, gedeiht erfahrungsgemäß aber nur dort, wo es machtvolle kollektive Akteure gibt, die dafür sorgen, dass die Interessen der sozial relativ Schwachen, nicht allzu leicht übergangen werden können: z. B. Gewerkschaften und eben auch Organisationen der Sozialen Arbeit. Man mag von einzelnen ihrer Aktivitäten und Positionierungen halten, was man will. Doch wenn der faktische Zwang zur Rechtfertigung gegenüber solchen Akteuren wegfällt, degeneriert die politische Argumentation fast unweigerlich zu einem bloßen Unternehmen der Produktion und Reproduktion von Phrasen und Mythen.3

Im EU-Raum stellt sich dieses Problem in etwa folgendermaßen dar: Die Union selbst besitzt keine rechtlichen Kompetenzen zu anspruchsvoller Sozialpolitik. Ihre Mitgliedsstaaten wiederum können von ihren Kompetenzen aufgrund faktischer Zwänge und aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen kaum Gebrauch machen. Einerseits dürfen sie niedergelassene EU-Bürger nicht benachteiligen, andererseits sind sie verpflichtet, ihre Haushaltsdefizite in engen Grenzen zu halten, und müssen überdies noch darauf achten, „das Kapital nicht zu verschrecken“ – sodass eine stärker egalitär inspirierte Fiskal- und Sozialpolitik kaum infrage zu kommen scheint. Was dann bleibt, sind hauptsächlich Anti-Diskriminierungsgesetze (entsprechend den Vorgaben der Union) und etwas Armenhilfe (vgl. Somek 2011).4

Hierin liegt, grob skizziert, der Zusammenhang zwischen der Organisation des politischen Prozesses und den Inhalten der Politik: Demokratische, hauptsächlich auf Verfahren gegründete Legitimität garantiert nicht soziale Gerechtigkeit. Aber die Aufweichung demokratischer Standards der Entscheidungsfindung führt über kurz oder lang auch zu einer Aufweichung der Standards sozialer Gerechtigkeit. Und immer weniger stoßen sich daran. Die meisten von uns neigen nämlich dazu, ihre Präferenzen früher oder später dem anzupassen, was sie für möglich bzw. realistisch halten. Das gilt auch für politische Präferenzen. Wer zu solchen Anpassungen nicht bereit ist, sollte über ein sehr hohes Maß an Frustrationstoleranz verfügen oder beamteter Philosoph sein.

Mit voranschreitender Postdemokratisierung, vor allem in der Krise, werden die Organisationen der Sozialen Arbeit und ihre Mitglieder, würden sie sich auch gerne als politische Subjekte begreifen, zusehends zu Objekten der Politik. „Politik der Sozialen Arbeit“ bedeutet unter diesen Vorzeichen vor allem Verfügen bzw. Bestimmen über die Soziale Arbeit, und nicht: Politik, die von der Profession betrieben wird. Das ist für sie angesichts ihres Selbstverständnisses besonders bitter. Der erhöhte Effizienz- und Wettbewerbsdruck ist aber nicht nur ein Merkmal der Entpolitisierung sozialer Gerechtigkeit, und er bewirkt nicht nur Entsolidarisierung zwischen den Organisationen und ihren Mitgliedern. Er untergräbt tendenziell auch die Moral der in der Sozialen Arbeit Tätigen, mithin das, was zu einem guten Teil deren Motivation für die alltägliche Arbeit an der „Front“ ausmacht. Damit sind wir bei der Frage angelangt, was für eine Rolle dem individuellen Habitus sowie der Arbeit in und an Mikrokontexten zukommt, wenn es gilt, soziale Gerechtigkeit zu implementieren.


6. Institution und individuelle Tugend
Institutionen sind auf „entgegenkommende Tugenden“ (Habermas) angewiesen. Keine gesellschaftliche Ordnung kann lange Bestand haben, wenn sich die Einzelnen nicht im Großen und Ganzen auch ohne Aussicht auf Sanktionen an die Regeln des Zusammenlebens halten, ob sie die Regeln nun tatsächlich affirmieren, bloß akzeptieren oder einfach unreflektiert-habitualisiert befolgen. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft hängt aber nicht nur von den Institutionen und der Bereitschaft auf Seiten der Gesellschaftsmitglieder ab, sich an die Regeln zu halten, sondern auch von einem Ethos, das sich nicht in explizite Regeln übersetzen und institutionalisieren lässt (vgl. Cohen 2000:Kap. 8 und 9). Mehr noch: Die Gestaltung der Institutionen selbst wird durch dieses Ethos beeinflusst. Nehmen wir das Steuersystem: Wie dieses vernünftigerweise aussehen soll, ist nicht unabhängig davon, wie viel finanziellen Anreiz die sogenannten „Leistungsträger“ benötigen, um sozial nützliche Leistungen zu erbringen. Reagieren sie auf höhere Steuern sofort mit Leistungsverweigerung oder Steuerflucht, oder begrüßen sie sie als etwas, das es leichter macht, ein Leben gemäß den eigenen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zu führen? Es ist keineswegs absurd, sich institutionellen Zwang zu wünschen, wenn dieser einen von einem Gutteil der Last befreit, sich entscheiden zu müssen, wie viel genau man wofür spendet, und außerdem garantiert, dass andere in vergleichbarer Position ähnliche Beiträge leisten. Zumal private Charity oft wenig effizient und darüber hinaus noch mit dem Makel der narzisstischen Befriedigung behaftet ist.5

Das, was Einzelne zu tun und zu unterlassen haben, hängt also zu einem großen Teil vom institutionellen Setting ab, die Gestaltung des Letzteren wiederum von dem, wozu die Einzelnen sich verpflichtet sehen. Daraus folgt, dass es keine vollständige Theorie der sozialen Gerechtigkeit geben kann, die viel mehr leistet, als bloß einige wichtige Prinzipien und Faktoren aufzulisten und zu analysieren. Wenn soziale Gerechtigkeit von Institutionen abhängt und diese wiederum von einem Ethos, das nur teilweise von den Institutionen selbst geformt wird, dann lassen sich weder die Institutionen noch das erforderliche Ethos genau bestimmen. Zumindest haben wir Grund zur Annahme, dass sich soziale Gerechtigkeit nicht in Prinzipien erschöpft, die gleichermaßen auf Institutionen und auf individuelles Verhalten anwendbar sind (vgl. Pogge 2000). Das bedeutet praktisch: Noch die schönsten Institutionen weisen, wenn sie auch nicht-triviale Freiheitsrechte gewährleisten, also nicht totalitär sind, Lücken auf, durch die Menschen unverdient ins soziale Abseits rutschen können. Auch hier ist dann individuelles Engagement bzw. ein Ethos der Solidarität gefragt.

In der Sozialen Arbeit finden wir dieses Ethos gewissermaßen professionalisiert. Dafür sorgt auch eine Ausbildung, die die solidarische Grundeinstellung theoretisch und methodisch ausstaffiert, damit diese in halbwegs effizientes Handeln übersetzt werden kann. Effizienz ist durchaus ein moralisches Desiderat. Zudem entlastet die erfolgreiche Vermittlung theoretischer Kenntnisse und methodischer Fertigkeiten den emotionalen Haushalt. Doch das Schwert ist bekanntlich zweischneidig. Der Grad, der die moralisch wünschenswerte Effizienz des Handelns und die ebenso wünschenswerte emotionale Entlastung von der Unterdrückung des solidarischen, mitfühlenden Gewissens und der Entfremdung von der Klientel trennt, ist ein schmaler. Und dort, wo Effizienzorientierung zu Effizienz- und Management-Fetischismus wird, leiden für gewöhnlich die individuelle Motivation und damit letztlich auch die Effizienz des Handelns selbst. Wo Dokumentations- und Berichtspflichten sowie die entsprechenden Kontrollen überhand nehmen, verkümmern rasch intrinsische Motivationen, selbst dann, wenn die extrinsischen Motive in dieselbe Richtung weisen.6 Zusätzlich demotivierend wirken sparprogrammbedingte Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Einkommenseinbußen.

Nur Zyniker werden diesen Prozess als eine „produktive“, weil Empathie und Solidarität erleichternde Assimilierung der Sozialarbeiter an die eigene Klientel beschreiben – als Verringerung des sozialen Gefälles, welche die notorischen Probleme der Macht, der Ungleichheit, des Paternalismus und des Respekts teilweise obsolet machen würde. Gleichwohl bliebe auch unter günstigeren Bedingungen so etwas wie ein Dilemma bestehen. Es ließe sich nur leichter aushalten. Noch die von den hehrsten Motiven der Solidarität getragene Praxis der individuellen Unterstützung sozial Schwacher und Benachteiligter muss institutionelle Rahmenbedingungen als gegeben hinnehmen. Mit der Professionalisierung dieser Arbeit ist naturgemäß das Risiko verbunden, die Institutionen zu neutralisieren und ihre Ursächlichkeit für die Schicksale der Einzelnen zu verkennen bzw. auszublenden. Soweit hat (oder hatte) die klassisch linke Skepsis recht. Doch der Verzicht auf Engagement für konkrete Einzelne zugunsten von politischen Bemühungen um institutionelle Reformen ist ebenso wenig akzeptabel. Immerhin werden dadurch Bedürftige im Regen stehen gelassen. Und solange ihre teilweise existenziellen Probleme nicht gelöst oder zumindest abgemildert worden sind, werden diese sich auch nicht nennenswert am politischen Prozess beteiligen können. Das wiederum schließt aus, dass sie sich auch nur ansatzweise als politische Subjekte, als Co-Autoren der gesellschaftlichen Ordnung erleben. Damit bliebe ein wesentliches Postulat der sozialen Gerechtigkeit aber unerfüllt, und zwar angesichts der Zeit, die größere Veränderungen in Anspruch nehmen, für sehr viele Menschen und wohl einige Generationen.


7. Utopie und Realismus
Eine weitere Komplikation im Selbstanspruch der Sozialen Arbeit ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen sozialer Gerechtigkeit als Ideal und der Notwendigkeit, hic et nunc zu handeln. Auch dieses Spannungsverhältnis ist nichts, was nur die Sozialarbeit betreffen würde. Es betrifft sie jedoch besonders augenscheinlich, wenn sie nicht bloß als Verwaltungs- und Managementpraxis bzw. als Service für die Hilfsbedürftigen begriffen wird. Gerade in Zeiten des Sparzwangs aber besteht ein starker Anreiz, genau das zu tun: also die Spannung einfach dadurch aufzulösen, dass man die eigenen Ansprüche herunterschraubt und sich mit „engineering“ in sozialen Mikrokontexten (in der eigenen Organisation sowie im Verhältnis zu den Klienten) zufrieden gibt.

Die Postdemokratie mutet eine bestimmte Art von Realismus zu, und der Gerechtigkeitsminimalismus spiegelt ihn wider. Er äußert sich in Skepsis gegenüber organisiert-kollektiven Anstrengungen, die Gesellschaft einem Gerechtigkeitsideal näherzubringen. Diese Skepsis ist nach zahlreichen Erfahrungen mit diversen politisch-ethischen Perfektionismen (religiöser wie säkularer Natur) einerseits verständlich, andererseits aber oft auch selbst von utopischen Hoffnungen geprägt. Man denke an den „Sozialschmarotzer“-Diskurs, der hauptsächlich von Verlierern handelt, die den „Leistungsträgern“ auf der Tasche lägen. Im Hang zum Moralisieren, wenn es um die sozial Schwachen geht, drückt sich bei manchen die Tatsache aus, dass sie auf Wettbewerb und Markt größere Stücke halten, als sie selbst, ansonsten ohne Sinn für Heilsversprechungen, glauben möchten – dass es sich dabei nicht nur um empirische Gegebenheiten handelt, an die sich der rationale Akteur im eigenen Interesse anpasst, sondern um Realisierungen von Werten.

Die politische Theorie kennt aber neben dem sich selbst als weitgehend amoralisch verstehenden Realismus noch eine andere Spielart, mit der man auch in der Sozialarbeit bestens vertraut sein dürfte: einen Realismus, der in der Tendenz zum Grübeln darüber besteht, was unter den notorisch suboptimalen Bedingungen moralisch geboten ist. Denn es gibt gute Gründe anzunehmen, dass wir in einer Gesellschaft mit gerechten Institutionen, in der wir uns zudem darauf verlassen können, dass alle anderen moralisch einwandfrei handeln, etwas andere Pflichten haben als in einer Gesellschaft, deren Institutionen und deren Mitglieder sich durch gröbere moralische Unzulänglichkeiten auszeichnen. (Wenn alle anderen korrupt sind, kann von mir nicht erwartet werden, dass ich fair agiere.) Eine realistische, also nicht-ideale Theorie befasst sich gerade mit der Frage, wer was unter Bedingungen solcher Unzulänglichkeiten zu tun hat (vgl. Robeyns/Swift 2008).

Eine ideale Theorie sozialer Gerechtigkeit dagegen berücksichtigt zwar einige elementare Tatsachen des Lebens (wie ein gewisses Maß an Güterknappheit und die Beschränktheit des Altruismus), ist also nicht einfach ein luftiger Tagtraum. Aber von anderen, genauso offenkundigen Merkmalen des sozialen Lebens abstrahiert sie: insbesondere von ethischen Meinungsverschiedenheiten und der verbreiteten Nichterfüllung moralischer Vorgaben (selbst wenn diese unumstritten sind).

Eine auf Soziale Arbeit als Institution und Praxis zugeschnittene Gerechtigkeitstheorie wird naturgemäß zum größten Teil eine nicht-ideale Theorie sein. Immerhin wäre unter idealen, wenn auch nicht phantastischen Bedingungen deutlich weniger Sozialarbeit nötig. Zumindest würden heute viele der direkt ungleichheits- und armutsbedingten Probleme wegfallen. Wenn die Beschränkung auf un- oder allenfalls mikropolitisches „business as usual“ faktisch zu einer Verfestigung der ungerechten sozialen Institutionen beiträgt, so scheint eine nicht-ideale, eben realistische Theorie sozialer Gerechtigkeit den ideologischen Überbau dafür abzugeben. Doch dieser Anschein trügt insofern, als jede Praxis, die auf eine Verbesserung der Gesellschaft abzielt und dabei gewisse moralische Beschränkungen, wie sie sich etwa aus den Menschenrechten ergeben, berücksichtigen möchte, auf nicht-ideale Erwägungen angewiesen ist. Vernünftiges politisches Denken handelt eben nicht nur von der Wünschbarkeit bestimmter sozialer Zustände und ihrer prinzipiellen Möglichkeit, sondern auch davon, wie man diese Zustände mit moralisch vertretbaren Mitteln erreicht. Zumal man mit den Uneinsichtigen und Unwilligen nicht alles machen darf. Auch sie haben Rechte. Hinzu kommt, dass ideale Theorien bzw. utopische Konzeptionen der Gerechtigkeit aufgrund ihrer hochgradigen Abstraktheit ebenfalls die Tendenz aufweisen, politisch zu paralysieren (Farrelly 2010) – ganz abgesehen davon, dass sie selbst noch als reichlich abstrakte Theorien umstritten sind, da sich nicht im luftleeren Raum weltabgewandter Geistigkeit entwickelt werden können, sondern schon in ihren Begriffen immer Spuren realer, konkreter Konflikte und Erfahrungen aufweisen. Auch die Elfenbeintürme und ihre Bewohner sind Teil der Gesellschaft.

Was kann man nun den politisch Ambitionierteren in der Sozialen Arbeit raten? Die Antwort darauf kann nur lauten: „Nichts Bestimmtes.“ Die krisenbedingt verschärften Bedingungen für ihr Wirken sowie die relative Machtlosigkeit nötigen ihnen ohnehin viel Pragmatismus und Bescheidenheit ab. Realismus braucht man ihnen also nicht extra zu empfehlen. Ideale Theorien wiederum, wie etwa jene berühmte von John Rawls (1975), helfen bei der Bewältigung des (politischen) Alltags nur wenig. Aber auch die völlige Abwendung von abstrakten Idealvorstellungen in Bezug auf soziale Gerechtigkeit, wenn sie denn überhaupt möglich ist, hat ihren Preis: Sie lässt schwer verständlich werden, was als Verbesserung oder Verschlechterung der Situation gelten kann, und aus welchen Gründen. Denn um sagen zu können, dass da und dort ein Fortschritt oder Rückschritt zu verzeichnen ist, benötigt man zumindest eine vage Idee vom Optimum. Wir bleiben somit auch im Rahmen einer Realpolitik der Gerechtigkeit, wenn schon nicht auf eine elaborierte Theorie, so doch auf so etwas wie einen utopischen Horizont angewiesen. Tatsächlich benötigen wir diesen Horizont noch mehr in einer Zeit, da die politisch-ökonomischen Institutionen trotz aller technokratischen Betriebsamkeit so laut ächzen wie schon lange nicht mehr. Jedenfalls aber lässt die pragmatische Fixierung auf Kompromisse nach und nach den Sinn für den Gehalt und den Wahrheitswert von Überzeugungen sowie für das moralische Gewicht der Interessen schwinden, zwischen denen ein Kompromiss ausgehandelt wird. Im Fall der Sozialen Arbeit würde sie auch den Selbstanspruch und damit das Selbstverständnis einer ganzen Profession völlig aushöhlen.


8. Konklusion
Ziehen wir ein Fazit: Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise hat einige fundamentale Spannungen jeder Politik und sonstigen Praxis der sozialen Gerechtigkeit noch deutlicher sichtbar gemacht. In den strategischen Problemen einer sich nicht bloß als Elendsverwaltung verstehenden Sozialen Arbeit treten diese Spannungen besonders offen zu Tage. Von ein paar Bemerkungen zur Reichweite und den inhaltlichen Postulaten der sozialen Gerechtigkeit abgesehen, habe ich vor allem zwei Spannungsfelder etwas näher beleuchtet: 1) das Verhältnis zwischen der richtigen Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Institutionen und einer Praxis der effizienten Intervention in Mikrokontexte zur Beförderung von Interessen Benachteiligter; 2) das Verhältnis zwischen Gerechtigkeitsideal und Gerechtigkeitspolitik unter komplexen Bedingungen moralischer Suboptimalität.

1) Ungerechtigkeit auf der Ebene der Institutionen tendiert dazu, den Effizienzdruck auf die Einzelnen und die Organisationen zu erhöhen. Das wiederum verringert typischerweise die politische Schlagkraft der Profession. Zusätzlich beeinträchtigen weitere Bürokratisierung und Kontrolle der sozialarbeiterischen Aktivitäten sowie Prekarisierung leicht die Motivation der Beschäftigten. Darunter leidet am Ende, so darf man vermuten, die Effizienz selbst. Doch auch unter günstigeren Bedingungen weisen die beiden Zielsetzungen, gesellschaftlichen Wandel zu fördern und Individuen zu unterstützen, nicht in exakt dieselbe Richtung, bisweilen sogar in entgegengesetzte. Die Gerechtigkeitsarbeit an Mikrokontexten kann dazu führen, dass gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen als weitgehend neutral und unproblematisch erscheinen. Demgegenüber muss politisches Handeln bezogen auf die nationale oder gar die globale Gesamtgesellschaft oft die dringendsten Bedürfnisse der sozial Schwachen unbefriedigt lassen, sodass diese nicht daran teilnehmen können und ein wichtiges Postulat sozialer Gerechtigkeit unerfüllt bleibt.

2) Was die Gerechtigkeitspolitik selbst angeht, so stellt sich unweigerlich die Frage nach dem rechten Maß an Pragmatismus, Realismus und Kompromissbereitschaft. Auch hier gibt es keine einfachen und allgemeinen Antworten, die zudem noch hilfreich wären. Pragmatismus, Realismus und Kompromissbereitschaft muss man den Vertreterinnen und Vertretern der Profession kaum extra nahelegen. Die Zwänge und Beschränkungen, die sich aus der gegenwärtigen Organisation und Verteilung politischer Macht ergeben (besonders in Krisenzeiten), sind schwer zu ignorieren. Eher wäre etwas mehr Utopismus anzuraten, möchte man meinen. Doch auch mit einer verstärkten Orientierung an Idealvorstellungen geht man Risiken ein: neben dem Risiko der Frustration nicht zuletzt das der Paralyse, des sich Verlierens in allzu abstrakten Diskussionen über die Ideale selbst. Überlässt man diese Debatten hingegen vollends der akademischen Philosophie und radikalistischen Poseuren in den Feuilletons der Qualitätszeitungen, verblassen die Werte, von denen in der Selbstbeschreibung die Rede ist, und alles, was bleibt, ist Sozialmanagement sowie Selbstdisziplinierung und Disziplinierung anderer.

Das ist wenig befriedigend, und es ist zweifellos noch unbefriedigender für eine selbstbewusste Profession, deren hehres Leitbild, wie mir scheint, mehr ist als ein Marketinggag. Aber wer diese Komplikationen zur Kenntnis nimmt, verfügt zumindest über ein etwas besseres Verständnis von der Funktion und der Situation der Sozialen Arbeit.


Verweise
1 Was die Bekämpfung globaler Armut angeht, so können sich schwache Partikularisten und Kosmopoliten relativ leicht auf einige Forderungen einigen, insbesondere auf die Abschaffung des Rechts von Regierungen souveräner Staaten, frei über die natürlichen Ressourcen des eigenen Landes zu verfügen und nach Belieben Kredite auf dem globalen Kapitalmarkt aufzunehmen. Diese beiden Privilegien fördern nicht nur Unverantwortlichkeit, Misswirtschaft und Korruption, sondern bieten überdies noch einen Anreiz, sich gewaltsam an die Macht zu bringen. Siehe Pogge 2002, 112-116.
2 Bisweilen macht er sich auch im Jargon bemerkbar, etwa in der infantilisierenden Rede von den Menschen, die irgendwo „abgeholt“ werden müssten.
3 Man denke nur an die nach wie vor populäre, gleichwohl empirisch wie theoretisch bereits seit einiger Zeit desavouierte Idee des „trickle-down“. Ihr zufolge sickern Wohlstandsgewinne der Reichen geradezu naturgesetzlich zu den Armen durch, sodass nennenswert gleichmäßigere Verteilungen von Einkommen und Vermögen immer mit Wohlstandsverlusten für die Armen verbunden wären. Zu dieser und weiteren „Zombie-Ideen“ Quiggin 2010.
4 Der gängige neoliberale Diskurs erscheint daher auch weniger als Ausdruck genuiner ideologischer Überzeugungen denn als ein Produkt der Anpassung an als unverfügbar erlebte strukturelle Zwänge. Bezeichnenderweise bekennt sich kaum jemand zum Neoliberalismus. Die für diesen typischen Lehrsätze von der Effizienz des Wettbewerbs, den „trickle-down“-Effekten und der hohen sozialen Mobilität in Marktgesellschaften werden, so hat man oft den Eindruck, hauptsächlich vorgetragen, um zu suggerieren, dass der eigenen Politik durchaus noch ein Plan, ein Programm oder eine „Vision“ zugrunde liegt. Tatsächlich aber hat man politische Überzeugungen heute recht weitgehend an Institutionen delegiert. Der Pragmatiker und Realist überlässt die Ideologie den Institutionen, denen er sich unterwirft – und wähnt sich dabei frei von Ideologie. Im Fall der neoliberalen Ideologie funktioniert das auch deshalb so gut, weil Staaten und Organisationen wie die EU gerade in Krisenzeiten viel in die Wirtschaft intervenieren und keineswegs den Markt einfach gewähren lassen. Sie betreiben augenscheinlich permanent kleineres und größeres Krisenmanagement, allerdings nur schwach bis gar nicht demokratisch legitimiert. Grundlegende Parameter bleiben dabei naturgemäß unangetastet.
5 Zweifellos sind viele der relativ Wohlhabenden zwar bereit, für alle möglichen „guten Zwecke“ zu spenden, aber für die wenigsten dürfte soziale Gerechtigkeit das Hauptmotiv sein – im Gegensatz zu Mildtätigkeit und der eigenen Reputation. Sie neigen ja auch dazu, politisch organisierten sozialen Ausgleich (soweit er über „treffsichere“ Armenhilfe hinausgeht) abzulehnen. Ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit ist eine reichlich minimalistische und gewiss stark geprägt von den eigenen Interessen bzw. dem, was dafür gehalten wird. Großer Wohlstand mag dieser Vorstellung zufolge zwar moralische Verantwortung mit sich bringen. Als Gründe dafür werden aber nur selten Erwägungen sozialer Gerechtigkeit ins Treffen geführt. In der neoliberalen Sozialphilosophie, wo man ganz unverblümt reden und schreiben kann, wird soziale Gerechtigkeit bisweilen überhaupt als gefährliches, totalitäre Tendenzen beförderndes „Trugbild“ denunziert. Das gilt insbesondere für die Idee einer Gerechtigkeit der Verteilung von anderen Gütern als Freiheitsrechten (Hayek 1976; vgl. dazu Sturn 2006). Rechte Libertäre – die gewissermaßen den neoliberalen Hardcore bilden – vergleichen Besteuerung, die nicht bloß der Finanzierung des Rechtsdurchsetzungsapparats dient, gar mit Zwangsarbeit und Sklaverei (Nozick 1974, 169). Dass freiwillige Vermögenstransfers zu den Armen wünschenswert wären, bestreiten sie aber nicht.
6 Das ist auch im Wissenschaftsbetrieb so, wo das Evaluieren mittlerweile eine Dynamik angenommen hat, die jegliche genuin intellektuelle Neugier zu ersticken droht.


Literatur
Cohen, G. A. (2002): If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich?, Cambridge: Harvard University Press.
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Farrelly, Colin (2010): “Mind the Gap: Beneficence and Senescence“, in: Public Affairs Quarterly 24/2, 115-130.
Hayek, Friedrich August von (1976): Law, Legislation, and Liberty: The Mirage of Social Justice, Chicago: University of Chicago Press.
Hiebaum, Christian (2011): Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit: Zu einigen partikularistischen Argumentationslinien und kosmopolitischen Alternativen, in: Jahrbuch Politisches Denken (in Druck).
Koller, Peter (2001): „Zur Semantik der Gerechtigkeit“, in: ders. (Hg.), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, Wien: Passagen, 19-46.
Nozick, Robert (1974): Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books.
Pogge, Thomas (2000): “On the Site of Distributive Justice: Reflections on Cohen and Murphy“, in: Philosophy and Public Affairs 29, 137-169.
Pogge, Thomas (2002): World Poverty and Human Rights, Cambridge: Polity Press.
Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Robeyns, Ingrid/Swift, Adam (eds.) (2008): Social Justice: Ideal Theory, Nonideal Circumstances, Social Theory and Practice (Special Issue) 34/3.
Quiggin, John (2010): Zombie Economics: How Dead Ideas Still Walk Among Us, Princeton & Oxford: Princeton University Press.
Seithe, Mechthild (2011): „Soziale Arbeit – autonome Profession oder Büttel der neoliberalen Politik?“, in: SiO – Zeitschrift für Soziale Arbeit, Bildung und Politik, Ausgabe 2, 8-11.
Somek, Alexander (2011): Engineering Equality: An Essay on European Anti-Discrimination Law, Oxford: Oxford University Press.
Sturn, Richard (2006): „Soziale Gerechtigkeit als Trugbild? Ebenen radikaler Wohlfahrtsstaatkritik“, in: Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 5, 13-38.


Über den Autor

ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christian Hiebaum
christian.hiebaum@uni-graz.at

Studium der Rechtswissenschaften; 1997-2007 Rechtsberater bei der Männerberatungsstelle Graz; 2003 Habilitation für Rechts- und Sozialphilosophie sowie Rechtssoziologie; seit 2003 Dozent am Institut für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsinformatik der Universität Graz.
Arbeitsschwerpunkte: Rechtstheorie; Theorie der sozialen Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Demokratie. Publikationen: Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität, Berlin – New York: Walter de Gruyter: 2004; Bekenntnis und Interesse. Essay über den Ernst in der Politik, Berlin: Akademie Verlag 2008.