soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 8 (2012) / Rubrik "Thema" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/243/368.pdf


Martina Alder:

Die (sozial-)räumliche Positionierung wohnungsloser Frauen


Dieser Artikel basiert auf der derzeit am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien in Fertigstellung befindlichen Dissertation mit dem Thema "Wohnungslose Frauen und ihre Positionierung im sozialen und im physischen Raum". Die Wohnungslosigkeit von Frauen als Forschungsgegenstand fand erst in den letzten Jahren Eingang in sozial(arbeits-)wissenschaftliche Disziplinen. Bei der Durchsicht und Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Problemfeld wurde deutlich, dass immer wieder auch räumliche Aspekte in Arbeiten und Begriffen zur Sprache kommen. Der Begriff der "versteckten Wohnungslosigkeit" (vgl. Planer/Stelzer-Orthofer 1992, Enders-Dragässer/Sellach 2000, Novak/Schoibl 2000, u. a.) von Frauen etwa beinhaltet Problemstellungen, deren Ursprung aus politikwissenschaftlich-feministischer Perspektive in der dichotomen Trennung von öffentlichen und privaten Räumen und deren geschlechtlichen Zuschreibungen fußt. Die politikwissenschaftliche und (sozial-)räumliche Perspektive, aus der sich diese Arbeit dem Untersuchungsgegenstand nähert, erweitert den Blick auf die Wohnungslosigkeit von Frauen. Sie wird unter den Vorzeichen einer Struktur des physischen Raums betrachtet, die "öffentliche" und "private" Bereiche trennt, und diese mit der Struktur des sozialen Raums (vgl. Bourdieu 1991 bzw. 1998), in dem wohnungslose Frauen bestimmte Positionen einnehmen, verknüpft. So kann das Zusammenspiel zwischen der Positionierung wohnungsloser Frauen im sozialen Raum und im physischen Raum analysiert und offen gelegt werden.

Der Artikel gliedert sich in eine Erörterung der politikwissenschaftlich-theoretischen Perspektive und der Methodik der Forschungsarbeit sowie die Darstellung erster Ergebnisse.


1. Theoretische Perspektive
Das Analysemodell zur Untersuchung der Wohnungslosigkeit von Frauen aus (sozial-)räumlicher Perspektive konstituiert sich aus den beiden Grundkategorien sozialer Raum und physischer Raum. Die Positionierungen von wohnungslosen Frauen im sozialen Raum nach Pierre Bourdieu und im physischen Raum werden in ihren wechselseitigen Bedingungen analysiert. Dies entspricht der Hauptforschungsfrage: Wie wirkt die Position von wohnungslosen Frauen im sozialen Raum auf ihre Position im physischen Raum, und wie wirkt diese wieder auf ihre Verortung im sozialen Raum? Die beiden Grundkategorien sozialer Raum und physischer Raum werden mithilfe von Unterkategorien, entwickelt aus dem theoretischen Ansatz und dem Forschungsstand zur Wohnungslosigkeit von Frauen, näher konzeptualisiert. Die Position der wohnungslosen Frauen im sozialen Raum konstituiert sich aus den Faktoren Kapitalbesitz (ökonomisch, sozial, kulturell, symbolisch), Habitus und Geschlecht. Die Kategorie Position im physischen Raum manifestiert sich in den Praktiken und Taktiken wohnungsloser Frauen, Räume zu definieren, sich anzueignen oder zu meiden. Insbesondere geht es hier um das Verschwimmen der traditionellen Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Räumen, wenn etwa unter den spezifischen Bedingungen der Wohnungslosigkeit Privatheit in sonst öffentlichen Räumen hergestellt werden muss.

Es ist zu betonen, dass auch zwischen den einzelnen Unterkategorien enge Verbindungen und Wechselwirkungen bestehen, deren Herausarbeitung im Problemfeld Wohnungslosigkeit von Frauen ebenfalls Ziel der Analyse ist. So kann beispielsweise das Geschlecht Einfluss auf den Kapitalbesitz haben (vgl. Fichtner 2005: 48), der Kapitalbesitz manifestiert sich im Habitus (vgl. Bourdieu 1976: 229f.)


2. Methodik und Feldzugang
Ausgehend von den theoretischen Fragestellungen wurde ein methodischer Zugang entwickelt. Zunächst wurden zwei explorative Expertinneninterviews mit Sozialarbeiterinnen durchgeführt, um das Studium des Forschungsstandes zur Wohnungslosigkeit zu erweitern und einen ersten Feldeinblick zu erlangen. Auf dieser Basis wurde dann auch das Design der Interviews noch einmal überarbeitet. Dieses Design bestand aus einer narrativ-biographischen Einstiegsfrage und einer Erzählaufforderung. Anschließend dienten kreative Elemente als Gesprächsimpuls für die Frauen. So wurden sie aufgefordert, ein Bild ihrer sozialen Netze zu zeichnen, aus fünf Symbolen (ein Schlüssel, eine Feder, eine Blume, eine Muschel, eine Schüssel mit und ohne Deckel) zum Begriff "Zuhause" auszuwählen und zu reflektieren, und auf Wien- Stadtplänen positiv und negativ besetzte Orte zu markieren. Insgesamt wurden acht Interviews mit wohnungslosen Frauen geführt. Diese Interviews verliefen sehr unterschiedlich, aber alle sehr positiv und mit hohem Informationswert für die Forschung. Einige Frauen nutzten die kreativen Elemente stark als Ausdrucksform, andere blieben eher bei der narrativen Einstiegsfrage. In diesem Fall beharrte ich auch nicht auf der Durchführung der kreativen Methoden. Das Material wurde aufgenommen und transkribiert. Ausgewertet wurde im Sinne der "Grounded Theory" und gegenstandsbezogenen Theoriebildung. (vgl. Glaser/Strauss 1967, Flick et al. 1991) Erste Kategorisierungen erfolgten in einer Mischung aus theoriebasierten Begriffen und aus den Daten heraus. Das ganze Material wurde zunächst offen kodiert, besonders wesentliche Stellen auch mithilfe des axialen Kodierens näher ausgewertet. Die Ergebnisse der empirischen Auswertung flossen "zirkulär" wiederum in das theoretische Modell ein. So erwies sich zum Beispiel die strikte Trennung der Kategorien "öffentlich" und "privat" in der Lebenswelt der Frauen als nicht haltbar, körperlich- räumliche Aspekte wurden stärker einbezogen als zunächst erwartet.


3. Darstellung erster Ergebnisse
3.1 Positionierung der wohnungslosen Frauen im sozialen Raum - Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital
Die Darstellung der Möglichkeiten der Frauen, eigenes existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften und die Darstellung der Einkommensquellen (Erwerbsarbeit, Sozialstaat, soziale Beziehungen) werden auch im Zusammenhang mit anderen Kategorien erörtert. Das Geschlecht hat, wie im Theorieteil gezeigt wurde, wesentlichen Einfluss auf das Einkommen. Der manifestierte und sich weiter manifestierende Habitus strukturiert den Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt. Der (Sozial-)Staat hat nach Bourdieu (vgl. Bourdieu 1997: 7) die Möglichkeit, Individuen und Dinge einzuteilen und zu bewerten. Somit strukturieren sozialstaatliche Leistungen die soziale Welt und haben Einfluss auf die eigene subjektive Verortung der Frauen im sozialen Raum. Die bürokratischen Regelungen und damit verbundenen Behördenwege rund um den Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen wie Mindestsicherung oder auch der Zugang zu einer Gemeindewohnung bilden einen wesentlichen Teil des Alltagslebens der Frauen. Damit einhergehende Erfahrungen und Begrenzungen führen für die Frauen auch zu Gefühlen des Kontrollverlustes und der Abhängigkeit:

"Wenn man durch das ganze bürokratische Ding durch muss und immer nett freundlich sein muss. Das ist glaub ich die schwierigste Aufgabe und ich kenn viele Leute die sagen, sie packen diesen ganzen Papierkram, das ganze bürokratische Dings nicht, deswegen beantragen sie nicht einmal mehr die Mindestsicherung." (I5)

Die subsidiäre Ausrichtung sozialstaatlicher Leistungen erschwert den Frauen den Zugang zu diesen und wirkt sich in einer Lebenssituation mit mangelndem ökonomischem und sozialem Kapital auch auf ihre subjektive Verortung aus:

"Das hab ich mir von Ämtern auch schon anhören können: ,Dann borgen Sie sich doch bitte von Freunden oder von familiären Leuten a Geld aus.` Ja wie stellen die sich das vor?" (I5)

Die Bildungserfahrungen der Frauen sind nach ersten Auswertungen der Interviews ganz unterschiedlich. Auch die eigene Einschätzung des Bildungsstandes variiert ganz stark und hängt mit der eigenen sozialen Verortung und auch mit der Einschätzung des Wohnungsnotfalls als "vorübergehende Krise" oder als Bestandteil der eigenen Biografie zusammen. Auch der Interviewabschnitt über die Zukunftswünsche der Frauen zeigt, dass viele der Frauen den Wunsch nach Bildung als wesentlichen Teil der Zukunftsplanung nennen. Der Erwerb von kulturellem Kapital ist eng verknüpft mit dem sozialen Kapital, insbesondere der Herkunftsfamilie. Nach Bourdieu (vgl. Bourdieu 1983: 196) hängt die Akkumulation von kulturellem Kapital in hohem Ausmaß auch vom Kapitalbesitz der Herkunftsfamilie ab.

"Wahrscheinlich wenn ich jetzt weiter Schule gehen würde, würde ich genauso eine gebildete Frau werden, aber dazu muss man halt die Zeit haben und überhaupt die Schule haben. Das kommt ja nicht von der Luft." (I8)

Weite Abschnitte der Interviews beschäftigen sich in unterschiedlichen Facetten mit dem sozialen Kapital der Frauen. Soziale Beziehungen werden unterschiedlich empfunden. Teils als große Ressource der Unterstützung zur Bewältigung des Wohnungsnotfalls oder auch des alltäglichen Lebens, wobei sowohl noch Kontakt zur Herkunftsfamilie und Freunden genannt wurde, als auch Kontakt zu anderen wohnungslosen Frauen. Soziale Beziehungen konnten aber auch große Problematiken aufwerfen. Die Frauen berichteten von Gewalterfahrungen in Herkunftsfamilie und intimen Beziehungen. Die "Straßenszene" war in den Schilderungen der Frauen einerseits hilfreiche soziale Ressource, andererseits gerade im Zusammenhang mit Suchterkrankungen auch Faktor, der nach Bewältigung des manifesten Wohnungsnotfalls vermieden wurde, um nicht wieder in frühere Verhaltensmuster zu fallen. Eine drogenabhängige Frau berichtete von den Schwierigkeiten, den ehemaligen Kontakten und somit der Gefahr eines Rückfalls auszuweichen. Dies wirkt sich auch auf ihre Nutzung des öffentlichen Raums aus, indem sie für sie gefährdete Orte (Karlsplatz-Passage etc.) meidet. (I2)


3.2 Raum und Körperlichkeit
Die Wohnung wird, nach der biologischen, eigenen Haut und der Kleidung auch als "dritte Haut" bezeichnet. (vgl. Helfferich 2000: 140) Ohne diese "dritte Haut" müssen von wohnungslosen Frauen andere Strategien entwickelt werden, um sich vor äußeren Einflüssen - Kälte und Witterung, aber auch unerwünschte Kontaktaufnahme und Eingriffe in die körperliche Integrität durch fremde Personen - zu schützen. Die Frauen reagieren mit unterschiedlichen Strategien auf diese Herausforderung, die sich auch in ihrem Habitus manifestieren. Einige ziehen sich zurück und meiden bestimmte Orte und Räume, andere wenden offensive oder aggressive Verhaltensmuster an. Auch psychiatrische Auffälligkeiten können als mögliche Schutzstrategie gegen unerwünschte Kontaktaufnahme gesehen werden. Psychiatrische Erkrankungen führen für betroffene Frauen häufig zu einer inneren und äußeren "Ortlosigkeit": "Also ich hab diesen Festigungspunkt noch nicht." (I2) Das Fehlen eines Rückzugsraums, in dem Ruhe, Schutz und Erholung gefunden werden können, brachte es für einige Frauen mit sich, diesen Rückzug durch Substanzmissbrauch oder durch Verletzungen des eigenen Körpers unabhängig von räumlichen Bedingungen zu schaffen.

"Und wenn man was nimmt, ist einem alles wurscht, da könnt neben mir wer sterben und ich würd sagen: ,He da liegt ein Toter‘. Es ist halt dieses Wurschtigkeitsgefühl." (I3).

Eine andere Frau berichtete von der Herstellung eines inneren "Schutzraumes" angesichts der großen Schwierigkeiten bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen während eines manifesten Wohnungsnotfalls:

"Aber ich versteh´ s auch, wenn man auf der Straße lebt, kann man eigentlich froh sein, dass es nur der Alkohol ist (...) Kann man halt besser schlafen." (I4).

Der eigene, private Raum und der eigene Körperraum sowie eigene Körpergrenzen sind eng miteinander verwoben. Eine eigene Wohnung, ein Zuhause zu haben, wird auch als "Puzzleteil" des Ichs beschrieben (I1). Eine Frau berichtete von der Demolierung ihrer alten Wohnung durch einen gewalttätigen Expartner:

"Und jede Kleinigkeit was er zerkratzt oder zerhauen hat, hat mir so wehgetan, dass ich es einfach nicht mehr aushalten konnte." (I8)


3.3 Privatheit (er-)leben unter den Bedingungen des Wohnungsnotfalls
Neben der Erfüllung der Grundbedürfnisse schienen die wesentlichen Funktionen einer eigenen Wohnung für die Frauen Rückzugs- und Regenerationsmöglichkeiten darzustellen:

"Dass ich nachhaus komm und zusperr und meine Ruh hab. Das war‘s eigentlich."(I3)

Wenn diese Möglichkeit fehlt, erweist sich die Erschließung öffentlicher Räume eher als Zwang, um Strategien für die Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Herstellung eines Mindestmaßes an Privatheit und Erholung in sonst öffentlichen Räumen zu entwickeln:

"Auf der Straßn leben, bedeutet nicht wirklich frei zu sein, weil man ist immer abhängig von etwas. Auf der Straße die Freiheit wär eigentlich das Grüne die Natur. Das wär so der Traum gwesen. Und die Schüssel würd als Symbol dafür stehen, dass man doch jedes Mal Hunger hat, wenn‘s nix zum Essen gibt. Und so die Reise bleibt dann fern. Die Freiheit und dieses Wohlfühlen ist es dann auch wieder nicht. Es bleibt dann alles so ein Traum. Und das ist dann immer so ein Mittelding, entweder ich spar besser oder ich hab was zum Essen." (I5)

Die Versuche und Strategien, private Räume innerhalb von öffentlichen Räumen zu schaffen, werden auch von außen zunehmend erschwert. Eine fortschreitende Ökonomisierung öffentlicher Räume führt zu immer geringeren Möglichkeiten der konsumfreien Nutzung (vgl. Lauen 2011, Siebel 1994, Singelnstein/Stolle 2011). Eine Frau betonte explizit das Vermeiden von Einkaufsstraßen aufgrund von Stigmatisierungserlebnissen wegen ihrer Kleidung. Diese Verknüpfungen wirken stark auf das Selbstbild der eigenen sozialen Verortung zurück. Gerade im Bereich von Einkaufsmöglichkeiten wird der Zugang für Wohnungslose oftmals schon durch die Stadtplanung erschwert und Verweilmöglichkeiten baulich verhindert. (Singelnstein/Stolle 2011: 57ff.) Dieses Erschweren der Nutzung sowohl durch symbolisches Kapital als auch baulich-materiell wirkt sich auf die soziale und die räumliche (Selbst-)Verortung der Frauen aus.

Eine weitere Funktion der eigenen Wohnung ist die Möglichkeit, soziale Kontakte stattfinden zu lassen, Leute einzuladen (I1, I4, I5) und somit sich selbst auch im sozialen Raum zu positionieren und symbolisches Kapital zu erhöhen. (vgl. Bourdieu 1991: 31) Dies findet unter den Bedingungen der Wohnungslosigkeit vorwiegend im öffentlichen Raum statt. Hier verschwimmen besonders die Kategorien "öffentlich" und "privat", wenn in Ermangelung privater, besetzbarer Räume der öffentliche Raum für die Herstellung und Verfestigung sozialer Beziehungen genutzt wird.


3.4 (Un-)Sicherheiten: Sicherheitsdiskurs, Gewaltbedrohung und Schutzstrategien
Exklusionserfahrungen und die Strukturierung ihrer Raumnutzungspraktiken durch staatliche AkteurInnen stellen für die interviewten wohnungslosen Frauen einen wesentlichen Teil ihrer Alltags- und Lebenswelt dar. Sie wurden aus unterschiedlichen Räumen mit unterschiedlichen Begründungen (meistens Verwaltungsübertretungen) ausgeschlossen oder am Verweilen an verschiedenen Orten gehindert. Diese Erfahrungen bewirkten unterschiedliche Habitus-Reaktionen bei den Frauen (von Selbstausschluss bis Aggression). Ganz häufig wurde die Exekutive als großer Problemfaktor bei der Bewältigung des Straßenalltags genannt. Diese Erfahrungen sind auch einzubetten in einen größeren Sicherheitsdiskurs, der bestimmte Gefahren(-gruppen) konstruiert und ihnen mit exkludierenden Strategien begegnet, um subjektive "Sicherheit" für andere Personengruppen herzustellen. (vgl. Belina 2005, Lauen 2011) Die wohnungslosen Frauen werden innerhalb dieses Diskurses als ein Teil dieser Gefahrengruppe gesehen. Das Leben unter den Bedingungen eines Wohnungsnotfalls stellt an die Frauen aber auch ganz spezifische Herausforderungen, die eigene Sicherheit und Integrität zu schützen.

Die sozial und kulturell konstruierte Einteilung privat - sicher, öffentlich - unsicher muss nicht zuletzt angesichts der großteils in privaten Räumen und Lebenszusammenhängen verübten Gewalt gegen Frauen in Frage gestellt werden. Wenn der private Raum von den Frauen als nicht geschützt erlebt wird oder wurde, müssen andere Strategien zur Herstellung von Schutz und Privatheit angewendet werden:

"Das ist ein Schutz, ein Ding rund um dich zu haben. Das Schlimme ist, wenn du in einem Schutzraum verletzt wirst. Die Frage ist, was bei Frauen passiert, wenn sie in diesem Rückzugsraum misshandelt werden." (E1)

Einige Frauen, die schon seit der Kindheit lange Gewalterfahrungen im sozialen Nahraum erlebt hatten, mussten sich Schutz und Privatheit durch eigene Strategien herstellen. Sie gingen in ihren Schilderungen sehr vorsichtig mit den eigenen Gefühlen und Bindungen um, und nach eigenen Einschätzungen fiel es ihnen schwer, enge Bindungen einzugehen. Schutz und Rückzug müssen mangels einer räumlichen Entsprechung nur um ihre Gefühlswelt herum aufgebaut werden.

Im Bezug auf die eigene Sicherheit im öffentlichen Raum nannten die Frauen ganz unterschiedliche "Angstorte" und mögliche TäterInnen. Viele der Frauen mieden bestimmte Orte nicht aufgrund der Gefahr anonymer potentieller TäterInnen, sondern wollten ganz bestimmten Menschen entgehen (gewalttätige ExpartnerInnen, frühere Kontakte aus der Straßenszene, schon bekannte ExekutivbeamtInnen). Die Frauen nannten ebenso unterschiedliche Schutzstrategien gegen Gewalt im öffentlichen Raum, die die Vermeidung bestimmter Orte oder auch einen bestimmten, teils aggressiven Habitus oder bestimmte Kleidung beinhalten. Hier spielt die Konstruktion von Geschlecht eine wesentliche Rolle, die ganz unterschiedlich gelebt wird. Teils wird dem Sicherheitsbedürfnis im öffentlichen Raum durch einen "unweiblich" vergeschlechtlichten Habitus entsprochen, an anderen Stellen wird die Nutzung mit männlicher Begleitung als sicher erlebt. Das Herstellen von Schutz ohne die "dritte Haut" der Wohnung erfordert besondere Strategien. Der vergeschlechtlichte, verkörperlichte Habitus wohnungsloser Frauen ist Produkt und Produzent verschiedenster Lebenserfahrungen und (Schutz-)Strategien, die in sozial konstruierten und strukturierten Räumen entstehen und stattfinden.


Literatur
Belina, Bernd (2005): Räumliche Strategien kommunaler Kriminalpolitik in Ideologie und Praxis. In: Glasze, Georg; Pütz, Robert; Rolfes, Manfred (Hrsg.) (2005): Diskurs - Stadt - Kriminalität. Städtische (Un-) Sicherheiten aus der Perspektive von Stadtforschung und Kritischer Kriminalgeographie. Bielefeld.
Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main.
Bourdieu, Pierre (1991): Physischer, sozialer und angeeigneter Raum. In: Wentz, M: (Hrsg.) (1991): Stadt-Räume. Frankfurt am Main.
Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.) (1983): Soziale Ungleichheit. Göttingen.
Bourdieu , Pierre; Wacquant, Loic (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main.
Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, Irene; Krais, Beate (Hrsg.) (1997): Ein alltägliches Spiel: Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main.
Bourdieu, Pierre (1998): Homo academicus. 2. Aufl. Frankfurt am Main.
Enders-Dragässer, Uta; Sellach, Brigitte (2005): Frauen in dunklen Zeiten. Persönliche Berichte vom Wohnungsnotfall: Ursachen - Handlungsspielräume - Bewältigung. Eine qualitative Untersuchung zu Deutungsmustern und Lebenslagen bei Wohnungsnotfällen von Frauen. Zielgruppen- und Bedarfsforschung für eine integrative Wohnungs- und Sozialpolitik im Forschungsverbund Wohnungslosigkeit und Hilfen in Wohnungsnotfällen. Frankfurt am Main.
Fichtner, Jörg (2005): "Dass die Leute uns nich´ alle über einen Kamm scheren". Männer in Wohnungsnot. Eine qualitative Untersuchung zu Deutungsmustern und Lebenslagen bei männlichen Wohnungsnotfällen. Zielgruppen- und Bedarfsforschung für eine integrative Wohnungs- und Sozialpolitik im Forschungsverbund Wohnungslosigkeit und Hilfen in Wohnungsnotfällen. Frankfurt am Main.
Flick, Uwe; Kardoff, Ernst; von Keupp, Heiner; von Rosenstiel, Lutz & Wolff, Steffan (Hrsg.) (1991): Handbuch qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. München.
Glaser, Barney; Strauss, Anselm (1967): The discovery of Grounded Theory. Strategies for qualitative research. Chicago.
Helfferich, Cornelia (2000): Was brauchen wohnungslose Frauen? Alltagsbewältigung, Raumerfahrung und Versorgungsangebote aus Sicht wohnungsloser Frauen. Freiburg: Sozialwissenschaftliches Frauenforschungsinstitut, Fachhochschule Freiburg.
Lauen, Guido (2011): Stadt und Kontrolle. Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten. Bielefeld.
Novak, Klaudia; Schoibl, Heinz (2000): Armut, soziale Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit von Frauen in Österreich. Salzburg.
Planer, Martina; Weitzer, Barbara; Stelzer-Orthofer, Christa: Wohnungslose Frauen- Entstehungsbedingungen und Verlaufsformen von Wohnungslosigkeit im weiblichen Lebenszusammenhang. Linz: Forschungsprojekt des Wissenschaftsladens Linz.
Siebel, Walter (1994): Die Festivalisierung der Stadtpolitik. In: Brandner, Birgit (Hrsg.) (1994): Kulturerlebnis Stadt. Theoretische und praktische Aspekte der Stadtkultur. Wien.
Singelnstein, Tobias; Stolle, Peer: Neuere Formen sozialer Kontrolle und der öffentliche Raum. In: Juridikum, Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft, 1/ 2011.


Über die Autorin

Mag.a Martina Alder, Jg. 1987
martina.alder@gmx.at

Studium der Politikwissenschaft an der Universität Wien 2005-2009; seit Oktober 2009 Dissertantin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.