soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 8 (2012) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standortredaktion Innsbruck
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/245/386.pdf


Eva Fleischer & Friederike Lorenz:

Differenz(ierung)en, Macht und Diskriminierung in der Sozialen Arbeit?


Neue Perspektiven mit dem Anti-Bias-Ansatz

„Es wäre wichtig, diese Inhalte schon früher im Studium zu bearbeiten. Im Rahmen des Praxisseminares wäre dies eine gute Möglichkeit, weil der Umgang mit dieser Thematik eine große Rolle in der praktischen Arbeit und dem Umgang mit Menschen in der Sozialen Arbeit zu tun hat.“ (Studierende_r1 der Sozialen Arbeit im 6. Semester nach einem Anti-Bias-Seminar)


1. Einführung
Vorurteile, Macht und Diskriminierung sind die zentralen Themen des transnational entwickelten Anti-Bias-Ansatzes. Die Intention des Ansatzes klingt in seinem Namen mit: „Bias“ lässt sich aus dem Englischen mit „Schieflage“ übersetzen, das „anti“ soll ausdrücken, dass es sich um einen aktiven Ansatz handelt, der sich konsequent gegen jegliche Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen wendet. Es geht also um ein aktives Wirken gegen durch Ungleichheitsverhältnisse bedingte gesellschaftliche Schieflagen (vgl. Derman-Sparks 1989: 39). In der folgenden Vorstellung des Ansatzes liegt ein besonderes Augenmerk auf seinen Potentialen für die Profession Soziale Arbeit. Anknüpfend an einen Einblick in die Hintergründe, Theorie und Arbeitsweise möchten wir daher mit Gedanken zu unserer eigenen Praxis der Vermittlung des Anti-Bias-Ansatzes an (angehende) Sozialarbeiter_innen abschließen.


2. Warum Anti-Bias in der Sozialen Arbeit etablieren?
Die kritische Reflexion von Diskriminierungen und Zuschreibungen gehört zu den Kernaufgaben Sozialer Arbeit, so Rudolf Leiprecht – denn ein zentraler Teil der Arbeit ist die Unterstützung in von kritischen Lebensereignissen und prekären Verhältnissen gekennzeichneten Situationen, die häufig mit sozialen Ungleichheiten entlang von Differenzlinien wie Geschlecht oder Klasse verbunden sind (vgl. Leiprecht 2011: 19). Um das Ziel eines „Mehr an sozialer Gerechtigkeit“ im Blick zu behalten und gleichzeitig Menschen in belastenden Lebenslagen gerecht werden zu können, haben sich in der Sozialen Arbeit diversitätsbewusste Ansätze entwickelt. Diese verlangen nach Leiprecht von den Professionellen Sozialer Arbeit eine „besondere Aufmerksamkeit“ für Differenzlinien, historische Prozesse und gesellschaftliche Machtverhältnisse sowie ein Bewusstsein für die eigene Verstrickung in diskriminierende Strukturen (vgl. ebd.: 7). Leiprecht fasst diese Herausforderungen in der Idee einer „diversitätsbewussten Sozialen Arbeit“ zusammen. Diversität wird hier explizit politisch thematisiert, im Gegensatz zu betriebswirtschaftlichen Diversity-Konzepten, deren Zielrichtung auf der Erhöhung von Produktivität und Profit liegt (vgl. Heite 2008: 79). In eine ähnliche Richtung argumentiert Silvia Staub-Bernasconi, die von einer Erweiterung des doppelten Mandates hin zu einem „Tripelmandat“ (Staub-Bernasconi 2007: 200) ausgeht. Dieses basiert auf den Menschenrechten und erfordert innerhalb der Sozialen Arbeit einen bewussten Umgang mit „Machtquellen und Machtstrukturen“ (ebd.: 398). Anti-diskriminierende Arbeit wird dabei von Staub-Bernasconi explizit als eine zentrale Handlungstheorie genannt (vgl. ebd.).

Auch Eppenstein und Kiesel setzen sich mit den Herausforderungen einer „differenzsensiblen Haltung in Kontexten organisierten Hilfehandelns“ auseinander. Sie weisen daraufhin hin, dass professionelle Soziale Arbeit, sofern sie sich nicht technokratisch vereinnahmen lässt, von jeher in Spannungsverhältnissen wie im „doppelten Mandat“ zwischen „Hilfe und Kontrolle“ handelt (vgl. Eppenstein/Kiesel 2008: 171). In Migrationskontexten können zu diesen Widersprüchen noch weitere hinzukommen, wie das „Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Dekonstruktion von Differenz“ (ebd.: 181). Diese Ambivalenzen thematisieren Otto und Schrödter auf der Ebene moderner Migrationsgesellschaften. Sie stellen fest, dass die neuere Migrationsforschung transnationale Herausforderungen aufgreift, wodurch überholte Zugehörigkeitsordnungen zunehmend in Frage gestellt werden. Der Transnationalismus halte Assimilationsvorstellungen die Bedeutung von „multiplen Bindestrich-Identitäten“ (Mecheril 2004 zit. nach Schrödter 2008: 10) entgegen. Auf diese ambivalenten Identitäten habe sich auch das Sozialwesen umzustellen. (vgl. ebd.: 9f.)

Die Anforderungen an eine diversitätsbewusste Soziale Arbeit sind demnach komplex. Es entsteht die Frage nach Ansätzen, die (angehende) Sozialarbeiter_innen in ihrer anspruchsvollen Arbeit in Spannungsfeldern unterstützen können. Als ein Widersprüche einbeziehender Ansatz, der als Schlussfolgerung aus der Kritik an (neo-)assimilatorischen und multikulturellen Ansätzen entstanden ist, wird im Folgenden der Anti-Bias-Ansatz vorgestellt – ein Ansatz, der keine „Rezepte“ sondern eher Angebote zum langfristigen Arbeiten an einer diversitätsbewussten Haltung bietet.


3. Entwicklungsgeschichte des Anti-Bias-Ansatzes
Der Beginn von Anti-Bias-Arbeit kann als Hinweis auf die Bedeutung von studentischer Selbstorganisation in kritischen Gruppen verstanden werden. Denn es war eine Gruppe Studierender der Kleinkindpädagogik um Louise Derman-Sparks und Carol Brunson Phillips am Pazific Oaks College in Kalifornien, die sich Anfang der 1980er-Jahre in ihrer Unzufriedenheit mit bisherigen antirassistischen Ansätzen, die angehende Pädagog_innen auf die Praxis vorbereiten sollen, zusammenfand um Alternativen zu entwickeln (vgl. Schmidt 2009: 32f). Eine Kritik bezog sich auf dominanzkulturelle Ansätze, die von einer „richtigen“ Lebensweise ausgehen und mit einseitigen Vorstellungen von Integration und Forderungen nach Anpassung einhergehen (vgl. Derman-Sparks 2001: 4f). Weiter wurden multikulturelle Ansätze in Frage gestellt, die in eine farbenblinde Haltung münden und proklamieren, dass zur Vermeidung von Diskriminierung keine Unterschiede zwischen Menschen gemacht werden sollten. Eine solche Haltung, die „We are all the same“ proklamiert, verleugnet jedoch, dass Menschen in der Gesellschaft ungleich behandelt und unterschiedlich repräsentiert werden (vgl. Derman-Sparks 1989: 6f). Schließlich wurden touristisch-multikulturelle Ansätze kritisiert, die vermeintliche kulturell bedingte Unterschiede herausheben, indem Feiertage oder Essgewohnheiten der jeweils als „anders“ Konstruierten im Stil einer Besichtigung in pädagogischen Kontexten Platz finden (vgl. Derman-Sparks 1989: 7, 2001: 5f). Durch eine solche Hervorhebung von Differenz werden kulturelle und ethnische Zugehörigkeiten hergestellt und anderen zugewiesen als „doing ethnicity“ (vgl. Kalpaka 2009: 279).

Als Schlussfolgerung aus dieser Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen wurde der Anti-Bias-Ansatz entwickelt. Das Anliegen war, der Komplexität von Diskriminierungsverhältnissen gerechter zu werden und durch die Verfolgung einer Mehrfachstrategie einen Widersprüche einbeziehenden Umgang mit Differenz und Vielfalt zu ermöglichen (vgl. Anti-Bias-Werkstatt 2009: 3). Ansatzpunkt von Anti-Bias-Arbeit sind die individuellen Erfahrungen und Lebenszusammenhänge. Methodisch unterstützt wird der Einstieg in langfristige Lernprozesse angeboten, die mit Verunsicherung einhergehen können. In der Auseinandersetzung werden die hinter den jeweiligen Diskriminierungsformen stehenden historischen und gesellschaftlichen/globalen Kontexte mit in den Blick genommen. Dadurch können Strukturen und Machtverhältnisse thematisiert werden, die eine Durchsetzung und Verfestigung von diskriminierenden Konstruktionen erst ermöglichen. Zugleich wird damit der Individualisierung von Diskriminierungserfahrungen entgegen gewirkt (vgl. Schmidt et al. 2009: 158).

Eine zentrale Weiterentwicklung des Ansatzes, insbesondere für die Erwachsenenbildung, findet seit den frühen 1990er Jahren in Südafrika statt. Pädagogische Fachkräfte fanden sich nach der gesetzlichen Abschaffung der Apartheid vor die Herausforderung der Arbeit mit Gruppen gestellt, die zuvor durch das rassistische Machtsystem voneinander getrennt worden waren. Die mehrdimensionale Ausrichtung von Anti-Bias-Arbeit erwies sich hier als hilfreich für die Auseinandersetzung mit verschiedenen Privilegierungs- und Unterdrückungserfahrungen, aber auch für die Sichtbarmachung der Verstrickung von Rassismus und Sexismus (vgl. Schmidt et al. 2009: 155f). Als eine zentrale Akteurin ist die Early Learning Ressource Unit (ELRU) in Kapstadt zu nennen (vgl. ELRU 1997), die den Ansatz außer in die Bildungsarbeit auch in die Gemeinwesenarbeit einbringen (vgl. Hermanus 2011: 5f). Durch den Fachkräfteaustausch „Vom Süden lernen“ wurde der Ansatz Ende der 1990er Jahre nach Deutschland getragen. Ein Anliegen dieses Projektes war die praktische Umsetzung eines Paradigmenwechsels in der Nord-Süd-Zusammenarbeit: Gewohnte Hierarchien wurden auf den Kopf gestellt, indem Teilnehmende aus Nordeuropa von Fachkräften aus dem südlichen Afrika in einem Lernprozess angeleitet wurden (vgl. Reddy 2002: 10ff). Diese Seminare führten zum Aufgreifen des Ansatzes in verschiedenen Bereichen, so dass sich mittlerweile ein lebendiges Anti-Bias-Netzwerk im deutschsprachigen Raum entwickeln konnte. Bisher wird hier mit dem Ansatz in erster Linie im Bereich von Kindertagesstätten und Grundschulen (vgl. u. a. KINDERWELTEN 2011), in der Erwachsenenbildung und der universitären Lehre (vgl. u. a. Anti-Bias-Werkstatt 2012) sowie in der Jugendarbeit (vgl. RAA Brandenburg 2010) gearbeitet. Eine umfassendere Implementierung in Bereiche der Sozialen Arbeit außerhalb von Bildungsarbeit steht bislang noch aus.


4. Ziele von Anti-Bias-Arbeit
In ihrer Auseinandersetzung mit Aufgaben für die Anti-Bias-Arbeit gehen Derman-Sparks und Brunson Phillips davon aus, dass Kinder früh beginnen, gesellschaftlich wirkmächtige Bewertungen zu übernehmen. Der Ansatz soll darin unterstützen, die stereotypen Wahrnehmungsmuster, die im Laufe der Sozialisation gelernt werden, zu hinterfragen und neu zu bewerten. Angestrebt wird das Erlernen von Umgangsformen, die nicht auf Machtstrukturen sondern auf Gleichwertigkeit aufbauen (vgl. Derman-Sparks/Brunson Phillips 2002: 61f). Dabei sind die Ziele von Anti-Bias-Arbeit für alle Menschen gleich, während die Schritte zur Erreichung dieser Ziele variieren und davon abhängen, welche Erfahrungen mit Privilegierung oder Unterdrückung gemacht wurden. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen wurden von den Begründerinnen des Ansatzes vier grundsätzliche Ziele für die pädagogische Anti-Bias-Arbeit mit Kindern formuliert, die auf Jugendliche und Erwachsene übertragbar sind:

Als Basis für die Implementation des Ansatzes in Einrichtungen betont Derman-Sparks, dass Anti-Bias-Arbeit nur gelingen kann, wenn sich die auf den Ansatz beziehenden Fachkräfte ebenfalls kontinuierlich hinsichtlich ihrer Vorurteile und Positionierungen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen reflektieren und sich die Ziele zum Maßstab des eigenen Handelns setzen (vgl. ebd. 2001: 14). Hier wird deutlich, dass Anti-Bias eine Haltung ist, die Sozialarbeiter_innen auch über Gruppenpädagogik hinaus in einer diversitätsbewussten Praxis unterstützen kann.


5. Differenz(ierung)en – Macht – Diskriminierung: zentrale Grundannahmen
In diesem Abschnitt werden zentrale Prämissen des Anti-Bias-Ansatzes anhand des „Diskriminierungsmodells“ vorgestellt. Hier ist zunächst zu unterscheiden zwischen dem im Training verwendeten „erfahrungsorientierten“ Modell (Anti-Bias-Werkstatt 2007) und dem theoretisch ausgearbeiteten Modell (vgl. Schmid 2009: 73-88). Im Seminar werden die TeilnehmerInnen nicht mit einem vorgefertigten Modell konfrontiert, in das sie ihre Erfahrungen einpassen können bzw. müssen, sondern es bleibt die Entscheidung, ob sie sich in konkreten Situationen diskriminiert gefühlt haben / sich als Diskriminierende_r gefühlt haben, ihnen überlassen. Dies soll einen „beschuldigungsfreien“ Raum (Anti-Bias-Werkstatt 2007) eröffnen. Das heißt, es wird zwischen der wertschätzenden Haltung gegenüber der Person und der Kritik an diskriminierenden Handeln unterschieden, um durch Selbstreflexion Lernprozesse möglich zu machen, statt eines individualisierenden „Feststellens von Schuld“.

Ausgangsbasis des theoretischen Modells sind „individuell/persönlich“, „interpersonell/zwischenmenschlich“, „strukturell/institutionell“ und „ideologisch/diskursiv“ konstituierte „Differenzierungen“ (Schmidt 2009: 104), durch die Unterschiede in einem Prozess der sozialen Konstruktion mit Bewertungen versehen werden. Damit soll das Augenmerk von scheinbar individuellen Vorurteilen auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und deren Niederschlag in Institutionen, Gesetzen, sozialen Interaktionen und zugeschriebenen und angenommenen Identitäten gelenkt werden. Erst in der Verbindung mit einer Machtposition, die sich aus der konkreten Situation bzw. der gesellschaftlich zugewiesenen Verortung ergibt, kann eine Differenzierung in einem handelnden Akt Diskriminierung zur Folge haben. „Diskriminierung“ wird dabei verstanden als „Ungleichbehandlung in vergleichbaren Situationen“ bzw. als „Gleichbehandlung trotz unterschiedlicher Voraussetzungen“ (Anti-Bias-Werkstatt 2007) aus unangemessenen Gründen. Diese kann nun auf oben genannten unterschiedlichen Ebenen der Differenzierung stattfinden. Zu berücksichtigen sind jeweils der gesellschaftliche und globale Kontext.


Abbildung 1: Diskriminierungsmodell (Abbildung verändert nach Schmidt 2009: 82)

Dieses Diskriminierungsmodell ist mehrdimensional. Jede_r Mensch kann durch mehrere Differenzen charakterisiert werden, z. B. als weiße, heterosexuelle verheiratete Frau mit Versorgungspflichten für Kinder, in Festanstellung, mit Migrationserfahrung. Dies bedeutet, dass es keine endgültige und eindeutige Festschreibung von Personen als diskriminierte bzw. dominierende Person geben kann. Im Konzept der „Differenzlinien“ wird der Gedanke weitergeführt, „Differenzlinien“ beziehen sich auf gesellschaftlich dominante Differenzierungen, die meist „bipolar hierarchisch“ (ebd.: 107) konstruiert sind, z. B. Differenz Staatsbürgerschaft: österreichisch versus andere Staatsbürgerschaften (in Österreich). Vielfältige Differenzlinien wirken gleichzeitig im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse und führen zu je spezifischen Identitäten und Diskriminierungserfahrungen.

Hier greift der Anti-Bias-Ansatz auf das Paradigma der „Intersektionalität“ zurück, das seinen Ursprung in der feministischen Theorie hat (vgl. Yuval-Davis 2006, Hulko 2009: 44). Kimberlé Crenshaw führte 1989 die Metapher der „intersections“ ein (vgl. Crenshaw 1991) Intersektionalität meint, dass sich die individuelle gesellschaftliche Positionierung aus der Kreuzung (Intersections) mehrerer Differenzlinien bestimmt. Innerhalb der Diskussion herrscht Uneinigkeit, wie viele Kategorien und daraus abgeleitete Differenzkategorien für die Analyse berücksichtigt werden sollen bzw. ob manche Kategorien vorrangig behandelt werden sollen. Die Vorschläge schwanken zwischen drei (Geschlecht, Klasse, Rasse/Ethnizität vgl. z. B. McCall 2005) bzw. vier zentralen Kategorien (sexuelle Orientierung vgl. Verloo 2006, Körper vgl. Degele/Winker 2007, Region vgl. McCall 2005) oder 14 Kategorien (Lutz/Wenning 2001). In der Anti-Bias-Arbeit wird mit einer nicht-hierarchisierten, unabgeschlossenen Liste von 17 Kategorien2 (Anti-Bias-Werkstatt 2007) gearbeitet. Die Positionierung der Person ist hierbei nicht als einfache Addition/Subtraktion von einzelnen Diskriminierungen/Privilegierungen zu denken, sondern wesentlich komplexer. Erstens unterliegen die einzelnen Differenzlinien unterschiedlichen Dynamiken und Begründungszusammenhängen. Verloo stellt fest, dass z. T. erhebliche Unterschiede allein zwischen vier zentralen Kategorien Gender, „Rasse“/Ethnizität, sexuelle Orientierung, Klasse hinsichtlich der möglichen Positionen, des Entstehungszusammenhangs, des Ortes, wo sich die Ungleichheit manifestiert, aber auch hinsichtlich politischer Ziele z. B. Umverteilung und/oder Anerkennung und Strategien auffindbar sind (vgl. Verloo 2006). Zweitens entscheidet der jeweilige situative Kontext wesentlich über die Wirkmächtigkeit von Differenzierungen. So kann die Hautfarbe bei einer Person mit vielfältigem ethnischen Hintergrund je nach Kontext als „weiß“ oder „schwarz“ codiert werden (vgl. Hulko 2009). Drittens muss berücksichtigt werden, auf welcher Ebene sich die Analyse bewegt, ob es um „gesellschaftliche Strukturen inkl. Institutionen (Makroebene), interaktiv hergestellte Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene)“ oder um „kulturelle Symbole (Repräsentationsebene)“ geht (Degele/Winker 2007: 2).

Im Umgang mit der daraus entstehenden Komplexität und der ebenfalls zu vermeidenden Festschreibung auf fixe Identitäten bzw. Essentialisierungen von Differenzen schlägt Leslie McCall (2005) drei Zugangsweisen vor. Sie unterscheidet erstens zwischen „inter-kategorialer Komplexität“, die nach dem Zusammenhang von einer Basiskategorie mit anderen Differenzkategorien fragt, also z. B. wie die Kategorie Geschlecht mit den Kategorien Klasse, Alter und Aufenthaltsstatus interagiert. Zweitens richtet sie das Augenmerk auf die „intra-kategoriale Komplexität“: hier wird nach Ungleichheiten innerhalb einer Kategorie gefragt, z. B. wie sich pflegebedürftige Personen untereinander unterscheiden. Drittens wird die Konstruiertheit der Kategorien im Rahmen der „anti-kategorialen Komplexität“ selber zum Thema, wie z. B. die Differenz „Behinderung“ hergestellt wird. In der Anti-Bias-Arbeit wird mit allen drei Zugangsweisen gearbeitet. Dies geschieht, indem Übungen eingesetzt werden, die Zuschreibungen und Festschreibungen von Identitäten aufbrechen und indem von den Leiter_innen der unaufhebbare Widerspruch zwischen der Benennung von Kategorien zur Analyse und gleichzeitiger Kritik an diesen Kategorien offensiv benannt wird (anti-kategoriales Komplexität). Machtbeziehungen zwischen Gruppen und Individuen (inter-kategoriale Komplexität) und Unterschiede innerhalb von Gruppen (inter-kategoriale Komplexität) innerhalb der Seminare werden ebenfalls angesprochen und reflektiert. Hier wird deutlich, dass der Anti-Bias-Ansatz keinesfalls als Ansammlung von beliebig verwendbaren Methoden verstanden werden darf, sondern der Einsatz spezifischer Methoden der Einbettung in das theoretische Gesamtkonzept und der intensiven Reflexion möglicher Implikationen bedarf (Schmidt 2007).


6. Verinnerlichung von Dominanz und Unterdrückung
Ein weiterer zentraler Aspekt von Anti-Bias-Arbeit ist die Auseinandersetzung mit der Verinnerlichung von Machtverhältnissen. Diese Internalisierung geschieht durch Botschaften über die eigenen Gruppenzugehörigkeiten sowie durch Erfahrungen mit Privilegierung oder Diskriminierung (vgl. Derman-Sparks 2001: 10). Valerie Batts entwickelte mit dem Modell „Modern Racism – Internalised Oppression“ eine Möglichkeit zur differenzierten Analyse (vgl. Batts, 1989, 2005), das die ELRU in der südafrikanischen Anti-Bias-Arbeit adaptierte (vgl. ELRU 1997: 18ff). In ihrem Modell geht Batts davon aus, dass sich die Strukturen des „old-fashioned racism“ in verinnerlichten Verhaltensmustern im „modern racism“ fortsetzen. Hintergrund ist die internalisierte Vorstellung einer weißen3 Überlegenheit, deren Folgen sich nicht einfach verändern, auch wenn rechtliche und institutionelle Veränderungen vorgenommen wurden, durch die Rassismus offiziell abgeschafft scheint (vgl. ebd. 2005: 9). Batts weist darauf hin, dass ihre für Rassismus vorgenommene Analyse auf weitere Formen von Dominanz- und Unterdrückungsverhältnissen übertragbar ist (vgl. ebd. 2005: 5f).

In dem Modell werden Verhaltensmuster gegenüber gestellt, durch die sich verinnerlichte Machtverhältnisse auf der dominierenden sowie der unterdrückten Seite äußern können. Hierdurch können auch subtil wirkende, teils unbewusste Diskriminierungspraxen und ihre andauernde Stabilisierung in gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen thematisierbar werden. Im Alltag sind diese analytisch unterteilten Verhaltensmuster nicht trennscharf sondern ineinander verwoben (vgl. Schmidt 2009: 89f).

Das Modell wurde von der Anti-Bias-Werkstatt als Modell der „Verinnerlichten Dominanz/verinnerlichten Unterdrückung“ ins Deutsche übersetzt und für die Seminararbeit methodisch weiter entwickelt (vgl. Anti-Bias-Werkstatt 2007). Exemplarisch sollen hier vier der zehn einander gegenüber gestellten Verhaltensmuster vorgestellt werden:

So wird die Entmündigende und/oder schädigende Hilfe als Ausdruck verinnerlichter Dominanz beschrieben. Diese dysfunktionale Hilfe resultiere häufig aus Schuld-, Scham- oder Überlegenheitsgefühlen. Dem werden auf der Seite der verinnerlichten Unterdrückung eine Abgabe von Verantwortung sowie ein Mitspielen im System gegenübergestellt (vgl. Anti-Bias-Werkstatt 2007). Ein Beispiel aus der Sozialen Arbeit wäre, wenn ein Elternteil die Kommunikation mit der Lehrerin an den sozialpädagogischen Familienhelfer abgibt, mit der Haltung: „Soll er das machen, er kann das eh´ besser.“

Ein anderer Ausdruck verinnerlichter Dominanz ist nach dem Modell die Schuldzuweisung an die Benachteiligten, bei der eine benachteiligte Person selber für die Konsequenzen struktureller Unterdrückung verantwortlich gemacht wird (vgl. ebd.). Ein Beispiel aus der Sozialen Arbeit wäre hier, wenn eine Sozialarbeiterin in einer Jugendwohngruppe einen Jugendlichen, der sich Sorgen macht mit einem nicht Deutsch klingenden Namen keinen Praktikumsplatz zu finden, allein mit dem Hinweis, er müsse sich doch nur richtig anstrengen, begegnet. Dem stehen in dem Modell als Verhalten auf der Seite der verinnerlichten Unterdrückung eine passive Haltung sowie „Das System oder die je Anderen für die eigene Situation verantwortlich machen“ gegenüber.

Als weitere Form verinnerlichter Dominanz werden die Ausblendung, Leugnung oder ein Nicht-verstehen-wollen der politischen, historischen, ökonomischen, sozialen und psychologischen Hintergründe und Auswirkungen von Unterdrückung beschrieben. Dies kann mit einer Naturalisierung/Normalisierung von Ungleichheitsverhältnissen einhergehen (vgl. ebd.). Ein Beispiel wäre hier, wenn die „Tafeln“ als Geste der Barmherzigkeit gegenüber den „Armen“ verstanden und hingenommen werden, ohne dass menschenunwürdige Hartz IV-Sätze (in Deutschland) mitthematisiert werden.

Auf Seiten der verinnerlichten Unterdrückung steht dem ebenfalls ein Unverständnis oder eine Leugnung struktureller Auswirkungen und Hintergründe gegenüber, die Unterdrückung wird beispielsweise durch Aggressionen gegenüber noch stärker benachteiligten Gruppen versucht zu kompensieren (vgl. Anti-Bias-Werkstatt 2007).

Die methodisch unterstützte Beschäftigung mit dem Modell kann zu einer Auseinandersetzung mit Expert_innenmacht sowie der Reflexion von Machtverhältnissen, denen Sozialarbeiter_innen selber unterworfen sind, anregen. So können Diskussionen zu der Frage entstehen, inwieweit sich verinnerlichte Machtverhältnisse durch Beratungssituationen ziehen, Einrichtungen strukturieren oder Berichte und Hilfepläne beeinflussen. Zudem gibt es erste Erfahrungen damit, auf der Basis von Gesprächen mit Bewohner_innen und Sozialarbeiter_innen mithilfe des Modells Diskriminierungen im Gemeinwesen zu thematisieren (vgl. Fritsche et al. 2011: 42ff). Aus der Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen verinnerlichter Machtverhältnisse kann sich die Suche nach „Möglichkeitsräumen“ für alternatives Handeln ergeben (Holzkamp 1989: 370, zit. nach Schmidt 2009: 94). Zugleich entsteht die Frage, wie Sozialarbeiter_innen im Prozess der Reflexion und kritischen Beleuchtung von Verhältnissen, in denen sie sich alltäglich als Professionelle bewegen, handlungsfähig bleiben können. In der Anti-Bias-Seminararbeit wird daher, im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem Modell, der Raum für die Entwicklung von Alternativen zu „Verinnerlichter Dominanz/Verinnerlichter Unterdrückung“ eröffnet (vgl. Kübler/Reddy 2002: 111). Hier ist mitzudenken, dass die durch das Modell erkennbar werdenden Verhaltensmuster nicht grundsätzlich abzulehnen sind – möglichwerweise sind sie für einzelne Menschen durchaus sinnvolle Strategien, um sich in Ungleichheitsverhältnissen bewegen zu können.


7. Leitlinien der Anti-Bias-Arbeit
Die konkrete Umsetzung der hier z. T. skizzierten theoretischen Grundlagen im Seminar erfolgt anhand der folgenden Orientierungen (vgl. Schmidt/Dietrich/Herdel 2009).


8. Anti-Bias im Kontext von Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter_innen – Anspruch, Grenzen, Potenziale
Wir greifen in diesem Teil auf unsere Erfahrungen mit Seminaren im Aus- und Weiterbildungsbereich von Sozialarbeiter_innen zurück. Dabei handelt es um unterschiedliche Kontexte, zum einen im Rahmen der Ausbildung an Fachhochschulen, zum anderen in frei angebotenen Seminaren. Hier werden zwei Aspekte näher beleuchtet: einerseits das Spannungsverhältnis von idealen und realen Rahmenbedingungen und andererseits die Reaktionen der Studierenden/Praktiker_innen. Als Anforderungen nennt Schmidt (2007) u. a.:

Daraus ergeben sich in der Verwirklichung in FH-Studiengängen mehrere Problemfelder: Sind die Veranstaltungen Teil des Pflichtcurriculums und mit Anwesenheitspflicht versehen, so ist die bewusste Entscheidung, sich jetzt mit diesem Thema auseinander zu setzen, nicht gegeben. Im Rahmen von Studienordnungen kann eine Bewertung mit Notengebung verpflichtend sein, es stellt sich die Frage, wie mit diesem Bewertungsdilemma umgegangen werden kann. Zudem ist es im Hochschulkontext oft schwierig, die Finanzierung des zentralen Qualitätsstandard von zwei Seminarleitungen und angemessenen Gruppengrößen (ca. 16 Personen) durchzusetzen. In von einer Person alleine angebotenen Anti-Bias-Seminare wird jedoch zum einen eine adäquate Begleitung der angestoßenen Selbsterfahrungsprozesse erschwert bis verunmöglicht, zum anderen kann aber auch die Heterogenität in der Leitung nicht sichergestellt werden. Die Heterogenität in der Gruppe der Teilnehmenden ist ebenfalls begrenzt durch Prozesse, die der Zulassung zum Studium vorgeschaltet sind, wie die Kriterien der Studierendenauswahl.

Viele Studierende geben die Rückmeldung, dass sie die Auseinandersetzung im Anti-Bias-Seminar als große fachliche und persönliche Bereicherung erlebt haben. Für eine gute Praxis, die den Qualitätsrichtlinien entspricht, benötigt es jedoch strukturelle Veränderungen in der Sozialarbeiter_innen-Ausbildung. Diese sollten folgende Punkte umfassen: Neben der Schaffung von adäquaten Rahmenbedingungen (ausreichend Zeit, kleinere Gruppen, Doppelleitung, bewertungsfreie Teilnahme) ist die Etablierung des Anti-Bias-Ansatzes als Querschnittsthema in den Studiengängen sinnvoll. Dies beinhaltet nicht nur die frühzeitige Konfrontation der Studierenden mit den damit zusammenhängenden Themen in verschiedenen Lehrveranstaltungen (Praxisseminar, Dokumentation, Theorielehrveranstaltungen zu einzelnen Dimensionen von Diskriminierung wie Rassismus), sondern auch die Gestaltung der Strukturen der Studiengänge insgesamt aus einer diversitätsbewussteren Perspektive.

Anti-Bias-Seminare erweisen sich auch für berufserfahrene Sozialarbeiter_innen aus ganz verschiedenen Bereichen als geeignetes Reflexionsangebot, da viele der Übungen praxisnah konzipiert wurden und Raum zum Einbringen eigener Beispiele sowie zur kollegialen Beratung aufmachen. Gerade in den Seminaren mit Praktiker_innen werden die Übungen und Modelle unserer Erfahrung nach teilweise auch kritisch hinterfragt oder durch neue Impulse erweitert, was zur fortwährenden Entwicklung des Ansatzes beiträgt.

Aus unserer Sicht verbindet die Anti-Bias-Arbeit theoretische Auseinandersetzung mit persönlicher Reflexion, damit bietet dieser Ansatz – trotz noch zu klärender Rahmenbedingungen an den FHs – die Möglichkeit, Kompetenzen zu erwerben, die auf dem Weg zu einer Professionalität im Sinne eines „Tripelmandats“ (Staub-Bernasconi 2007: 200), notwendig sind. Damit wird ein bewussterer Umgang mit „Machtquellen und Machtstrukturen“ (ebd.: 398) eröffnet.


Verweise
1 Sozialarbeiter_innen? Diese Schreibweise ist der Versuch, auch diejenigen Menschen mitzudenken, die sich in die binäre Logik von „Frau“ oder „Mann“ nicht einordnen können oder wollen.
2 Geschlecht (Sex/Gender), „Rasse“/Hautfarbe, Klasse/Sozialer Status, jüdische Zugehörigkeit, Religion, Generation/Alter, sexuelle Orientierung, Gesundheit, „Behinderung“, Sprache, Aussehen, Bildung, Nation/Staat, Besitz/finanzieller Status, globale Positionierung, Sesshaftigkeit und Ethnizität.
3 Die Klein- und Kursivschreibung von weiß soll den Konstruktionscharakter und den politischen Standort des Begriffes ausdrücken, der auf eine soziale Positionierung und damit verbundene Privilegien in gesellschaftlichen Machtverhältnissen verweist (vgl. Lück 2009: 1).


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Über die Autorinnen

FH-Prof. Dr. Mag. DSA Eva Fleischer, Jg. 1963
eva.fleischer@mci.edu

Studium der Sozialarbeit, Pädagogik und Politikwissenschaft. Promotion 1992 zum Thema „Macht, Wissen und die Unfruchtbarkeit der Frauen: zur Ambivalenz der Unterwerfung in der Reproduktionsmedizin“. Zwischen 1989 und 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Klagenfurt. Seit 1990 Lehrbeauftragte an den Universitäten Innsbruck, Klagenfurt sowie in der SozialarbeiterInnenausbildung (Innsbruck, Salzburg), weiters Referentin in der Erwachsenenbildung. Zwischen 1995 und 1997 Geschäftsführerin der AEP-Familienberatung Innsbruck. Zwischen 2005 und 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Hafelekar Unternehmensberatung Innsbruck. Seit 2009 hauptberufliche Lektorin am Studiengang für Soziale Arbeit, Management Center Innsbruck

Friederike Lorenz, BA, Jg. 1983
lorenz@bisa-bremen.de

Sozialarbeiterin BA und staatl. anerkannte Erzieherin, Weiterbildung im Anti-Bias-Ansatz. Zwischen 2004 und 2011 Berufstätigkeiten in Hort und Kindertagesstätten sowie in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstelle und in der stationären Jugendhilfe. Aktuell im MA-Studium Erziehungswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Daneben tätig als Referentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung (Anti-Bias-Ansatz, Gedenkstättenpädagogik) und in einem Forschungsprojekt zu Sozialen Trainingskursen für straffällig gewordene Jugendliche des Bremer Instituts für Soziale Arbeit und Entwicklung e.V. (BISA+E).