soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 9 (2013) / Rubrik "Nachbarschaft" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/252/428.pdf


Ingrid Kromer & Christiane Atzmüller:

Peer Violence


Gewalt unter Jugendlichen aus der Perspektive von Mädchen und Burschen


1. Problemaufriss: Jugend und Gewalt
Jugendgewalt ist ein – zu Recht oder zu Unrecht – akutes gesellschaftliches Phänomen, das als Diskussionsthema in der Öffentlichkeit immer wieder an Aufmerksamkeit gewinnt. In Österreich erfährt die Thematik seit den frühen 1990er Jahren verstärkte, medial geförderte Aufmerksamkeit und ist Gegenstand vieler Spekulationen (vgl. Blum/Kromer 2009). Einerseits scheint jugendliche Gewalttätigkeit zugenommen zu haben, andererseits kommt in diesen Diskussionen auch der Status von Jugendlichen als abweichungsverdächtige Gruppe zum Ausdruck. Die mediale Berichterstattung orientiert sich zumeist an offiziellen Kriminalstatistiken, die aufgrund des unterschiedlichen Anzeigeverhaltens von Jugenddelikten mit großem Vorbehalt zu interpretieren sind. Zur Frage, ob Gewalt innerhalb der letzten Jahre angestiegen sei, liegen unterschiedliche Befunde vor. Um zu einer seriösen Antwort zu kommen, müsste man über repräsentative Langzeituntersuchungen im Hell- und Dunkelfeld verfügen und diese gibt es in Österreich nicht – viel zu verschieden sind die Forschungsarbeiten zu Jugendgewalt. Darüber hinaus wird die Häufigkeit des Gewaltphänomens von zahlreichen Faktoren beeinflusst, wie beispielsweise von einer engen oder weiten Gewaltdefinition, dem Befragungsmodus, der Itemformulierung, den Antwortkategorien der Prävalenz etc. (vgl. Bacher 2008).

Betrachtet man die aktuelle Forschung zu Jugend und Gewalt, so lässt sich folgendes feststellen: Ein Großteil der Arbeiten beschäftigt sich mit Jugenddelinquenz und Kriminalität (vgl. z. B. Stangl et al. 2006, Heinz 2006, Oberwittler/Köllisch 2004, Baier et al. 2009 und 2010) sowie mit Rechtsextremismus (vgl. z. B. Sitzer/Heitmeyer 2007, Schroeder 2004). Eine relativ große Zahl an Studien und Publikationen gibt es auch zum Thema Gewalt an Schulen. Diese fokussieren vorrangig (aber nicht ausschließlich) auf Gewalt unter SchülerInnen (vgl. z. B. Schubarth 2010, Bergmüller/Wiesner 2009, Spiel/Strohmeier 2009, Drilling et al. 2008, Bacher/Weber 2008, Hurrelmann/Bründel 2007, Melzer 2006, Friesl 2001). In den meisten Untersuchungen zu Jugend und Gewalt wird dabei der Frage nach dem Vorkommen von Gewalt nachgegangen, das heißt wie verbreitet verschiedene Formen von Gewalt sind und welche Zusammenhänge sich mit Merkmalen der befragten Jugendlichen bzw. mit anderen Kontextvariablen erkennen lassen, z. B. mit Einstellungen zu Gewalt, Akzeptanz sozialer Dominanz, Konfliktlösungsstrategien und Vertrauen in das Rechtssystem oder mit dem Zusammenhalt in der Schulklasse bzw. mit dem Schulklima (vgl. Bergmüller et al. 2009, Atria et al. 2007, Stangl et al. 2006).

Vergleichsweise wenig Beachtung erfährt bisher die Frage nach der Wahrnehmung von Jugendgewalt durch Jugendliche selbst (vgl. von Felten 2008). Dennoch gibt es auch in diesem Bereich vereinzelt Studien (vgl. z. B. Klewin/Popp 2006). Wie Jugendliche selbst alltägliche Gewalterfahrungen mit anderen Jugendlichen im öffentlichen Raum beschreiben, zeigen die Ergebnisse eines internationalen Projekts (vgl. Riepl/Williamson 2009), in dem speziell auch der Frage der Bedeutung von Geschlecht und Ethnizität nachgegangen wurde.

Kaum finden sich Studien zur Auswirkung verschiedener Interventionen im Sinne eines Handelns in konkreten Gewaltsituationen zwischen Jugendlichen (vgl. Olweus 2006): Zwar beschäftigen sich zahlreiche Publikationen mit Fragen der Prävention und Intervention, in den meisten Fällen handelt es sich aber um eine eher praxisbezogene Darstellung verschiedener Ansätze (vgl. Gollwitzer et al. 2007) oder um die Evaluation konkreter Programme (vgl. Eisner et al. 2008).

Ein wichtiger Impuls zur aktiven Beteiligung von Jugendlichen an jugendrelevanter Forschung kommt aus der Kindheits- und Jugendforschung, in der Heranwachsende zunehmend als Subjekte und Akteure und nicht mehr als Objekte oder als „Medium der Erziehung“ (Luhmann 2006) betrachtet werden. Mädchen und Burschen werden als ExpertInnen ihrer Lebenswelt(en) gesehen, wodurch ihre Perspektive auf den Forschungsgegenstand zentral ist. Hier setzt auch die vorliegende Forschungsarbeit an. Jugendliche werden in diesem Sinne nicht als Opfer ihrer Lebensbedingungen, sondern als AkteurInnen gesehen, die wahrnehmen, deuten und handeln. Das ermöglicht Alltags- und Subjektbezogenheit bei der Herangehensweise an das soziale Phänomen Gewalt.


2. Gewalt aus der Perspektive von Jugendlichen
Die Untersuchung der Wahrnehmung alltäglicher, strafrechtlich nicht relevanter Gewalt und diesbezüglicher Interventionen von Mädchen und Burschen ist also ein vernachlässigter Forschungsbereich. Interessant sind insbesondere Erkenntnisse darüber, unter welchen Bedingungen, welche Jugendlichen ein bestimmtes Verhalten als gewalttätig bzw. nicht gewalttätig ansehen. Das erfordert die Einbeziehung von jungen Menschen als KooperationspartnerInnen, um ihr zielgruppenspezifisches Wissen und ihre Sichtweisen in den Forschungsprozess integrieren und nutzen zu können. Um auch stereotype Rollenzuschreibungen sichtbar zu machen ist gerade in diesem Bereich eine gendersensible Forschung wichtig. Zudem ist genderspezifisches Wissen eine zentrale Grundlage für Maßnahmen im Bereich der Prävention. Ähnliches gilt für die Bedeutung des Migrationshintergrunds, da auch hier häufig nicht ausreichend differenziert wird.

An diesen Überlegungen setzt das zweijährige Forschungsprojekt „Peer Violence – Gewalt unter Jugendlichen aus der Perspektive von Mädchen und Burschen“ an. Die Studie wurde im Rahmen des Forschungsprogramms Sparkling Science des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung von September 2010 bis Dezember 2012 von zwei Forscherinnen am Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit der FH Campus Wien in Kooperation mit SchülerInnen der 7. und 8. Schulstufe in AHS und KMS in Wien durchgeführt. Das Forschungsprojekt hat den Anspruch, Jugendgewalt aus der Perspektive von jungen Menschen zu diskutieren und zu analysieren.


2.1 Forschungsziele und wissenschaftliche Herangehensweise
Ziel der Studie ist es zu untersuchen, wie alltägliche Gewalt unter Jugendlichen und diesbezügliche Interventionen von Mädchen und Burschen wahrgenommen und bewertet werden. Von besonderem Interesse ist, ob und in welcher Form Geschlecht und Ethnizität von Bedeutung sind. Dabei werden zwei Untersuchungsebenen berücksichtigt: Zum einen geht es darum festzustellen, ob sich zwischen den befragten Mädchen und Burschen bzw. zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung feststellen lassen. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, ob die befragten Jugendlichen dieselben Gewalthandlungen in Abhängigkeit der jeweils beteiligten AkteurInnen unterschiedlich einschätzen. Das heißt, es wird untersucht, ob Geschlecht und Migrationshintergrund von TäterInnen und Opfer für die Wahrnehmung von Gewalt und der Einschätzung von damit verbundenen Interventionsmöglichkeiten eine Rolle spielen.

Weiters zielt die Studie darauf ab, das Erhebungsmaterial sowie die Ergebnisse der Studie für die Erstellung von Schulungsmaterialien zu verwenden, um einen reflektierten Umgang mit Gewalt unter Jugendlichen, insbesondere für LehrerInnen und SozialarbeiterInnen bzw. JugendarbeiterInnen zu fördern.

Die Studie geht von einem sehr weiten Gewaltbegriff aus, der es Jugendlichen ermöglicht, das eigene Verständnis von Gewalt abzugrenzen. Es wurden demnach auch solche Formen berücksichtigt, von denen angenommen werden kann, dass sie nicht von allen eindeutig als Gewalt wahrgenommen und bewertet werden und dementsprechend auch der Interventionsbedarf unterschiedlich eingeschätzt wird. Zum Beispiel offensichtliche (z. B. Schlägereien) als auch nicht offensichtliche (z. B. leichtes Anrempeln, psychische Gewalt, Drohungen etc.), Formen alltäglicher Gewalt in Abhängigkeit relevanter Kontextfaktoren (z. B. Geschlecht und Migrationshintergrund der AkteurInnen, Vorgeschichte etc.).

Für die Untersuchung wurden folgende zentrale Fragestellungen formuliert:

Wesentliche empirische Problemstellung ist es, die verschiedenen (Kontext-)Faktoren und Bedingungskonstellationen für die Gewaltwahrnehmung und Interventionseinschätzung bereits im Erhebungsdesgin zu berücksichtigen. Der Einsatz der Vignettenmethode (vgl. Atzmüller/Steiner 2010, Atzmüller 2006, Schnurr 2003) stellt unter diesen Bedingungen einen innovativen und erfolgversprechenden Zugang dar.1 Die Besonderheit der Vignettenmethode liegt im speziellen Erhebungsdesign, bei dem nicht einzelne Fragen gestellt, sondern Vignetten zur Bewertung vorgelegt werden. Vignetten sind hypothetische Situations-, Objekt- oder Personenbeschreibungen, die sich aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzen. In der „Peer Violence“– Studie wurden Vignetten in Form von verschiedenen Gewaltszenarien entwickelt und dabei u. a. das Geschlecht und der Migrationshintergrund der beteiligten AkteurInnen gezielt variiert. Ziel ist es, wie oben erläutert, herauszufinden, welche Kontextelemente (z. B. die Veränderung des Geschlechts oder Migrationshintergrund des Opfers innerhalb verschiedener Gewaltkontexte) die Einschätzung und Bewertung beeinflussen. Im Rahmen quantitativer Vignettenanalysen werden dafür die Vignetten-Bewertungsmuster in Form statistisch fundierter Erklärungsmodelle rekonstruiert.

Präsentiert wurden die Vignetten einerseits in Textform, indem die Gewalthandlungen mit Kurzdialogen szenisch dargestellt wurden als auch in Form kurzer Videoclips, die unter genauen Vorgaben mit SchülerInnen als LaiendarstellerInnen und einem professionellen Filmteam umgesetzt wurden. Die Videovignetten hatten sowohl verbale (z. B. verschiedene Formen von Mobbing und Cybermobbing) als auch handgreifliche Auseinandersetzungen (z. B. Kämpfe, Schlägereien) zum Thema. Die inhaltliche Entwicklung erfolgte in Zusammenarbeit mit SchülerInnen als ForschungspartnerInnen, wodurch für die Vignettengestaltung wichtige Codes der Jugendkommunikation (z. B. richtige Wortwahl, Kleidung etc.) berücksichtigt werden konnten.

Das methodische Design lässt sich wie folgt kurz skizzieren:

Aufgrund der Fülle der Daten werden hier ausgewählte zentrale Ergebnisse aus der qualitativen und qualitativen Vignettenstudie zusammengefasst und präsentiert:


2.2 Ergebnisse aus der qualitativen Vignettenanalyse
Die jeweiligen Videovignetten (Mobbing, Cybermobbing, Burschenzweikampf, sexuelle Beschimpfung, Mädchenstreit mit Ohrfeige, Burschengruppenkampf) wurden hinsichtlich der spontanen Assoziationen der DiskutantInnen, der Konstruktvalidität der Szene, der Einschätzung der Szene als gewalttätig sowie der Einschätzung der Interventionsnotwendigkeit mit ihren jeweiligen Kontextbedingungen in Bezug auf die Schwelle der Gewalt und Intervention analysiert.

Gewalt ist in erster Linie mit Einsatz des Körpers definiert. Die Entscheidung, ob Mädchen und Burschen eine Situation als gewalttätig einstufen, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig, wobei der Einsatz des Körpers ein durchgehend wichtiges Kriterium ist. So werden handgreifliche Konfliktsituation von Mädchen und Burschen überwiegend als Gewalt eingestuft, wobei für Burschen Intensität und Ausmaß des Körpereinsatzes maßgeblich sind. Wenn mit Fäusten geschlagen wird oder es bei einer Rauferei zum Blutvergießen kommt, wird diese Situation einhellig als Gewalt eingeschätzt. Andere Formen wie Schwitzkasten, Rempeln oder Schlagen und Raufen aus Spaß werden jedoch von Burschen ausgenommen. Handgreiflichkeiten zwischen Mädchen, wie beispielsweise eine Ohrfeige oder Stoßen, werden von Burschen als amüsant und harmlos bewertet und dementsprechend auch nicht als gewalttätig eingestuft. Mädchen hingegen beurteilen alle Konflikte in denen der Körper eingesetzt oder berührt wird, egal ob mit flacher Hand, mit Füßen treten, am Kopf stoßen, an den Haaren reißen etc. als Gewalt und zwar unabhängig vom Geschlecht.

In den Diskussionen wird jedoch auch der Begriff von seelischer oder psychischer Gewalt eingebracht und nicht – wie vielleicht vermutet – als weniger schlimm als körperliche Gewalt wahrgenommen und bewertet. Verbale Gewaltformen, insbesondere Ehrenbeleidigungen, Familienbeschimpfungen oder persönliche Demütigungen, werden in den Diskussionsrunden als sehr schlimm bewertet und oft mit körperlicher Gewalt gleichgesetzt. Mädchen sprechen auch von der „Gewalt der Wörter“ und würden in manchen Situationen eine Ohrfeige oder ein Stoßen, im Sinne einer körperlichen Verletzung bevorzugen, als mit Beschimpfungen und Verleumdungen innerlich verletzt zu werden und Schaden zu nehmen (z. B. FreundInnen verlieren, schlechten Ruf bekommen).

Vergleiche zwischen den einzelnen Diskussionsgruppen zeigen, dass Gewalt – unabhängig von Geschlecht und Migrationshintergrund – in erster Linie mit physischer Gewalt assoziiert wird. Die Schwelle der Gewalt wird hingegen von Mädchen früher definiert als von Burschen. Der Faktor Migrationshintergrund ist indessen für die Definition und Bewertung von Gewalt unbedeutend.


2.2.1 Gewalt ist immer „schlimm“
Bei der Einschätzung der Gewaltszenarien ist auffallend, dass aus der Sicht der Jugendlichen Gewalt per se nie verharmlost sondern immer als sehr negativ und schlimm bewertet wird. Es wird selbstverständlich zwischen den verschiedenen Formen der Gewalt und ihrem Ausmaß von Gewalt differenziert (ausführlicher dazu im quantitativen Teil der Ergebnisse), jedoch kann festgestellt werden, dass Mädchen und Burschen Gewalt nicht als Mittel der Wahl für Konfliktlösungen wählen, sondern gewalttätige Auseinandersetzungen einfach passieren. Handgreifliche Auseinandersetzungen mit dem Ziel dem/der anderen Schmerzen zuzufügen bzw. zu verletzen werden moralisch von allen Jugendlichen unabhängig von Geschlecht oder Migrationshintergrund abgelehnt und primär nicht angestrebt.

Verbindliche Aussagen über einen richtigen Umgang mit Konflikten – im Sinne vernünftiger und guter Lösung aller Beteiligen – konnten von den Jugendlichen in den Gruppendiskussionen nur in einer sehr allgemeinen Form von „Gewalt meiden“ formuliert werden. Das scheinbar probate Mittel „darüber reden“ als die Lösung aller Konflikte wird aus der Sicht der Mädchen und Burschen zwar immer wieder genannt und bevorzugt, kann aber aufgrund der unterschiedlichen Bedingungsfaktoren eher selten umgesetzt werden.


2.2.2 Alltägliche Gewalt als Teil der jugendlichen Lebenswirklichkeit
Die Analyse der Videoaufzeichnungen über die Gruppendiskussionen zeigen offenkundig, dass Mädchen und Burschen sich auf die verschiedenen Konfliktgeschichten einlassen und emotional betroffen reagieren. Ihre Mimik und Gestik während der Präsentation dokumentiert sehr deutlich ihre Betroffenheit über die Konfliktszenarien. Ihre Reaktionen sind von der jeweiligen Konfliktszene abhängig und reichen von offenem Mund, groß geöffneten Augen, gespannte aufrechte Körperhaltung, Hand vor dem Mund halten, Kopfschütteln, auf die Schenkel klopfen, Nägel beißen bis hin zu verlegenem Lächeln oder Schmunzeln, kurzes Aufschreien, den/die NachbarIn mit Arm anstoßen etc.

Die Analysen der Gruppendiskussionen belegen sehr deutlich, dass die konstruierten Videovignetten nahe am Lebensalltag der Jugendlichen sind und exemplarisch die alltägliche Lebenswirklichkeit gut beschreiben. Aussagen wie „Ja, das sind nicht die einzigen Gschichten!“, „Ganz normal unter Jugendlichen“, „Ja, das gibt’s – Burschen sind so!“ oder „Das ist typisch Mädchen!“, verweisen auf die hohe Konstruktvalidität.

Jene Videovignetten, die von den LaienschauspielerInenn nicht glaubwürdig umgesetzt werden konnten, werden als „gefakt“ und nicht authentisch (vor allem wenn es um Kampfszenen geht) identifiziert, jedoch in ihren Inhalten und der Dramaturgie bestätigt. Das heißt, die Jugendlichen haben einen sehr kritischen Blick auf die schauspielerische Umsetzung der Gewaltszenen, bekräftigen aber in der Diskussion, dass die vorgelegten alltäglichen Konfliktgeschichten der Realität entsprechen und in ihrer Lebenswelt tatsächlich vorkommen. Die Heterogenität zwischen den Jugendgruppendiskussionen lässt auch darauf schließen, dass Szenarien mit körperlichen Gewalt eher von männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund mit realen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden als von SchülerInnen mit österreichischen Wurzeln, wobei hier ebenso Verschränkungen mit Schultypus (AHS versus SPZ) eine wesentliche Rolle spielen dürften.


2.2.3 Nicht einmischen – eine verbreitete Strategie in beobachteten Konfliktsituationen
Ganz grundsätzlich wird „nicht einmischen“ bzw. nicht intervenieren von den DiskutantInnen in der Rolle als Beobachtende von Konfliktsituationen zwischen anderen Jugendlichen als Reaktion eher formuliert. Begründet wird dies zum einen damit, dass damit die Gefahr verbunden sei, ebenfalls in den Konflikt involviert und damit auch angreifbar zu werden. Zum anderen auch, dass Jugendliche selbst, und hier vor allem die Mädchen, nicht als KonfliktschlichterIn seitens der KonfliktpartnerInnen (Täter/innen und Opfer) akzeptiert werden würden, hingegen würde ein Intervenieren seitens erwachsener Dritter eher angenommen werden können. Verstärkt von den Burschen eingebracht wurde hingegen das Argument, dass Jugendliche selbst den Konflikt lösen können und es kein Eingreifen seitens der Erwachsenen brauche, da diese nur noch mehr Ärger bringen würden. Es gibt aber auch seitens der befragten Jugendlichen Argumentationslogiken, die ein Einmischen rechtfertigen bzw. sogar erfordern; beispielsweise wenn FreundInnen involviert sind und/oder Chancen auf eine befriedigende Konfliktlösung erwartet werden können. Auffallend ist, dass Mädchen im Gegensatz zu Burschen selbstverständlicher Hilfe von außen als Variante der Konfliktlösung mitdenken, beispielsweise dass Erwachsene (Eltern, LehrerInnen, Polizei,) informiert oder auch zum Ort des Konflikts geholt werden.


2.2.4 Intervenierende Lehrpersonen als Konfliktschlichter
In jeder Videovignette stellte sich die Frage nach Interventionen von Dritten. Es zeigt sich durchgehend, dass das Dazuholen oder Informieren von LehrerInnen in einem Konflikt seitens der befragten Jugendlichen sehr ambivalent eingeschätzt wird. Zusätzlich zur erwähnten Position, dass Jugendliche selbst ihre Konflikte lösen können und daher auch keine Erwachsenen brauchen, gibt es auch die Meinung, dass Lehrpersonen durch ihre Rolle und Funktion zusätzlich Schwierigkeiten bringen. So meinen die einen, dass LehrerInnen oder DirektorInnen als Konfliktschlichter hilfreich sein können und nennen Beispiele von Beratungs- oder KlassenlehrerInnen, die sich unterstützend und kompetent in einer Streitsituation einbrachten. Es gibt aber auch die andere Seite – wenn Jugendliche (und das sind zumeist die Burschen) von ihren Erfahrungen erzählen, in denen Lehrpersonen aus Sicht der Jugendlichen wenig bis keine Konfliktkompetenz aufzeigten. Das heißt konkret: Strafen für alle, Verlagerung des Streits nach draußen, Potenzieren des Konflikts, Stigmatisierung in der Schule, Schwierigkeiten mit dem ganzen Lehrkörper, Elternvorwürfe, Abmahnungen etc. Insgesamt scheinen die Erfahrungen von alltäglichen Konfliktsituationen in der Schule, in denen LehrerInnen involviert waren, mehr von negativen Erfahrungen gekennzeichnet zu sein als von positiven. Einig sind sich die Mädchen und Burschen darin, dass im Ernstfall unbedingt Erwachsene einbezogen werden müssen und das sind im schulischen Kontext die LehrerInnen. Was jedoch aus der Sicht der Jugendlichen als Ernstfall gedeutet wird, ist zwar geschlechtsabhängig, lässt sich jedoch ganz allgemein zusammenfassen mit physischer Gewalt (Blut vergießen) sowie über einen längeren Zeitraum anhaltendes (reales und/oder virtuelles) Mobbing in der Schule.


2.3 Ergebnisse aus der quantitativen Vignettenanalyse
Im Folgenden wird dargestellt, inwieweit die variierten Vignettenelemente (Art der Gewalthandlung, Geschlecht und Migrationshintergrund von Opfer und TäterIn, Reaktion des Opfers) die Bewertung einer Vignette beeinflussen und welchen Einfluss das Geschlecht und der Migrationshintergrund der Befragten selbst auf die Vignettenbewertung ausüben.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass wesentliche Erklärungsfaktoren vor allem auf der RespondentInnenebene mittels Videovignetten viel deutlicher identifiziert werden konnten. Möglicherweise ist dieser Umstand darauf zurückzuführen, dass die hoch kontextualisierte und emotionsgeladene Darstellungsweise in Form von Videovignetten auch eine stärker emotionsgeleitete Bewertung provoziert, während die textbasierte Beschreibung der Gewalthandlungen ein stärker reflektiertes Antwortverhalten hervorruft. In den folgenden Ausführungen wird daher lediglich auf die zentrale Ergebnisse bezugnehmend auf die Videovignetten eingegangen.


2.3.1 Welche Gewalthandlungen sind unter welchen Bedingungen mehr oder weniger schlimm und welche Rolle spielen dabei Geschlecht und Migrationshintergrund?
Rekonstruiert man anhand des Bewertungsmodells, „wie schlimm“ die präsentierten Vignetten bewertet werden, so orientieren sich die befragten Mädchen und Burschen in erster Linie am konkret präsentierten Gewaltkontext (= Vignettenszene), wobei „ernste“ Szenekontexte, die klar strafbare Strukturen aufweisen oder unmittelbar schädigende Folgen für das Opfer nach sich ziehen (z. B. „Erpressung“: Jemand fotografiert eine Person am WC und stellt anschließend eine Geldforderung, um das Foto nicht ins Internet zu stellen; „Grundloses Schlagen“: Mehrere TäterInnen schlagen ohne besonderen Grund auf ein Opfer ein) vergleichsweise als schlimmste Szenekontexte wahrgenommen werden. Auffallend ist aber, dass der Szenekontext „Mobbing im Facebook“ (mehrere Personen beleidigen und beschimpfen eine Person und deren Aussehen auf Facebook) als ebenso schlimm wahrgenommen und bewertet wird. Grundsätzlich muss betont werden, dass alle zur Bewertung vorgegebenen verbalen und körperlichen Gewalthandlungen als schlimm bewertet wurden und sich die analysierten Bewertungsunterschiede innerhalb relativ kleiner Intervallgrößen manifestieren.

Für die Bewertung kommt auch das Geschlecht des Opfers in Zusammenhang mit dem Geschlecht der Täterin/des Täters zum Tragen: Wendet sich eine weibliche Täterin gegen ein weibliches Opfer, ist das deutlich schlimmer als gegen ein männliches Opfer. Bei einem männlichen Täter wird aber nicht mehr so deutlich zwischen weiblichem und männlichem Opfer unterschieden. Offenbar ist es in der normativen Bewertung „nicht richtig“, wenn sich Mädchen gegen Mädchen wenden. Trotzdem werden weibliche Täterinnen aber grundsätzlich als weniger schlimm und „harmloser“ wahrgenommen als männliche Täter.

Auch der Migrationshintergrund des Opfers nimmt Einfluss auf die Bewertung, indem Gewaltkontexte, in denen ein Opfer mit Migrationshintergrund vorkommt, als schlimmer bewertet werden. Zusätzlich gibt es wieder einen Zusammenhang mit dem Geschlecht der Täterin/des Täters: Hat das Opfer keinen Migrationshintergrund, fällt die Bewertung bei einer weiblichen Täterin deutlich weniger schlimm aus als bei einem männlichen Täter. Hat das Opfer aber einen Migrationshintergrund, fällt die Bewertung bei einer Täterin zwar immer noch etwas schlimmer aus als bei einem Täter, der Bewertungsunterschied ist aber wesentlich geringer. Es gibt also offenbar eine sensibilisierte Haltung der Befragten gegenüber einem Opfer mit Migrationshintergrund.

Der Migrationshintergrund der Täterin/des Täters beeinflusst ebenfalls die Bewertung, und zwar in Zusammenhang mit dem Migrationshintergrund des Opfers: Wendet sich eine Täterin/ein Täter mit Migrationshintergrund gegen ein Opfer ebenfalls mit Migrationshintergrund, dann ist das deutlich schlimmer als gegen ein Opfer ohne Migrationshintergrund. Bei einer Täterin einem Täter ohne Migrationshintergrund wird aber nicht dahingehend differenziert, ob das Opfer Migrationshintergrund hat oder nicht. Ähnlich wie im oben erwähnten Fall „Mädchen gegen Mädchen“ ist es in der normativen Grundhaltung offenbar „nicht richtig“, wenn sich Jugendliche mit Migrationshintergrund gegen Jugendliche ebenfalls mit Migrationshintergrund wenden.

Auch das Geschlecht der Befragten nimmt Einfluss auf die Bewertung, indem Mädchen die Szenen grundsätzlich als schlimmer bewerten als Burschen. Interessant ist auch, dass Mädchen außerdem zwischen weiblichem und männlichem Opfer differenzieren, indem Szenen mit einem weiblichen Opfer vergleichsweise als schlimmer bewerten werden, Burschen differenzieren hingegen nicht anhand des Geschlechts des Opfers.

Zusätzlich spielt der Migrationshintergrund der Befragten selbst eine wichtige Rolle: Mädchen und Burschen mit Migrationshintergrund bewerten die Szenen grundsätzlich als schlimmer als jene ohne Migrationshintergrund. Auffallend ist, dass Befragte mit Migrationshintergrund zwischen weiblichem und männlichem Opfer unterscheiden, indem Szenen mit einem weiblichen Opfer als schlimmer empfunden werden, Befragte ohne Migrationshintergrund differenzieren diesbezüglich nicht.


2.3.2 Wie werden Interventionen des Opfers bewertet?
Rekonstruiert man nun das Bewertungsmodell bezogen auf die Frage, ob die gezeigten Situationen nach Ansicht der Befragten für das Opfer gut oder schlecht weitergehen werden, so zeigt sich, dass auch hier die Vignettenszene die Videovignettenbewertung maßgeblich beeinflusst, wobei die Szene „Erpressung“, die auch gleichzeitig als am schlimmsten bewertet wurde, vergleichsweise als am pessimistischten für das Opfer eingeschätzt wird.

Das Geschlecht des Opfers hat nur in Verbindung mit dem Geschlecht der Täterin/des Täters einen Einfluss auf die Bewertung: Wendet sich eine weibliche Täterin gegen ein weibliches Opfer, werden die Folgen pessimistischer eingeschätzt als für ein männliches Opfer. Wendet sich ein männlicher Täter gegen ein männliches Opfer, werden die Folgen ebenfalls pessimistischer eingeschätzt als bei einem weiblichen Opfer. Eine Rolle spielt wiederum der Migrationshintergrund des Opfers, indem bei allen Szenen die Folgen für ein Opfer mit Migrationshintergrund als pessimistischer eingeschätzt werden.

Der Migrationshintergrund der Täterin/des Täters zeigt bei den Videovignetten aber keinen Einfluss.

Als besonders einflussreich wird die in der Vignette vorgegebene Reaktion des Opfers bewertet: „Wehrt sich“ das Opfer im Sinne von zurückschimpfen oder zurückschlagen, dann fällt die Bewertung am schlechtesten aus. Am besten ist es für das Opfer, wenn es keine Intervention setzt und einfach „nichts macht“, gefolgt von der Möglichkeit die Täterin/den Täter „zur Rede zu stellen“; an dritter Stelle steht die Option, dass das Opfer sich „Unterstützung aus dem Freundeskreis holt um sich zu wehren“.

Es zeigen sich auch hier wieder geschlechtsspezifische Unterschiede, indem Mädchen die Folgen für das Opfer grundsätzlich etwas pessimistischer einschätzen als Burschen. Bemerkenswert ist auch, dass sich Mädchen und Burschen zwar grundsätzlich über die Bewertung der Reaktionen des Opfers einig sind, nur die Option „wehrt sich“ (im Sinne von zurückschimpfen oder zurückschlagen) wird von Mädchen deutlich pessimistischer eingeschätzt als von Burschen.

Einfluss nimmt aber auch der Migrationshintergrund der Befragten, indem Mädchen und Burschen mit Migrationshintergrund die Fortsetzung der Geschichte deutlich pessimistischer für das Opfer einschätzen als Befragte ohne Migrationshintergrund. Zusätzlich wird sichtbar, dass Befragte ohne Migrationshintergrund die Opferreaktion „nichts machen“ eindeutig besser einstufen, als „zur Rede stellen“. Befragte mit Migrationshintergrund schätzen allerdings die Folgen für das Opfer ebenso schlecht ein, wenn es „nichts macht“ oder die Täterin/den Täter „zur Rede stellt“, wodurch eine insgesamt resignative Haltung zum Ausdruck kommt.


2.3.3 Wann wird Interventionsbedarf von Jugendlichen gesehen bzw. wie soll interveniert werden?
Auf die Frage, was sie selbst bei einer konkreten Vignettensituation als Erstes tun würden, antwortete zumindest jede/r fünfte der befragten Mädchen und Burschen mit „ich würde mich nicht einmischen und nichts tun“ bzw. „ich würde versuchen, durch Reden die Situation zu klären“. Relativ gesehen wurden diese beiden Antwortmöglichkeiten damit am häufigsten genannt. An dritter Stelle folgt „ich würde eine/n LehrerIn oder anderen Erwachsenen informieren“. Weitere Antwortmöglichkeiten, wie „ich würde dem Opfer helfen“ oder „ich würde dazwischen gehen, falls notwendig auch handgreiflich“, wurden am viert- bzw. fünfthäufigsten genannt, an vorletzter Stelle lag „die Polizei anrufen“ und an letzter Stelle „andere Jugendliche zur Verstärkung holen“.

Aufschlussreich ist die Rekonstruktion des Bewertungsmodells in Hinblick auf die Antwortmöglichkeit „ich würde mich nicht einmischen und nichts tun“: Es zeigt sich, dass sich die Befragten hier lediglich an der Vignettenszene orientieren, die Wahrscheinlichkeit „sich nicht einzumischen“ ist bei der Szene „Beschimpfung der Mutter“ am höchsten und am niedrigsten bei „Grundlosem Schlagen“.

Auch hier beeinflusst das Geschlecht der Befragten die Bewertung, indem bei Burschen eine deutlich höhere Chance besteht, sich „nicht einzumischen“ als bei Mädchen.

Zusätzlich kommt wieder der Migrationshintergrund der Befragten zum Tragen, und zwar in Zusammenhang mit dem Geschlecht der Befragten: Während sich Burschen mit und ohne Migrationshintergrund praktisch nicht in ihrem Antwortverhalten unterschieden, ist bei Mädchen mit Migrationshintergrund die Wahrscheinlichkeit höher sich „nicht einzumischen“ als bei Mädchen ohne Migrationshintergrund, wenn auch bei Burschen immer noch eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht „sich nicht einzumischen“.

Analysiert man schließlich die Antwortmöglichkeit „ich würde eine Lehrerin/einen Lehrer oder einen anderen Erwachsenen informieren“, so erweist sich auch hier die Vignettenszene als wesentlicher Einflussfaktor: Bei „Erpressung“ ist die Chance „eine/n LehrerIn oder einen anderen Erwachsenen zu informieren“ am höchsten.

Während das Geschlecht von Opfer oder Täterin offenbar keine Rolle spielt, übt aber der Migrationshintergrund des Opfers einen Einfluss aus: So besteht bei einem Opfer mit Migrationshintergrund eine höhere Bereitschaft „eine/n LehrerIn oder einen Erwachsenen zu informieren“ als bei einem Opfer ohne Migrationshintergrund.

Auch hier kann das Geschlecht der Befragten als Erklärungsfaktor angeführt werden, wonach bei Mädchen generell eine deutlich höhere Bereitschaft besteht „eine/n LehrerIn oder einen/e Erwachsenen zu informieren“ als bei Burschen. Der Migrationshintergrund der Befragten zeigt hier keinen Einfluss.


2.3.4 Wann und wie sollen Erwachsenen intervenieren?
Auf die Frage, was LehrerInnen oder andere Erwachsene nach Ansicht der befragten Mädchen und Burschen in einer vorgegebenen Situation tun sollten, antworteten jeweils beinahe ein Viertel mit „ein ernsthaftes Gespräch mit den Beteiligten führen“ und „Eltern zu einem Gespräch vorladen“. Mehr als ein Zehntel meinten aber, „sie/er soll sich hier nicht einmischen, die müssen das selber lösen“, vergleichsweise etwas öfter wurde die Antwort „sie/er soll den Direktor/die Direktorin informieren“ genannt und wieder etwas weniger häufig „sie/er soll dazwischen gehen, aber keine weiteren Schritte setzen“. Am wenigsten häufig wurden die Antwortmöglichkeiten „eine Anzeige bei der Polizei machen“ und „TäterIn bestrafen“ genannt.

Geht man nun der Frage nach, welches Bewertungsmodell hinter der Antwortoption „LehrerInnen/Erwachsene sollen sich hier nicht einmischen“ liegt, so zeigt sich, dass sich die Befragten wieder ausschließlich an der Vignettenszene orientieren, wobei die Chance, diese Antwortmöglichkeit zu wählen, bei „Erpressung“ am geringsten ist.

Auch hier spielt das Geschlecht der Befragten eine Rolle, indem bei Burschen die Wahrscheinlichkeit deutlich höher ist, die Antwortmöglichkeit „LehrerInnen / Erwachsene sollen sich nicht einmischen“ zu wählen als bei Mädchen.

Aber auch der Migrationshintergrund der Befragten zeigt einen Einfluss: Bei Befragten mit Migrationshintergrund ist die Chance höher als bei Befragten ohne Migrationshintergrund, die Option „LehrerInnen/Erwachsene sollen sich nicht einmischen“ zu wählen.


2.3.5 Perspektiven für praxisrelevante Umsetzung
Die Präsentation der qualitativen und quantitativen Ergebnisse der Vignettenanalyse zeigt deutlich auf, dass alltägliche Gewalt unter Jugendlichen aus der Perspektive von Mädchen und Burschen mit und ohne Migrationshintergrund sehr unterschiedlich eingeschätzt und bewertet wird. Neben diesen divergierenden Sichtweisen, die für nachhaltige zielgruppenspezifische Präventionskonzepte gewinnbringend sein können, gibt es aber auch Ergebnisse, die für alle befragten SchülerInnen gelten: So wird beispielsweise Cybermobbing neben physischen Gewaltdelikten als sehr schlimm bewertet und erfahren; Gewalt in seinen unterschiedlichsten Formen als alltägliches Lebensrealität erlebt; Interventionen seitens Erwachsener als sehr fragwürdig gesehen und wenn, dann vermehrt von Mädchen gewünscht; die beste Strategie als Opfer wird im „Nichtstun“ gesehen bzw. Einmischung als nicht sinnvoll erlebt – diese Einstellungen von Jugendlichen sollten zum Nachdenken und Handeln anregen, denn sie haben sich aufgrund von realen Erfahrungen in der Gesellschaft gebildet.

Auf Basis der vielen differenzierten Erkenntnisse, die in diesem Forschungsprojekt mit Jugendlichen gewonnen werden konnten, geht es nun auch darum, eine praxisrelevante Umsetzung in Schule und Sozialer Arbeit einzuleiten. Denn eine wichtige Zielsetzung des Forschungsprojekts „Peer Violence“ ist es auch, das Erhebungsmaterial sowie die Ergebnisse der Studie für die Ausarbeitung von Schulungsmaterial für einen reflektierten Umgang mit Gewalt unter Jugendlichen zu verwenden. Mit Hilfe der für die Befragung der Jugendlichen entwickelten Vignetten sollen eigene Bewertungen vorgenommen werden, die dann den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der durchgeführten Studie gegenüber gestellt werden. Damit kann insbesondere bei LehrerInnen und SozialarbeiterInnen eine Sensibilisierung für die Bedeutung von Gender und Migrationshintergrund in Zusammenhang mit der Einschätzung von Gewalt unter Jugendlichen erreicht werden.

Inzwischen konnten die ersten Erfahrungen mit der Weiterverwendung des Erhebungsmaterials (= Videoclips) für MultiplikatorInnen in der Gewaltprävention mit zukünftigen LehrerInnen gemacht werden.3 Die Erfahrungen mit dem Einsatz von ausgewählten Videovignetten in der LehrerInnenausbildung zeigen deutlich auf, dass es wichtig ist, nicht nur im kognitiven Bereich mit den jungen Frauen und Männern zu arbeiten und Informationen über die unterschiedlichsten Formen von gewalttätigen Handeln anzubieten, sondern zunächst diskursiv zu analysieren, wie Studierende selbst gewalttätiges Handeln in ihrem Umfeld erleben, wahrnehmen und bewerten. Die StudentInnen bestätigten die hohe Relevanz des Themas (auch in Rückgriff auf ihre eigenen Erfahrungen als SchülerInnen bzw. als Studierende der schulpraktischen Ausbildung) und konnten nach einer ausführlichen Gruppendiskussion am Ende der Veranstaltung erste gewaltpräventive Ideen im schulischen Kontext formulieren. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist vor allem, dass Personen, die mit Jugendlichen gewaltpräventiv arbeiten, das Bewusstsein entwickeln, dass die Entscheidung über den Einsatz bestimmter Interventionsmaßnahmen immer situativ und in Abwägung der aktuellen Rahmenbedingungen zu erfolgen hat und es demzufolge keine Rezepte gibt. An einer Handreichung für den Einsatz der Vignetten als Schulungsvignetten für MultiplikatiorInnen in der Gewaltprävention wird gemeinsam mit dem Kooperationspartner Pädagogische Hochschule Wien gearbeitet.

„Das Allerwichtigste ist das Hinschauen auf die konkrete Situation. Das ist auch ein großes Problem, denn aufgrund meiner inzwischen langen Erfahrungen als Beratungslehrer kann ich wirklich sagen, dass auf viele Dinge von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer nicht wirklich hingeschaut wird bzw. wenn Kinder mit ihren Problemen dann auch kommen, sie nicht in entsprechender Form ernst genommen werden – es wird oft abgetan!“

Dieses Zitat eines Beratungslehrers im Forschungsprojekt zeigt sehr deutlich auf, wie wichtig das genaue Hinschauen (statt Wegschauen), das Eingreifen und das pädagogisch angemessene Reagieren seitens Erwachsener gefordert ist, um die Entwicklung von Bedingungen für ein gewaltfreies Miteinander zu fördern.


Verweise
1 Quantitative und qualitative Vignettenstudien haben sich im internationalen Umfeld v. a. in den letzten Jahren zur Untersuchung sensibler Themenbereiche in vielen Anwendungsfeldern bewährt, wie z. B. in den Bereichen Gewalttätigkeit (Strohmeier/Spiel 2007, Taylor/Sorensen 2005 Hunter et.al. 1991), sozialer Status von Personen (Diekmann 1982, Nock/Rossi 1978) oder Immigration (Jasso 1988, Steiner/Atzmüller 2006). Vignetten werden aber auch erfolgreich zu Unterrichtszwecken im Pflege- und Bildungsbereich eingesetzt (Moira et al. 2006, Seguin et al. 2002).
2 Die gesamte Textvignettenpopulation wurde mit Hilfe folgender 6 Vignettenfaktoren (Anzahl Faktorstufen) gebildet: Gewaltszenen (12), Geschlecht Opfer (2), Geschlecht Täter (2), Migrationshintergrund Opfer (2), Migrationshintergrund TäterIn (2), Reaktion des Opfers (4) = 12x2x2x2x2x4=768 unterschiedliche Vignetten. Die gesamte Textvignettenpopulation wurde mit Hilfe eines experimentellen Designs (Randomized Block Confounded Factorial Design) systematisch in 96 Sets zu je 8 Textvignetten pro Person aufgeteilt. Für die Videovignetten wurde ebenfalls ein experimentelles Design erstellt, sodass pro Person 6 Videovignetten zur Bewertung vorgelegt werden konnten.
3 Der Einsatz von Videovignetten wurde im Sommersemester 2012 im Rahmen einer humanwissenschaftlichen Lehrveranstaltung an der Pädagogischen Hochschule Wien zur Heranführung an das Thema Gewalt anhand sechs ausgewählten Videovignetten aus dem Forschungsprojekt durchgeführt. Dabei bewerteten Studierende sowohl die inhaltliche und die filmische Umsetzung als auch die technische Qualität der Videovignetten durchwegs als sehr hoch. Interessant in dieser Ausbildungsgruppe war u. a., dass sich die Gruppe am meisten von den Videoclips „Mädchenmobbing im Facebook“ und „Burschenmobbing in der Schulklasse“ angesprochen fühlten und damit auch weiterarbeiteten. Auch im kommenden Sommersemester 2013 wird der Einsatz von Videovignetten als Schulungsmaterial in der LehrerInnenausbildung und auch im Kontext der Sozialen Arbeit (z. B. mit SchulsozialarbeiterInnen) zur Testung eingesetzt, um darauf aufbauend Empfehlungen für die Praxis zu entwickeln.


Literatur
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Über die Autorinnen

Mag.a Dr.in Ingrid Kromer

Erziehungswissenschafterin und Soziologin mit Schwerpunkt Kindheit und Jugend, insbesondere Gewalt & Jugenddelinquenz sowie Kinderarmut; dzt. tätig in Forschung und Lehre am Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit an der FH Campus Wien und an der KPH Wien/Krems, Campus Strebersdorf

Mag.a Dr.in Christiane Atzmüller

Sozialwissenschafterin mit methodischem Schwerpunkt experimentelle Vignettenstudien; aktuelle inhaltliche Schwerpunkte: Gewaltwahrnehmung unter Jugendlichen, Jugenddelinquenz; dzt. tätig in Forschung und Lehre am Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit/FH Campus Wien