soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 9 (2013) / Rubrik "Rezensionen kurz" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/260/430.pdf


Brütt, Christian: Workfare als Mindestsicherung: Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. transcript: Bielefeld 2012.


392 Seiten / EUR 29,80

Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der unter dem Namen „Hartz IV“ bekannt gewordenen Reform der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik hat bislang vornehmlich auf die neuartige Verzahnung der beiden Politikfelder fokussiert. Dies wundert wenig, bedingte besagte Reform doch nicht bloß eine Ersetzung der alten Sozialhilfe durch die neue Grundsicherung für Arbeitssuchende bzw. für alle als „erwerbsfähig“ geltenden Hilfebedürftigen. Sie ging auch mit der faktischen Abschaffung des vorgelagerten Sicherungssystems der Arbeitslosenhilfe einher, die grob der österreichischen Notstandshilfe entsprach. Aufgrund dieser Fokussetzung etwas aus dem Blick geriet jedoch der Wandel der deutschen Sozialhilfepolitik selbst – eine Forschungslücke, die durch eine aktuelle Arbeit des Berliner Sozialwissenschafters Christian Brütt geschlossen wird.

Für Brütt forschungsleitend ist dabei die Frage, inwiefern zwischen der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) 1961 und der Hartz IV-Reform 2005 „die sozialpolitisch geformten Handlungsoptionen der Einzelnen hinsichtlich der Notwendigkeit, der Möglichkeit, des Umfangs und der Art und Weise des Verkaufs der Arbeitskraft zwecks Existenzsicherung […] neu geordnet worden sind“ (2012: 10). Staatliche Sozialpolitik als institutionelles Arrangement sieht er durch unterschiedliche Wirkungsweisen gekennzeichnet: Einerseits beeinflusst sie die entry- und stay-Optionen der Individuen, also die Entscheidung, unter welchen Bedingungen die Arbeitskraft verkauft werden kann, darf bzw. muss; andererseits aber auch ihre non-entry- und exit-Optionen, also die Bedingungen, unter denen Alternativen zum Verkauf der Arbeitskraft zur Verfügung stehen. Zur Anwendung kommen dabei, wie Brütt unter Rekurs auf den Soziologen Franz X. Kaufmann ausführt, rechtliche, ökonomische, ökologische sowie pädagogische Interventionen. Durch diese wird so bspw. – im Falle der Letztgenannten etwa mittels sozialpädagogischer Beratung – auf die Handlungskompetenzen der Einzelnen eingewirkt.

Was die Frage des Wandels des Politikfelds während des skizzierten Zeitraums anbelangt, geht Brütt von einem „schleichenden Paradigmenwechsel“ (2012: 14) aus, der als kumulative Wirkung einer Reihe kleinerer Veränderungen zu betrachten sei. Besagten Wandel begreift er als einen in Richtung Workfare. Darunter verstanden wird jedoch nicht die Konvergenz der deutschen Sozialhilfepolitik mit einem bestimmten Realtypus wie bspw. dem US-amerikanischen. Vielmehr geht es um derer Annäherung an den Idealtypus einer spezifischen Workfare-Logik, den Brütt als „restriktiv-residuale, kategoriale Mindestsicherung“ (2012: 94) bezeichnet.

Bevor er diese These jedoch am empirischen Gegenstand zu belegen versucht, entwickelt er vorab die sozialstaats- und institutionentheoretischen Grundlagen seiner Arbeit, um im Anschluss daran auf den politischen und sozioökonomischen Kontext des von ihm untersuchten Wandels einzugehen. Methodisch mit der Analyse von Leitbildern begriffen als „Denkschablonen“ (2012: 14) befasst, welche Orientierungs-, Motivations- und Koordinierungsfunktionen in sich bündeln, wird dabei in einem ersten Schritt der Wandel staatlicher Metaleitbilder – vom aktiven über den schlanken bis hin zum aktivierenden Staat – rekonstruiert. In der Folge wird die Erosion der gesellschaftlichen Leitbilder vom Normalarbeitsverhältnis bzw. vom Familienernährermodell dargestellt, um abschließend die Sozialhilfepolitik selbst in den Blick zu nehmen.

Wie erwähnt geht Brütt von einem schleichenden Wandlungsprozess aus, den er in zwei Dimensionen untersucht, die für den angesprochenen „Idealtypus „workfare“ (2012: 95) zentral sind: Um eine Entwicklung in Richtung einer kategorialen Mindestsicherung handle es sich nämlich insofern, als der universelle Residualismus des BSHG schrittweise durch einen kategorialen ersetzt worden sei. Damit gemeint ist, dass sich die Geschichte der deutschen Sozialhilfe als eine „Geschichte zunehmender kategorialer Differenzierung des Adressatenkreises“ (2012: 240) begreifen lässt, konkret in Gestalt der Ausgliederung von AsylwerberInnen (Asylbewerberleistungsgesetz 1993), Pflegebedürftigen (Pflegeversicherungsgesetz 1995/96) sowie Erwerbsunfähigen und Älteren (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003), die mit der Ausgliederung von als „erwerbsfähig“ geltenden Hilfebedürftigen im Zuge von Hartz IV ihren Abschluss fand.

Um eine Entwicklung in Richtung einer restriktiv-residualen Mindestsicherung hingegen handle es sich deshalb, weil diese einerseits durch eine fortschreitende Verschärfung der Kriterien von „Würdigkeit“ gekennzeichnet gewesen sei. Damit gemeint ist, dass u. a. durch restriktivere Zumutbarkeitsregelungen der Kreis der als „würdig“ geltenden BezieherInnen verkleinert und durch restriktivere Sanktionsnormen die Handlungsmöglichkeit der Einzelnen eingeschränkt wurde. Andererseits sei es zu einer zunehmenden Umformung der SoHi von einem out-of- in einen in-work-benefit gekommen. Damit gemeint ist, dass u. a. die Bedarfsdeckung durch Regelsätze und Mehrbedarfe (bspw. aufgrund von Deckelungen) immer weniger gelang, während gleichzeitig „Anreize“ zur Arbeitsmarktintegration (bspw. in Gestalt von Kombilöhnen) ausgebaut wurden.

In der Hartz IV-Reform fanden Brütt zufolge all diese Entwicklungsstränge schließlich „ihren offensichtlichen Kulminationspunkt“ (2012: 319), weil damit bereits Bestehendes auf neue Art zusammengefügt wurde. Als zentral erachtet er einerseits den „neuen Kontraktualismus“ (2012: 299), durch den es zu einer Überformung des rechtlichen Status der LeistungsbezieherInnen durch Vertragselemente kam (bspw. Eingliederungsvereinbarung zwischen „KundIn“ und „DienstleisterIn“). Andererseits ist aus seiner Perspektive der damit vollzogene Ausbau von Market Workfare als spezifische Form dieser Politik insofern von zentraler Bedeutung, als dadurch die Sicherung des ökonomischen Status der LeistungsbezieherInnen noch enger an den (Arbeits-)Markt gekoppelt wurde (bspw. durch Lohnkosten- und Existenzgründungszuschüsse).

Dramatisch zugespitzt wurde dadurch – so ließe sich mit Blick auf die forschungsleitende Frage resümieren – die Notwendigkeit zum Verkauf der Arbeitskraft zwecks Existenzsicherung. Für die Soziale Arbeit hat dieser Wandel nicht bloß weitreichende Konsequenzen; sie ist im Sinne der genannten pädagogischen Interventionsform auch unmittelbar darin verstrickt. Möglicherweise jedoch ist die Politik von Workfare als Mindestsicherung, wie Brütt abschließend betont, in ihrer Prognostik mit einem trügerischen Optimismus verbunden: Ihre Infragestellung einer „sozialen Absicherung außerhalb des Arbeitsmarktes als Grundlage für die Autonomie der Einzelnen“ (2012: 327) könne sich längerfristig nämlich als fatal erweisen. Diese Schlussfolgerung auf der Grundlage einer gehaltvollen Durchdringung und detailreichen Rekonstruktion von Funktions- und Gestaltungslogiken der Sozialhilfepolitik (nicht nur) in Deutschland nachvollziehbar gemacht zu haben, ist das große Verdienst der vorliegenden Grundlagenarbeit. Dass diese dabei – weitgehend losgelöst vom materiellen Unterbau aus sozial-ökonomischen Interessenbezügen und politisch-ideologischen Konfliktrelationen – phasenweise etwas schwerelos in der Luft hängt, bleibt kritisch zu vermerken.


Markus Griesser / markus.griesser@univie.ac.at