soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 9 (2013) / Rubrik "Werkstatt" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/261/420.pdf


Katharina Kirsch-Soriano da Silva:

Grätzeleltern


Ein Nachbarschaftsprojekt im 6. und 15. Wiener Gemeindebezirk


1. Ausgangslage
1.1 Wohnsituation im Projektgebiet
Die Stadt Wien weist einen hohen Anteil an gründerzeitlicher Bausubstanz auf. Während der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie entstanden in rasantem Bevölkerungs- und Stadtwachstum ganze Stadtteile, welche die ursprünglich dörfliche Struktur der Wiener Vororte überformten. Beherbergten die errichteten Mietskasernen damals ZuwandererInnen aus den östlichen Regionen der Donaumonarchie, so bieten sie heute Wohnraum für zahlreiche in den letzten Jahrzehnten zugezogene MigrantInnen, die in der teilweise noch unsanierten Bausubstanz günstige Wohnungen finden. Insbesondere in den Gebieten nahe und außerhalb des Wiener Westgürtels leben BewohnerInnen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft, die aus baulichen und sozialen Gründen mit schwierigen Wohnsituationen konfrontiert sind.

Der Stadtentwicklungsplan 2005 beschreibt den Westgürtel als ein Stadtgebiet, das mit einer gewissen „Veröderung des städtischen Lebensraums, mit einem überalterten [...] Wohnungsbestand sowie mit einem negativen Image“ verbunden ist und dessen Herausforderungen – als einem der aktuellen Zielgebiete der Wiener Stadtentwicklung – besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. (vgl. Stadt Wien, MA 18 2005: 232) In Hinblick auf seine Sozialstruktur ist das Gebiet durch ein im städtischen Vergleich hohes Niveau an Arbeitslosigkeit, ein niedriges Bildungsniveau, sowie einen überdurchschnittlich hohen MigrantInnenanteil gekennzeichnet. (vgl. Stadt Wien, MA 18 2005: 232)

Das Pilotprojekt „Grätzeleltern“ setzt sich mit benachteiligten Haushalten in strukturschwachen Wohngebieten auseinander. Schwerpunktgebiet des Projekts ist der südliche Bereich des Westgürtels, konkret der westliche Teil des 6. Bezirks und der südliche Teil des 15. Bezirks. Der Anteil an BewohnerInnen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft beträgt in einigen Baublöcken des Projektgebiets 60-70%1. Dies bedeutet, dass hier vielfältige individuelle Migrationsgeschichten aufeinandertreffen, aber auch verschiedene Gruppen und Communities.

Lokal relevante Themen – in Bezug auf die Wohnsituation – sind u. a. die Durchführung von Erhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten sowie baulichen Verbesserungen in Wohnungen und Häusern, ein hoher Energieverbrauch und daraus entstehende Kosten, der Schimmelbefall in Wohnungen und die Gewährleistung eines gesunden Raumklimas, aber auch die Nutzung und der Umgang mit Gemeinschaftsräumen und Hofflächen. Ein erheblicher Anteil der Bauten im Projektgebiet verfügt noch über Substandardwohnungen mit Gangtoiletten, bis zu über 30% der Wohnungen eines Baublocks2, einige Häuser und Wohnungen sind überdies stark erhaltungsbedürftig. Elektroanlagen und Heizungen entsprechen häufig nicht dem zeitgemäßen Standard, einige Wohnungen verfügen über gar keine funktionierende Heizung. Lokal relevante Themen – in Bezug auf die Wohnsituation – sind u. a. die Durchführung von Erhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten sowie baulichen Verbesserungen in Wohnungen und Häusern, ein hoher Energieverbrauch und daraus entstehende Kosten, der Schimmelbefall in Wohnungen und die Gewährleistung eines gesunden Raumklimas, aber auch die Nutzung und der Umgang mit Gemeinschaftsräumen und Hofflächen. Ein erheblicher Anteil der Bauten im Projektgebiet verfügt noch über Substandardwohnungen mit Gangtoiletten, bis zu über 30% der Wohnungen eines Baublocks , einige Häuser und Wohnungen sind überdies stark erhaltungsbedürftig. Elektroanlagen und Heizungen entsprechen häufig nicht dem zeitgemäßen Standard, einige Wohnungen verfügen über gar keine funktionierende Heizung.

Ein Überbelag der Wohnungen, überhöhte Mietzinse sowie Zahlungsforderungen von privaten „WohnungsvermittlerInnen“ verschärfen die Wohnsituationen zusätzlich. Armut zeigt sich in vielen Fällen auch in Form von Energiearmut3.


1.2 Bestehende Beratungsangebote
Verschiedene bestehende Einrichtungen bieten Beratung und Unterstützung bei der Verbesserung der Wohnsituation an. Seitens der Stadt Wien gibt es Förderungen zur baulichen Verbesserung und Standardanhebung von Wohnungen – z. B. für den Einbau von Sanitärinstallationen oder einer zeitgemäßen Heizung. Auch die Sanierung von ganzen Häusern wird durch den wohnfonds_wien, z. B. im Rahmen von Sockelsanierungen, Totalsanierungen, thermischen Sanierungen oder Blocksanierungen, finanziell gefördert. Einzelne WohnungsmieterInnen können bei einer Sockelsanierung im Rahmen von so genannten „Huckepacksanierungen“ ebenfalls ihre Wohnungen nach ihren Vorstellungen gefördert sanieren lassen. Darüber hinaus können einkommensschwache Haushalte bei der Stadt Wien um finanzielle Unterstützung in Form der Wohnbeihilfe ansuchen. In den einzelnen Bezirken ist vor allem die Gebietsbetreuung Stadterneuerung eine wichtige Ansprechstelle vor Ort, die Auskunft über mögliche bautechnische Verbesserungen und städtische Förderungen geben kann. Sie ist der „sanften“ und an den BewohnerInnen orientierten Stadterneuerung verpflichtet und versucht bauliche Aufwertungsprozesse zu initiieren, die „sozial verträglich“ sind, d. h. die BewohnerInnen verbleiben in ihren Wohnungen und werden in Sanierungsmaßnahmen mit einbezogen. (vgl. Berger 1997, Berger 2008, Förster 2008)

Im Bereich Wohn- und Mietrecht bietet die Gebietsbetreuung ebenfalls Information und Beratung und vermittelt im Bedarfsfall zwischen MieterInnen, EigentümerInnen und Hausverwaltungen. Der v. a. im Wiener Altbaubestand bestehende Mieterschutz durch das Mietrechtsgesetz kann auch durch den Weg zur Schlichtungsstelle der Stadt Wien durchgesetzt werden – z. B. durch Mietzins- und Betriebskostenüberprüfungen oder den Antrag auf die Durchführung von notwendigen Erhaltungsarbeiten im Wohnhaus durch die VermieterInnen. Bei Gefahr in Verzug kann die Stadt Wien zudem die Baupolizei einsetzen, direkte Bauaufträge an die HauseigentümerInnen erlassen bzw. über das Büro für Sofortmaßnahmen sogenannte „Ersatzvornahmen“ auf Kosten der Gemeinde vornehmen lassen, die im Nachhinein von den EigentümerInnen zurückgefordert werden. In wirklichen „Spekulationsobjekten“, bei denen MieterInnen mitunter auch hinausgedrängt werden sollen, um Häuser „bestandsfrei“ (also ohne aufrechte Mietverhältnisse) zu bekommen und so einen höheren Wert bei Verkauf oder Umbau erzielen zu können, kann der Rechtshilfefonds eingesetzt werden, um auch für betroffene einkommensschwache Haushalte Unterstützung für eine rechtliche Vertretung vor Gericht zu ermöglichen. (Stadt Wien, MA 25 2011: 30-31, http://www.wien.gv.at/bauen-wohnen/)

In vielen Fällen kann eine Verbesserung der Wohnsituation aber nicht nur durch bautechnische Maßnahmen und finanzielle oder rechtliche Unterstützung zustande kommen, sondern auch durch das eigene Wohnverhalten. Die Anordnung von Möbeln, Textilien oder Zimmerpflanzen sowie angemessenes Heizen und Lüften können einen wesentlichen Beitrag für ein gesundes Raumklima und z. B. zur Vermeidung von Schimmel in der Wohnung leisten. Das Nutzungsverhalten beim Wasser-, Gas- oder Stromverbrauch kann wesentlich zum Energiesparen und zur Senkung von Energiekosten beitragen. Abfallvermeidung, -trennung und -entsorgung sind nicht nur in ökologischer Hinsicht relevant, sondern lohnen sich auch in ökonomischer Hinsicht. Neben der Gebietsbetreuung bieten in diesen Bereichen rund um „Gesundes Wohnen, Energiesparen und Wohnverhalten“ auch Institutionen wie die Umweltberatung oder die ARGE Energieberatung kompetente Begleitung und Fachwissen. In sozialen Fragen gibt es darüber hinaus zahlreiche weitere Ansprechstellen, die zu sozioökonomischen, arbeitsmarktbezogenen, aufenthaltsrechtlichen oder gesundheitlichen Themen Information und Unterstützung anbieten.

Die meisten beschriebenen Einrichtungen haben bestimmte festgelegte Zeiträume für KlientInnenberatung vorgesehen. Die Gespräche finden in der Regel in den jeweiligen Einrichtungen statt und in vielen Fällen ist eine vorherige Terminvereinbarung erforderlich bzw. erwünscht.


1.3 „Schwer erreichbare“ Zielgruppen, „schwer erreichbare“ Einrichtungen und „Missing Links“
Wie sich zeigt, besteht eine große Vielfalt an Angeboten, an die sich betroffene Haushalte in schwierigen Wohnsituationen wenden könnten. Lokal angesiedelte Gebietsbetreuungen bieten Beratungsangebote in den verschiedenen Wiener Bezirken und vermitteln auch an weitere Angebote der Stadt Wien im Bereich Wohnen und Zusammenleben. Bisherige Erfahrungen der Gebietsbetreuungen zeigen allerdings, dass gerade bestimmte besonders betroffene Menschen (wie z. B. sozial benachteiligte MigrantInnen) aufgrund von fehlendem Wissen über die Angebote, aufgrund von sprachlichen und kulturellen Barrieren oder aufgrund von Unsicherheiten und Ängsten gegenüber Institutionen und Behören dennoch schwer erreicht werden. Die Beratung in der Einrichtung nach vorheriger Terminvereinbarung stellt für manche soziale Gruppen und Milieus ein relativ hochschwelliges Angebot dar. In diesem Sinne kann „schwer erreichbar“ mit Blick auf die Handlungsmöglichkeiten von spezifischen Zielgruppen auch aus der anderen Perspektive gesehen werden, indem sich zuständige Einrichtungen als hochschwellig – also für die Zielgruppen „schwer erreichbar“ darstellen.

Es bedarf daher niederschwelligerer Angebote und Vermittlungsinitiativen, um die „Missing Links“ zwischen bestehenden und vielfältigen professionellen Beratungsangeboten und betroffenen Haushalten herzustellen. Ein größeres Wissen über Angebote und Ansprechstellen, das Überwinden von vielfältigen Barrieren und Schwellenängsten, aber auch das Wissen in Bezug auf das eigene Wohnumfeld und Wohnverhalten sowie über die eigenen Rechte und Pflichten als MieterInnen erweitert die Handlungsoptionen der Betroffenen ganz wesentlich. Empowerment und Kompetenzentwicklung sind in diesem Sinne wesentliche Ansatzpunkte, um die beschriebenen „Missing Links“ zu schaffen.


2. Das Projekt Grätzeleltern
2.1 Projektentwicklung und Trägerschaft
Ausgehend von der beschriebenen Ausgangslage und aufbauend auf den Erfahrungen der Gebietsbetreuung Stadterneuerung, die seit vielen Jahren im Projektgebiet tätig ist, wurde von der Gebietsbetreuung und der Caritas Wien das Projekt „Grätzeleltern“ entwickelt. Die Caritas Wien, die seit 2012 einen eigenen Bereich für Gemeinwesenarbeit eingerichtet hat und sich hier u. a. auch in das Tätigkeitsfeld der Stadtteilarbeit begibt, übernimmt die Trägerschaft des Projekts. Die Gebietsbetreuung Stadterneuerung im 6., 14. und 15. Bezirk dient als lokal verankerte Ansprechstelle und Kooperationspartnerin vor Ort.

Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation wird vom Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit der FH Campus Wien durchgeführt und soll zu laufenden Reflexions- und Optimierungsprozessen während der Projektumsetzung beitragen.

Das Projekt Grätzeleltern ist ein Teilprojekt des „Pilotprojekts gegen Energiearmut“ und wird im Rahmen der Programmlinie „Neue Energien 2020“ vom Klima- und Energiefonds der Forschungs-förderungsgesellschaft (FFG) gefördert4.


2.2 Projektinhalte, Ziele und Zielgruppen
Das Projekt „Grätzeleltern“ will die Weitergabe von Wissen, die innerhalb des Bekanntenkreises der BewohnerInnen in der Nachbarschaft stattfindet, gezielt nutzen und professionell unterstützen. Anknüpfend an den erfolgreich praktizierten Ansatz des Berliner Projekts „Stadtteilmütter“ (http://www.stadtteilmuetter.de/) werden ausgewählte BewohnerInnen rund um Themen des Wohnens und Zusammenlebens geschult, um dann als MultiplikatorInnen – so genannte „Grätzeleltern“ – das erworbene Wissen im Rahmen von Hausbesuchen an weitere Haushalte im Grätzel weiterzugeben5.

Sie beschäftigen sich dabei mit Themen wie Energiesparen, Wasser- und Stromverbrauch, Müllvermeidung und Mülltrennung, substanzschonendem Umgang im Wohnraum, gesundem Raumklima und Schimmelbekämpfung, baulicher Verbesserung und Hofbegrünung.

Zudem setzen sie sich mit wohnrechtlichen Grundkenntnissen, der Vermeidung von Schuldenfallen, Angeboten und Ansprechstellen im Grätzel bzw. Bezirk sowie dem Zugang zu Förderungen und Sozialleistungen auseinander. Bei Bedarf vermitteln sie auch an weitere Ansprechstellen und Institutionen.

Die Grätzeleltern sind – wie auch die Wohnbevölkerung des Projektgebiets – unterschiedlicher Herkunft und arbeiten in interkulturell zusammengesetzten Tandems. Ihre Tätigkeit wird inhaltlich begleitet und über eine Aufwandsentschädigung honoriert.

Projektziele sind zum einen die Verbesserung der Wohnsituation, die Steigerung der Energieeffizienz als Mittel der Armutsbekämpfung sowie die Förderung gesunder Wohnverhältnisse. Zum anderen sollen die niederschwellige Wissensvermittlung und Bekanntmachung bestehender Angebote, die Stärkung nachbarschaftlicher Strukturen sowie die Kompetenzentwicklung der BewohnerInnen und die aktive gesellschaftliche Teilhabe durch „Hilfe zur Selbsthilfe“ erreicht werden.

Zielgruppen sind BewohnerInnen in schwierigen Wohnsituationen, die zu bereits bestehenden Beratungsangeboten schwer Zugang haben oder von diesen schwer erreicht werden sowie BewohnerInnen unterschiedlicher Herkunft, die sich als Grätzeleltern engagieren möchten und bereit sind, Wissensinhalte über Wohnen und Zusammenleben in ihrem Bekanntenkreis, in ihrer Community und im Grätzel weiter zu vermitteln.

Während des Projektzeitraums werden von den Grätzeleltern zielgruppenspezifische Besuche in insgesamt ca. 100-120 einkommensschwachen und armutsgefährdeten Haushalten im Projektgebiet durchgeführt. Durch die offene Herangehensweise und Gesprächsführung bei den Hausbesuchen soll darüber hinaus auch das Wissen über die Wohnsituation im Projektgebiet und mögliche damit verbundene Problemlagen vertieft werden.


2.3 Methodische Herangehensweisen
Das Projekt ist durch verschiedene Herangehensweisen charakterisiert, die im Folgenden näher beschrieben werden:


2.3.1 Brückenfunktion
Die Grätzeleltern erfüllen eine Brückenfunktion zwischen Haushalten in schwierigen Wohnsituationen und bestehenden professionellen Angeboten und Einrichtungen. Sie sind ehrenamtlich tätig, erhalten aber für die von ihnen durchgeführten Hausbesuche eine finanzielle Aufwandsentschädigung sowie eine laufende inhaltliche und fachliche Begleitung seitens der Caritas Wien und der Gebietsbetreuung.

Ihre Rolle ist damit zwischen „klassischem“ freiwilligen Engagement und professioneller sozialer Arbeit angesiedelt. Es wird Wert darauf gelegt, dass eine Abgrenzung zu professioneller Sozialer Arbeit und Beratungsarbeit besteht. Es ist nicht Aufgabe der Grätzeleltern „professionelle“ Sozialberatungen durchzuführen und selbst Lösungen für die komplexen Problemlagen verschiedener Haushalte zu finden, sondern sie vermitteln Wissen zu verschiedenen Ansprechstellen und zeigen so unterschiedliche Wege, Richtungen und Handlungsoptionen für betroffene Haushalte auf. In diesem Sinne leisten sie eine zentrale gesellschaftliche Arbeit.


2.3.2 Von „NachbarIn zu NachbarIn“
Die Grätzeleltern kennen die Lebenswelten der Betroffenen und kommen zu ihnen nicht als „Profis“, sondern als „NachbarInnen“. So sind sie oftmals in der Lage bestehende Ängste der AdressatInnen zu überwinden, Vertrauen aufzubauen und mehr über Bedarfslagen und Lebenslagen zu erfahren. Begegnungen auf Augenhöhe und offene Gesprächsführungen bilden dabei eine wichtige Basis.

Die Grätzeleltern tragen Wissen in Communities und soziale Netze hinein, an denen sie selbst teilhaben. Nachbarschaftliche Strukturen und soziale Netzwerke werden aktiv in das Projekt einbezogen und dienen – seitens der Grätzeleltern – als Anknüpfungspunkt für die Durchführung von Hausbesuchen.


2.3.3 Grätzelbezogen
Als ein sozialräumlicher Bezugsrahmen für das Pilotprojekt dient das „Grätzel“. Der Begriff des Grätzels hat sich in Wien zur Charakterisierung des eigenen Lebensraums herausgebildet. Im Unterschied zu klar abgegrenzten räumlichen Einheiten wie Bezirken handelt es sich dabei um eine subjektive Beschreibung von urbanen Räumen, die an täglichen Wegen und Routinen, an nachbarschaftlichen Strukturen und sozialen Netzen sowie an Einrichtungen und Orten, denen in der persönlichen Wahrnehmung eine Bedeutung zugemessen wird, anknüpft. Stadtteile werden dabei nicht nur in ihrer physisch-räumlichen Qualität etwa über ihre Architektur und Topographie definiert, sondern auch als sozial konstruierte Räume über Erlebnisse, Geschichten, Praktiken und Nutzungen. Ein Grätzel stellt einen sozialen Raum dar, der aus Wechselwirkungen zwischen physisch-räumlichen sowie gesellschaftlichen Strukturen und lebensweltlichen Wahrnehmungen und Handlungen entsteht. (vgl. Kessl/Reutlinger 2007, Löw 2001, Bourdieu 1997, Lefébvre 1991, u. a.) Die damit verbundenen Empfindungen von Identifikation und Zugehörigkeit finden auch in der häufig gebrauchten Redewendung „mein Grätzel“ ihren sprachlichen Ausdruck.

Besonders für die Akquise der Grätzeleltern waren der soziale Raum Grätzel und die Einrichtungen im Bezirk von großer Bedeutung. Es konnten viele im Projektgebiet lebende bzw. arbeitende Personen für die Tätigkeit als Grätzeleltern gewonnen werden. Der lokale Bezug über die Gebietsbetreuung als direkt erreichbare Ansprechstelle zeigt ebenfalls die Vorteile einer lokalen Verortung. Diese stellt den Grätzeleltern auch einen konkreten Ort für Informationsveranstaltungen, Treffen und Sprechstunden zur Verfügung und trägt damit gleichzeitig dazu bei, eine Identifikation der Grätzeleltern mit dem Projektgebiet sowie eine Identifikation als zusammengehörige und im Gebiet aktive Gruppe herzustellen.


2.3.4 Niederschwellig
Das Projekt ist gekennzeichnet durch eine niederschwellige Herangehensweise. Um Barrieren zu überwinden und den Zugang von bestimmten Zielgruppen zu Einrichtungen zu erleichtern, erfolgt die Tätigkeit der Grätzeleltern aufsuchend und in unterschiedlichen Muttersprachen. Durch das Anknüpfen an Vereine, Bekanntenkreise, Communities und andere soziale Netze beim Ansprechen der Haushalte sowie durch Profil und Background der Grätzeleltern selbst wird ein lebensweltnaher Zugang zu den Zielgruppen ermöglicht.

Im Rahmen mehrerer Hausbesuche sollen Handlungskompetenzen der betroffenen Haushalte erhöht und der Zugang zu adäquaten professionellen Einrichtungen geschaffen werden. Die Hausbesuche erfolgen kostenlos. Beim ersten Besuch werden relevante Bedarfslagen gemeinsam mit den BewohnerInnen des Haushalts geklärt. Die relevanten Themen werden angesprochen und gemeinsam bearbeitet. Bei Bedarf wird an weitere Ansprechstellen weiter vermittelt. Ein zweiter und – fallweise – dritter Besuch ermöglichen es, sich über die Erfahrungen seit dem ersten Besuch auszutauschen und auf noch offene Fragen einzugehen.


2.3.5 Emanzipatorisch
Die Kompetenzentwicklung und Ermächtigung der Beteiligten steht im Fokus des Projekts. Bei den besuchten Haushalten und Personen soll das Wissen über zuständige Einrichtungen, über Rechte und Pflichten als MieterInnen sowie mögliche Ansprüche und Förderungen erweitert werden. Darüber hinaus soll auch angeregt werden, dass die Besuchten rund um ihre Problemlagen selbst aktiv werden. Bei Themenbereichen wie „Energiesparen“ oder „Heizen und Lüften“ kann beispielsweise bereits die Änderung des eigenen Wohnverhaltens erheblich zur Verbesserung der Wohnsituation beitragen. In diesen Fällen geben die Grätzeleltern daher ein stark anwendungsorientiertes und unmittelbar einsetzbares Wissen weiter.

Die Grätzeleltern selbst erweitern ihr Wissen über Einrichtungen, Zuständigkeiten, rechtliche Rahmenbedingungen und Ansprüche ebenfalls im Laufe des Projekts. Dabei erweitern sich auch ihre Handlungskompetenzen in Bezug auf die Gespräche mit den Haushalten. Anhand der verschiedenen Hausbesuche und Fälle wird für sie erkennbar, wie unterschiedliche Interessen wirksam gemacht werden können, z. B. indem zuständige Einrichtungen bzw. Behörden kontaktiert werden, oder indem Ansprüche und Rechte als MieterInnen bei der Hausverwaltung geltend gemacht werden.

Dieser emanzipatorische Ansatz stärkt die Kompetenzen der als ehrenamtliche MitarbeiterInnen tätigen Grätzeleltern und kann im weiteren Projektverlauf auch dazu führen, dass sie im Rahmen des Projekts Kompetenzen entwickeln, die sie am Arbeitsmarkt einsetzen können. Eine Integration von einzelnen als Grätzeleltern tätigen Personen in den Arbeitsmarkt wird dabei als ein positiver Synergieeffekt verstanden, selbst wenn dies in manchen Fällen im Laufe der Zeit auch den „Verlust“ dieser Grätzeleltern an den Arbeitsmarkt und deren Ersatz durch neue Grätzeleltern bedeuten kann.


2.3.6 Interkulturell
Das Projekt zeichnet sich darüber hinaus durch einen starken interkulturellen Zugang aus. Die Grätzeleltern sind unterschiedlicher Herkunft, sie arbeiten jeweils zu zweit in interkulturell zusammen gesetzten Tandems und tragen damit auch zur schrittweisen Öffnung von Communities bei.

Die Grätzeleltern sprechen Italienisch, Polnisch, Romanes, Griechisch, Arabisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Ukrainisch, Hebräisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Türkisch, Kurdisch, Farsi, Dari, Tadschikisch, Usbekisch, Nepali, Bengali, Hindi, Urdu und Fulani. Je nach Sprachkenntnissen der besuchten Personen wird möglichst in einer gemeinsamen Sprache gesprochen.

Häufig ist dies Deutsch, in vielen Fällen wird allerdings die Sprache der besuchten Personen gesprochen, wobei ein Tandempartner dem anderen Partner die Übersetzung liefert. Durch die Übersetzungsleistung kann in der Gesprächssituation auch ein Raum für die Grätzeleltern entstehen, in dem sie die Situation reflektieren und Handlungsoptionen für die besuchten Personen entwickeln können.


2.3.7 Vernetzend
Das Projekt „Grätzeleltern“ arbeitet innerhalb des Projektgebiets bezirksübergreifend und vernetzend. Es baut in allen seinen Projektphasen auf verschiedene soziale Netzwerke auf.

Für die Akquise der Grätzeleltern waren lokale und regionale Vernetzungsforen (wie Regionalforum, Multireligiöses Bezirksforum, Bezirksgesundheitskonferenz, Partizipationszirkel der MA 17 etc.) von wesentlicher Bedeutung, da über verschiedene Institutionen und Organisationen interessierte Menschen aus dem Gebiet gefunden werden konnten, die sich als Grätzeleltern engagieren wollten. Die Bewerbung des laufenden Projektangebots der Hausbesuche beruht ebenfalls stark auf Netzwerken – zum einen auf diversen Netzwerken mit anderen lokalen Einrichtungen, zum anderen auf den persönlichen sozialen Netzwerken der Grätzeleltern selbst. Das Wissen über das Projekt, aber auch das bei den Hausbesuchen entstehende und weitergegebene inhaltliche Wissen, wird laufend netzwerkartig, im „Schneeballsystem“, weiterverbreitet. Für eine erfolgreiche Weitervermittlung der Betroffenen zu verschiedenen Ansprechstellen bildet Vernetzung zudem eine entscheidende Basis, um einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Einrichtungen ermöglichen zu können.

In inhaltlicher Hinsicht vernetzt das Projekt verschiedene Lebensbereiche miteinander. Es verfolgt einen ganzheitlichen und interdisziplinären Zugang, der es ermöglicht unterschiedliche Lebensbereiche der Besuchten (z. B. bauliche, rechtliche, gesundheitliche, familiäre und soziale Fragen) zu thematisieren und miteinander in Bezug zu setzen.


3. Bisherige Projektergebnisse
Das Projekt Grätzeleltern befindet sich seit März 2012 in der Umsetzungsphase. Im April und Mai wurde das Projekt bei Institutionen und Vereinen im Projektgebiet vorgestellt und mit der Aktivierung der Grätzeleltern begonnen. Im Juni fand ein erster gemeinsamer Workshop statt, der dem gegenseitigen Kennenlernen und Teambuilding diente. Nach einer kurzen Sommerpause erfolgte im September und Oktober 2012 die mehrtägige inhaltliche Schulung der Grätzeleltern, an denen 16 Personen erfolgreich teilnahmen. Seit Ende Oktober sind die Grätzeleltern in Zweierteams unterwegs, um BewohnerInnen im 6. und 15. Bezirk auf Anfrage zuhause zu besuchen und zu informieren.


3.1 Aktivierung und Kompetenzentwicklung der Grätzeleltern
Die Gruppe der gefundenen Grätzeleltern ist sehr vielfältig in ihrer Zusammensetzung. Es handelt sich in der Pilotphase um insgesamt 10 Frauen und 6 Männer, ihr Alter liegt zwischen Mitte 20 und Mitte 60, sie kommen aus unterschiedlichen Ländern (Afghanistan, Indien, Österreich, Rumänien, Russland, Sierra Leone, Türkei, Ukraine, Serbien, Polen) und haben vielfältige Ausbildungen, berufliche Hintergründe und Tätigkeiten (ArchitektIn, ehemalige BezirksrätIn, Erwerbsarbeitslos, HausbesorgerIn, MusikerIn, PädagogIn, PensionistIn, PolitikwissenschaftlerIn, Reinigungskraft, SchauspielerIn, SekretärIn, SozialarbeiterIn, ehemalige Börsenmaklerin und PartnervermittlerIn, VereinsvorsitzendeR, TheologIn, InterkulturelleR MediatorIn ...).


Abbildung 1: Die Grätzeleltern (© Christoph Stoik)

Wesentliche Grundlage und gleichzeitig Ergebnis aus dem Projekt ist die Anerkennung und Förderung der als MulitiplikatorInnen tätigen Grätzeleltern und ihrer Kompetenzen. Sie erweitern im Rahmen des Projekts nicht nur das eigene Wissen, sondern bringen auch ihre eigenen vielfältigen Erfahrungen und Fähigkeiten aktiv mit ein und leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung und Weiterentwicklung des Projekts.

Zu Beginn der Pilotphase wurden die ausgewählten Grätzeleltern wie oben erwähnt für ihre Tätigkeit vorbereitet und geschult. Ein erster Workshop zum Thema „Teambuilding“ ermöglichte es, dass sie einander kennenlernten und einen gegenseitigen Einblick in die unterschiedlichen vertretenen Kulturen geben bzw. erhalten konnten. Der inhaltliche Rahmen für die weiteren Schulungs-Workshops wurde vom Projektteam vorbereitet und die Inhalte teilweise von ExpertInnen aufbereitet. Die Grätzeleltern selbst konnten allerdings den Verlauf der Schulungen interaktiv mitgestalten und brachten konkrete Inhalte und Wissen ein. Die Herangehensweise bei den Hausbesuchen wurde mit den Grätzeleltern gemeinsam erarbeitet. Dies erweist sich als großer Vorteil, da sie selbst die Rolle von ExpertInnnen für interkulturelle Kommunikation, Wissen über Lebenssituationen bestimmter Communities oder nachbarschaftlicher Netzwerke im Stadtteil übernehmen. Auch die Aktivierung und Kontaktierung der Haushalte beruht sehr stark auf der Initiative der Grätzeleltern.


3.2 Wissenstransfer in weitere Haushalte
Über die MultiplikatorInnen verschiedener Herkunft und deren vielfältige soziale Netze werden unterschiedliche Gruppen und Communities erreicht, die zu bestehenden Angeboten und Einrichtungen bisher nicht oder nur schwer Zugang hatten. Bereits in den ersten drei Monaten nach der Schulung der Grätzeleltern konnten insgesamt ca. 70 Haushalte erreicht werden, zu denen die Grätzeleltern großteils sogar mehrmals Kontakt hatten. Die Bandbreite der bei den Hausbesuchen angesprochenen Themen ist sehr groß. In vielen Fällen handelt es sich um komplexe Bedarfslagen, bei denen die Grätzeleltern auch an Ansprechstellen im Sozialbereich weitervermitteln.

Der bisherige Projetverlauf zeigt, dass zwei wesentliche Gruppen erreicht werden: Einerseits tatsächlich die zentrale Zielgruppe des Projekts, nämlich Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen kaum Zugang zu Angeboten und Einrichtungen haben (Angst vor Behörden, mangelndes Wissen, sprachliche Unsicherheiten ...). Andererseits werden Menschen erreicht, die schon bei vielen Stellen waren und dennoch Hilfestellungen benötigen bzw. mittlerweile überhaupt aus dem vorhandenen Hilfssystem herausfallen. Auch das hat unterschiedliche Gründe, wie die Überforderung von Hilfesuchenden mit der Spezialisierung der Angebote, Sprachbarrieren oder die Überforderung der professionellen Angebote mit Mulitproblemlagen („creaming the poor“, vgl. Buhr 2005). Die Handlungsmöglichkeiten der Grätzeleltern in Bezug auf diese zweite Gruppe von besuchten Haushalten sind allerdings sehr beschränkt.

Die Aktivierung der Haushalte erfolgt – wie aus der bisherigen Projektumsetzung erkennbar wird – nicht ausschließlich lokal. Das Angebot spricht sich inzwischen in den verschiedenen sozialen Netzwerken und Communities herum und wird mittlerweile auch von Gebieten weit außerhalb des Pilotgebiets nachgefragt. Es zeigt sich also ein Spannungsfeld bzw. eine Wechselwirkung zwischen lokaler Verortung und räumlich breiter angelegeten, überregional strukturierten sozialen Netzwerken. Der Begriff des Grätzels ist dabei u. U. auch weiter zu verstehen als auf die unmittelbare Nachbarschaft begrenzt. Mit zunehmender Mobilität werden Handlungsradien vergrößert. Traditionelle Ortsbegriffe und Raumwahrnehmungen befinden sich in Veränderung. Indirekt werden durch das gesamte Pilotprojekt über Öffentlichkeitsarbeit und Weitergabe von Wissen im „Schneeballsystem“ weit mehr Personen und Haushalte erreicht als die direkt von den Grätzeleltern Besuchten.


3.3 Identifikation von Bedarfslagen
In Bezug auf die Themen entsteht durch das Projekt ein größeres Wissen zu Wohnsituationen, Problem- und Bedarfslagen. Bisher zeigt sich, dass im Projektgebiet die Initiierung baulicher oder technischer Erhaltungs- und Verbesserungsmaßnahmen tatsächlich ein wichtiges Thema ist. Dabei besteht häufig kein klares Wissen darüber, in wessen Verantwortung welche Arbeiten liegen. So ist die Wartung und Abgasmessung einer Therme beispielsweise Angelegenheit der MieterInnen, die Erneuerung von veralteten, gesundheitsgefährdenden Elektroleitungen Angelegenheit der VermieterInnen usw. Wesentlich ist daher zunächst die Verbreitung wohnrechtlicher Grundkenntnisse bzw. bei diffizileren Fragen die Unterstützung durch die Gebietsbetreuung in rechtlichen und bautechnischen Fragen. Insbesondere die Sanierung von allgemeinen Hausteilen ist häufig nur in sehr langen Prozessen, die u. a. Gebietsbetreuung, EigentümerInnen und FördergeberInnen involvieren, in die Wege zu leiten.

In vielen Fällen sind es auch finanzielle Fragen und Notlagen, die seitens der besuchten Haushalte formuliert werden, z. B. in Bezug auf Miete, Betriebskosten oder Energierechnungen. Die Angemessenheit von Miete oder Betriebskosten kann – in einer „Mieterschutzwohnung“, bei der das Mietrechtsgesetz Anwendung findet – zunächst über einen Online-Rechner der Stadt Wien abgeschätzt und mittels Antrag bei der Schlichtungsstelle überprüft werden. Die Energierechnungen können durch die Vermittlung von Energieberatungen ebenfalls analysiert werden. So wie auch die Grätzeleltern selbst Tipps zum Wohnverhalten geben, bieten die Energieberatungen darüber hinaus Informationen zu Heizen, Lüften und Schimmelbekämpfung sowie zur Reduktion von Stromkosten, Heizkosten und Wasserverbrauch.

In vielen Fällen sind die genannten Maßnahmen allerdings noch nicht ausreichend um finanzielle Notlagen zu beseitigen, sondern es ist der Zugang zu weiteren sozialen Unterstützungsleistungen anzustreben (z. B. durch das Sozialamt – MA 40 oder durch die Wohnbeihilfe) sowie in besonders drastischen Fällen auch das Vermitteln an karitative Einrichtungen oder die Schuldnerberatung.

Im Umgang mit den komplexen Bedarfslagen entwickeln die einzelnen Grätzeleltern bzw. Grätzeleltern-Tandems bei ihrer Vermittlungsrolle ganz unterschiedliche Handlungsweisen, die einerseits mit den Grätzeleltern selbst und deren Handlungsmustern zu tun haben, andererseits mit den besuchten Netzwerken und Communities. Die Bandbreite bewegt sich zwischen einem eher forschenden, zurückhaltenden Stil und der Fokusierung auf die Weitergabe von Informationen bis zu einem sehr aktiven kämpferischen und parteilichen Vorgehen. Diese Vielfalt wird im Rahmen des Projekts als Stärke gesehen, bedarf aber einer professionellen Reflexion und Begleitung.

Gewisse Themenbereiche sprengen auch den Rahmen des Projekts Grätzeltern. Zum einen ist dies z. B. die schwierige rechtliche und soziale Lage von Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, zum anderen – ganz allgemein – die Überforderung von Menschen mit dem privaten Wohnungsmarkt (steigende Wohnkosten bzw. sehr prekäre Wohnverhältnisse und ein unüberschaubarer Wohnungsmarkt für Menschen, die bspw. unter Bildungsdefiziten und/oder Armut leiden und daher nicht sehr mobil sind). Den Handlungsmöglichkeiten der Grätzeleltern sind hier Grenzen gesetzt. Im Rahmen der durchgeführten Begleitforschung zum Pilotprojekt sollen diese Problematiken identifiziert, dokumentiert und veröffentlicht werden.


3.4 Hilfe zur Selbsthilfe
In Bezug auf die Zielgruppen bewirkt das Projekt eine Erweiterung von Handlungsoptionen und ein größeres Wissen über Ansprechstellen, welche im Schneeballsystem – auch über das Projekt hinaus – weitergegeben werden. In der Folge können sowohl konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnsituation gesetzt, als auch das eigene NutzerInnenerhalten adaptiert oder Beratungsleistungen in Anspruch genommen werden. Die Grätzeleltern motivieren die von ihnen besuchten Personen und Haushalte in erster Linie zu Hilfe zur Selbsthilfe.

Das Projekt und die Grätzeleltern befinden sich dabei allerdings immer wieder im Spannungsfeld zwischen Ermächtigung und Überforderung der Besuchten. Je nach Zielgruppe sind die Besuchten mehr oder weniger in der Lage, für die Durchsetzung ihrer Interessen und Ansprüche eigenständig wirksam zu werden. Es ist daher wichtig, zu differenzieren, welche unterschiedlichen Zielgruppen erreicht werden. Bisher zeigt sich, dass es einerseits Besuchte gibt, denen v. a. das Wissen und die Zugänge zu zuständigen Einrichtungen fehlen und die „nur“ entsprechend weitervermittelt werden müssen. Andererseits stoßen die Grätzeleltern aber auch auf Menschen, die es mit verfestigten komplexen Multiproblemlagen zu tun haben und die intensive Unterstützung benötigen. Hier wird vor allem versucht auszuloten, welche Wege die Grätzeleltern gehen und aufzeigen können und welche zusätzlichen Angebote (wie z. B. Behördenbegleitungen) erforderlich wären.


3.5 Bekanntmachen und Vermitteln von Ansprechstellen
Das Projekt „Grätzeleltern“ unterstützt die Bildung von „linking social capital“ (vgl. Karstedt 2004), also Zugang zu (öffentlichen) Institutionen. Dabei sollen unterschiedliche Barrieren minimiert werden – insbesondere Ängste von Menschen vor Angeboten aufgrund von negativen Assoziationen aus der Migrationserfahrung oder aufgrund von Unwissenheit über Einrichtungen. Durch den „semiprofessionellen“ Zugang der Grätzeleltern in einem nachbarschaftlichen Kontext kann der Zugang zu diesen Zielgruppen hergestellt werden. Allerdings sind die Grätzeleltern in dieser Rolle stark gefordert – sowohl offen, forschend ganzheitlich vorzugehen, ohne durch eigene Vorannahmen selbst Probleme zu konstruieren, als auch mit dem hohen Problemdruck umzugehen, auf den sie großteils stoßen. Die professionelle Begleitung der Grätzeleltern sowie die gemeinsame Reflexion und Auseinandersetzung mit dieser Rolle und den damit verbundenen Herausforderungen ist daher ein wesentliches Erfolgskriterium für das Projekt.

Zu ProjektträgerInnen und KooperationspartnerInnen kann in der Umsetzung des Projekts ein sehr unmittelbarer Zugang geschaffen werden. Die Gebietsbetreuung übernimmt viele komplexere Fälle im Wohnbereich, bestimmte Einrichtungen der Caritas übernehmen professionelle Beratungsfunktionen im Sozialbereich. Gerade die Gebietsbetreuung, die in vielen Fällen die erste vermittelte Beratungseinrichtung ist, wird für und durch die Grätzeleltern tatsächlich niederschwelliger zugänglich. Energieberatungen in einkommensschwachen Haushalten werden – bei Bedarf – ebenfalls direkt über das Projekt vermittelt und finanziert. In einzelnen Fällen konnte über den Verbund-Stromhilfefonds der Caritas Österreich auch ein kostenloser Tausch von alten Elektrogeräten in die Wege geleitet werden. Neben individuellen Energieberatungen in einzelnen Haushalten, werden zudem so genannte „Energiesparparties“ – unter dem Motto „Tupper your Energy“ – organisiert, bei denen mehrere Personen zusammenkommen und in einem gemeinsamen „gemütlichen“ Gruppen-Setting Informationen von professionellen EnergieberaterInnen erhalten.


3.6 Öffnung von Communities
Das Projekt setzt sich darüber hinaus mit der Bedeutung von sozialen Netzwerken auseinander. Bisher zeigt sich, dass sich über die sozialen Netzwerke und Communities Zugänge zu den Zielgruppen ermöglichen. Es wird aber auch ersichtlich, dass die sozialen Netzwerke bzw. Communities mitunter sehr heterogen sind. Es gibt Communities, die sich über eine kulturelle Gemeinsamkeit definieren. Erfahrungen aus dem Herkunftsland können dabei tatsächlich Barrieren zu Einrichtungen und Behörden darstellen, welche durch die Grätzeleltern minimiert werden können. Zusätzlich haben einige der Grätzeleltern Zugang zu sozialen Netzen, die sich u. a. aus unterschiedlichen institutionellen Bezügen ergeben, z. B. Deutschkurse oder andere Angebote an MigrantInnen. So findet das Projekt Zugang zu Menschen, die aufgrund ihrer rechtlichen Situation in Österreich als MigrantInen benachteiligt sind, aber nicht als homogene Gemeinschaft gesehen werden können.

Gerade diese diversifizierten Netzwerke, die nationale, ethnische oder kulturelle Grenzziehungen überschreiten, zeigen auch das Potenzial von solidarischen gesellschaftlichen Beziehungen – über die Grenzen von bestimmten Communities hinaus. Die Arbeit der Grätzeleltern kann in diesem Sinn ebenfalls zur Stärkung von gegenseitiger Hilfe und Solidarität beitragen. Durch die interkulturelle Zusammensetzung der Grätzeleltern-Tandems sowie ihre Mehrsprachigkeit werden zudem weitere Impulse zur Überwindung soziokultureller Grenzen und zur Öffnung von Communities gesetzt.


4. Ausblick
4.1 Weiterführung des Projekts nach der Pilotphase
Der bisherige Projektverlauf zeigt, dass die von den Grätzeleltern getätigte Vermittlungsarbeit eine ganz wesentliche Bedeutung besitzt und – auf diese Weise – Haushalte in schwierigen Wohnsituationen tatsächlich in ihrem Zugang zu Wissen, Angeboten und Einrichtungen unterstützt werden können. Die Weiterführung des Projekts nach der Pilotphase (bis April 2013) wird daher derzeit vonseiten des Projektteams angestrebt und konzipiert. Im Rahmen der Weiterführung und Weiterentwicklung des Projekts werden u. a. eine Erweiterung des Projektgebiets sowie eine weitere laufende Auseinandersetzung mit der komplexen Rolle der Grätzeleltern bedeutsam sein.


4.2 Stärkung ähnlicher Projektansätze
In Wien arbeiten aktuell auch andere Projekte mit einem methodischen Ansatz, der auf MultiplikatorInnen beruht (NachbarInnen in Wien, MiMi – GesundheitslotsInnen in Wien, Hippy, ...). Die verschiedenen Ansätze und Projekte unterscheiden sich zwar auch in ihren inhaltlichen Schwerpunkten, in ihren Umsetzungsmethoden und in ihren Projektgebieten, sie haben aber das Potenzial gemeinsam nachhaltiger zu wirken und auch voneinander zu lernen. In diesem Sinne sollten bestehende ähnliche Projekte miteinander in regem Austausch stehen und gestärkt sowie weitere ähnliche Projektansätze gefördert werden.


4.3 Sichtbar machen von strukturellen Rahmenbedingungen
Wie der bisherige Projektverlauf zeigt, sind einige der Wohnsituationen und Problemlagen, auf die die Grätzeleltern in ihrer Tätigkeit treffen, innerhalb des Projekts nur begrenzt bearbeitbar. Sie haben mit strukturellen Rahmenbedingungen – wie Wohnungsbestand und Wohnungsmarkt, unsicherer finanzieller und aufenthaltsrechtlicher Lage etc. – zu tun und können daher auch nur durch größere gesellschaftliche, ökonomische und politische Maßnahmen verändert werden. Im Rahmen des Projekts erscheint es wesentlich, die angetroffenen Bedarfslagen und die dahinter liegenden Rahmenbedingungen soweit wie möglich zu dokumentieren und dadurch sichtbar und öffentlich zu machen. Auf diesem Wissen aufbauend können dann weitere ergänzende konkrete Projektinitiativen entwickelt werden, aber auch ein Beitrag zur Diskussion und Veränderbarkeit von größeren strukturellen gesellschaftlichen Zusammenhängen geleistet werden.6


Verweise
1 Quelle: MA 62/MA 14, Auswertung aus dem örtlichen Melderegister Wien, EinwohnerInnen mit Hauptwohnsitz nach Staatsangehörigkeit und räumlichen Einheiten: Stand 31.12.2006.
2 Quelle: Statistik Austria, Gebäude- und Wohnungszählung 2001. Siehe auch online unter: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/wohnen_und_gebaeude/index.html
3 Energiearmut wird als Begriff für die Knappheit von Energieressourcen zur Erzeugung von Strom, Wärme (Warmwasser, Heizung), etc. verwendet. Energiearmut bezeichnet keinen oder nur beschränkten Zugang zu diesen Ressourcen. Siehe auch: http://www.klimafonds.gv.at/assets/Uploads/Presseaussendungen/PK_Energiearmut/pressetext-energiearmut.pdf
4 www.klimafonds.gv.at/assets/Uploads/Presseaussendungen/PK_Energiearmut/pressetext-energiearmut.pdf
5 Im Unterschied zu den Stadtteilmüttern in Berlin handelt es sich bei den Grätzeleltern nicht nur um Frauen, sondern um Frauen und Männer. Während die Stadtteilmütter sich in erster Linie mit Bildungs- und Erziehungsfragen beschäftigen, stehen bei den Grätzeleltern Themen rund ums Wohnen und Zusammenleben im Vordergrund, wobei die Grätzeleltern nicht in Form von professionellen Jobs etabliert werden sollen.
6 Mein Dank gilt den Grätzeleltern, sowie meinen KollegInnen Rainer Zeitlinger (Caritas Wien) und Sonja Stepanek (Gebietsbetreuung Stadterneuerung im 6., 14. und 15. Bezirk), mit denen das Pilotprojekt gemeinsam entwickelt und durchgeführt wird.


Literatur
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Österreichisches Institut für Nachhaltige Entwicklung, Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien, Österreichische Energieagentur, Caritas Österreich, Caritas Feldkirch, Caritas Wien: Pilot-Projekt gegen Energiearmut – Durchführung, Evaluation und Programm gegen Energiearmut. Kurzinformation online unter: http://www.klimafonds.gv.at/assets/Uploads/Presseaussendungen/PK_Energiearmut/pressetext-energiearmut.pdf (download am 05.02.2013)
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Websites
www.caritas-wien.at
http://www.caritas-wien.at/aktuell/presseaussendungen/detail/artikel/6219/173/
www.gbstern.at
http://www.gbstern.at/projekte/stadtteilmanagement/graetzeleltern/
http://www.wien.gv.at/bauen-wohnen/
http://www.stadtteilmuetter.de/
http://www.berlin.de/ba-neukoelln/verwaltung/modellprojekteimbezirk.html


Über die Autorin

Dipl.-Ing. Dr. Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Jg. 1979
katharina.kirsch@caritas-wien.at

Architekturstudium an der TU Wien; Forschungsaufenthalte in Deutschland und Brasilien; Dissertation „Mutationen städtischer Siedlungsstrukturen in Recife/Brasilien“ (publiziert 2010 unter dem Titel „Wohnen im Wandel“ beim LIT-Verlag); forscht und arbeitet in den Bereichen Stadtentwicklung, Stadterneuerung, Stadtteilarbeit und sozialer Wohnbau; 2004-2006 Mitarbeit an der Entwicklung sozialer Wohnbauprojekte im Nordosten Brasiliens; 2008-2011 Tätigkeit in der Gebietsbetreuung Stadterneuerung im 14. und 15. Bezirk; ist seit 2012 in der Projektkoordination des Pilotprojekts „Grätzeleltern“ im Bereich Stadtteilarbeit der Caritas Wien tätig.