soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 9 (2013) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/262/418.pdf


Fabian Grümayer:

Konsummuster von Benzodiazepinen bei den KlientInnen der niederschwelligen Drogenarbeit in Wien


1. Problemrelevanz
KlientInnen der niederschwelligen Drogenarbeit in Wien weisen vielfältige Konsummuster von Benzodiazepinen auf. Der Titel „Blaue Lippen – blaue Venen“ (Grümayer 2012) soll auf zwei der in dieser Masterarbeit behandelten Konsumformen hinweisen: Blaue Lippen entstehen durch das Lutschen oder im Mund behalten der Tablette, blaue Venen stehen sinnbildlich für den intravenösen Konsum von Benzodiazepinen. Einige dieser Applikationsarten stellen ein hohes Risiko für die Gesundheit dar, abhängig unter anderem von der gewählten Konsumform, der Dosierung und von der Einnahme weiterer Substanzen wie Alkohol und Opiaten.

Die von den KonsumentInnen erwünschte Wirkung von Benzodiazepinen kann als angstlösend und sedierend beschrieben werden. Hinzu kommen muskelrelaxierende, krampflösende und antiaggressive Wirkungen. Viele DrogenkonsumentInnen verwenden Benzodiazepine um Entzugserscheinungen abzumildern. (vgl. Hormann/Winkler 2005: 261f)

Die Zielgruppe der sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle Ganslwirt, in der auch die Erhebung stattgefunden hat, sind schwerpunktmäßig Menschen aus der Drogen-Straßenszene. Grundsätzlich sind es aber alle Personen, die durch biopsychosoziale Folgen des Drogenkonsums betroffen sind. (vgl. Suchthilfe Wien gGmbH 2012: 4) Man kann davon ausgehen, dass die KlientInnen in unsicheren Wohnverhältnissen leben und einen niedrigen sozialökonomischen Status haben. Die soziale Ungleichheit bildet sich auch im Gesundheitszustand ab: Die betroffenen Menschen weisen einen ausgeprägten und teilweise auch risikoreichen Drogenkonsum auf, der zu Mehrfachabhängigkeiten, zu gesundheitlichen Problemen, aber auch zu beachtlichen Toleranzen führen kann. (vgl. Mielck 2005: 48f, Binner/Ortmann 2008: 73)

Bezüglich der Konsummuster ist von Relevanz, welches Medikament genau konsumiert wird und in welcher Form. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, von wem die Substanz bezogen wird, seit wann konsumiert wird und wie viel, wie oft und in welcher Kombination mit anderen Substanzen. All diese Bedingungen, die unter „Konsummuster“ subsumiert werden, sind entscheidend für den Gesundheitszustand der KlientInnen.

Es hat sich folgende Fragestellung ergeben:

Welche risikoreichen Konsummuster von Benzodiazepinen haben die KlientInnen der niederschwelligen Drogenarbeit und gibt es einen Zusammenhang mit ihren soziodemographischen Daten?


2. Ziele
In dieser Arbeit werden im Speziellen die gesundheitsgefährdenden, risikoreichen Konsummuster von Benzodiazepinen betrachtet und deren Verbreitung bestimmt. Die Erfassung der Risiken des Drogenkonsums sollen auch Aspekte der Schadensminimierung (Harm Reduction) aufzeigen. Dabei gilt es die Frage zu beantworten, wie Benzodiazepine konsumiert werden können, ohne die Gesundheit nachhaltig zu schädigen. Außerdem werden die momentanen Ursachen des Konsums ermittelt.


3. Methodischer Zugang
Für die Forschungsarbeit wurde die Methode der quantitativen Sozialforschung gewählt. Die Hypothesen wurden mithilfe von Literaturrecherche erstellt und die Datenerhebung fand mittels standardisiertem Fragebogen statt. Außerdem wurde für die Generierung der Fragebogenitems eine explorative Vorerhebung mittels Interviews mit der ärztlichen Leitung der sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle Ganslwirt und den KlientInnen derselben Einrichtung durchgeführt – die TeilnehmerInnen erhielten die Fragen in ausgedruckter Form ausgeteilt. Die Erhebung wurde mit einem Umfang der Stichprobe von n=100 beendet; die statistische Analyse wurde mit SPSS 19 durchgeführt.


4. Konsummuster von Benzodiazepinen
4.1 Die konsumierten Benzodiazepine
Am beliebtesten ist das Medikament Somnubene®, was durch den schnellen Wirkungseintritt erklärbar ist. Es wird von den meisten Personen konsumiert, das sind 74% (n=100). Auch sehr stark verbreitet ist das Medikament Praxiten®, das langsamer anflutet und eine kürzere Halbwertszeit im Körper hat. 60% der Stichprobe (n=100) haben dieses Präparat angegeben. Alle weiteren Medikamente, die von den KlientInnen des Ganslwirts konsumiert werden, spielen eher eine untergeordnete Rolle und haben die gleichen Wirkstoffe. Sie werden teilweise nur als Ersatz für Somnubene® und Praxiten® konsumiert.

40% aller Personen, die Somnubene® konsumieren, tun dies täglich. Es gibt also einen erheblichen Anteil an Personen, die nicht regelmäßig Benzodiazepine konsumieren. Unter diesen „GelegenheitskonsumentInnen“ befinden sich Personen, die bis zu 50 Stück Somnubene® auf einmal schlucken. Diese Personengruppe, die nur gelegentlich hohe Dosen zu sich nimmt, trägt das höchste Risiko. Eine Toleranz ist nicht im gleichen Ausmaß vorhanden. Überdosierungen, vor allem durch die Kombination mit Opiaten und Alkohol, können die Folge sein. Außerdem lässt sich durch die Analyse feststellen, dass 46,5% (n=73) der Personen mehr Somnubene® auf einmal konsumiert, als medizinisch als sinnvoll erachtet wird (7 Stk. aufgeteilt auf drei Tagesdosen).


4.2 Bezugsquellen und Straßenpreise
81% der Stichprobe beziehen ihre Benzodiazepine von ÄrztInnen. An zweiter Stelle steht mit 54% die Szene selbst, gefolgt von Freunden (28%) und Bekannten (24%). Bei der Frage nach den Bezugsquellen waren Mehrfachantworten möglich, deswegen gilt für jede Kategorie n=100. Soziale Netzwerke spielen eine große Rolle bei der Versorgung mit Benzodiazepinen. Nur 43% (n=100) geben an Benzodiazepine ausschließlich per Rezept zu beziehen, 46% beziehen „teilweise“ über eine ärztliche Verschreibung und 11% beziehen ausschließlich über den Schwarzmarkt. Dabei werden für einen Streifen Benzodiazepine, das sind 10 Tabletten, durchschnittlich 13,74€ bezahlt (n=91, s=2,64€).


4.3 Kombination mit Alkohol und Opiaten
Von 59,2% (n=98) der StudienteilnehmerInnen werden Alkohol und Benzodiazepine gemeinsam konsumiert. 22,4% (n=98) haben angegeben, „immer“ beide Substanzen zu kombinieren. 88.9% (n=79) konsumieren Opiate gemeinsam mit Benzodiazepinen, wobei 79,8% (n=79) „immer“ diese Kombination applizieren. Bei der gemeinsamen Einnahme von Benzodiazepinen mit Opiaten und/oder Alkohol kann es zu unvorhersehbaren Wechselwirkungen kommen, die lebensbedrohlich sein können.


4.4 Alter beim ersten Konsum von Benzodiazepinen
Mit durchschnittlich 19,17 Jahren (s= 6,43; n=99) werden Benzodiazepine das erste Mal von den KlientInnen der niederschwelligen Drogenarbeit konsumiert. Rein deskriptiv betrachtet, sind Frauen im Durchschnitt zwei Jahre jünger als Männer. Bei den 76 Männern liegt der Mittelwert bei 19,63 Jahren (s= 6,8) und bei den 23 Frauen ist der Altersdurchschnitt 17,65 Jahre (s= 4,8).


4.5 Großteils unbedenkliche Konsumformen
Es kann gezeigt werden, dass der Großteil der KlientInnen in der niederschwelligen Drogenarbeit Benzodiazepine auf die Art und Weise konsumieren, für die sie auch gedacht sind: Oral. Somit kann die Hypothese bestätigt werden, dass unproblematische Konsumformen überwiegen. 76,8% (n=100) schlucken die Tabletten, fast 60% tun dies wie oben erwähnt täglich. In dieser Hinsicht überwiegen die risikoarmen Konsumarten. Dennoch sind die 13,1% (n=100) der Stichprobe nicht zu vernachlässigen, die intravenös konsumieren. Diese Gruppe setzt sich einem sehr starken gesundheitlichen Risiko aus. Insgesamt 8% (n=100) konsumieren zumindest einmal pro Woche Benzodiazepine intravenös.


5. Motive für den Gebrauch von Benzodiazepinen
Bei den KlientInnen stehen die Sicherheit beim Konsum und die erwünschte Wirkung des Medikaments im Vordergrund. Es ist ihnen wichtig zu entspannen und tief schlafen zu können. Genau dafür sind Benzodiazepine konzipiert. Außerdem werden Benzodiazepine als attraktiv angesehen, weil sie durch die Verpackung auch am Schwarzmarkt leicht zu identifizieren und Fälschungen von Blistern eher die Ausnahme sind. Die Menschen in der Szene wollen genau wissen, was sie konsumieren. Auch der Genuss des Rausches spielt eine Rolle: Für viele KlientInnen der niederschwelligen Drogenarbeit ist es angenehm den Alltag zu vergessen. Durch den teilweise langjährigen Konsum der Tranquilizer kommt es zu Abhängigkeitssymptomen. Befragte Personen haben angegeben, Benzodiazepine nur zu konsumieren, um die resultierenden Entzugserscheinungen zu vermeiden. Auch als Schmerzmittel finden Benzodiazepine in der Szene Verwendung. Ein weiterer Faktor des Konsums ist die grundsätzliche Verfügbarkeit auf dem Markt.


6. Konsequenzen für die Praxis
KonsumentInnen von Benzodiazepinen müssen auf das erhöhte Risiko für ihre Gesundheit aufmerksam gemacht werden. Zwar konsumieren die meisten Personen gesundheitsschonend, es können aber bestimmte riskante Konsummuster identifiziert werden: Der intravenöse Konsum von Benzodiazepinen, der unregelmäßige Konsum von hohen Dosen und das Kombinieren mit Alkohol oder Opiaten. Bei Somnubene® ist besonders auffällig, dass genau die Personen, die unregelmäßig konsumieren, häufig über der empfohlenen Tagesdosis liegen. Hier ist anzumerken, dass die Personen, die einen regelmäßigen Konsum aufweisen und sich somit höchstwahrscheinlich in einer sozial-medizinischen Behandlung befinden, seltener über die Grenzmengen hinaus konsumieren. Das spricht für eine gezielte und kontrollierte Abgabe von Benzodiazepinen mit einer sozialen Unterstützung. Die Soziale Arbeit muss dieses riskante Verhalten im Rahmen der Safer Use Beratung in der niederschwelligen Drogenarbeit ansprechen um die gesundheitsschonenden Konsummuster weiter zu stärken.

Folgende Punkte werden für die Praxis der Safer Use Beratung empfohlen: Im Allgemeinen sollten die KlientInnen in Bezug auf ihre Konsumpraxis darauf hingewiesen werden, dass Benzodiazepintabletten zum Schlucken konzipiert sind. Werden sie trotzdem intravenös konsumiert, sollten immer sterile Filter verwendet werden, wie sie beim Spritzentausch im Jedmayer erhältlich sind und keinesfalls Zigarettenfilter. Außerdem sollte niemals in die Venen der Hand injiziert werden, da die Gefahr einer akuten Ischämie oder sonstiger Probleme bezüglich der Gefäße zu groß ist. Als Alternative zum intravenösen Konsum von Benzodiazepinen kann das Lutschen der Tablette thematisiert werden, da so die Wirkung ebenfalls schneller eintritt. Hinzu kommt, dass Benzodiazepine (wenn möglich) nie mit Alkohol und/oder Opiaten gemeinsam konsumiert werden sollten, da die Wechselwirkungen nicht vorhersehbar sind. Die Gefahr einer Überdosierung steigt mit fehlenden Toleranzen. Speziell junge und unerfahrene KonsumentInnen sollten über Konsumformen von Benzodiazepinen und die möglichen Wechselwirkungen aufgeklärt werden.


Literatur
Binner, Ulrich / Ortmann, Karlheinz (2008): Klinische Sozialarbeit als Sozialtherapie. In: Ortmann, Karlheinz / Röh, Dieter (Hrsg.): Klinische Sozialarbeit. Konzepte, Praxis, Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag.
Grümayer, Fabian (2012): Blaue Lippen – blaue Venen. Konsummuster von Benzodiazepinen bei den KlientInnen der niederschwelligen, akzeptierenden Drogenarbeit. Diplomarbeit FH Campus Wien.
Hormann, Bernd / Winkler, Petra (2005): Safer-Use: „Pillen“ – Informationen und Ratschläge. In: Heudtlass, Jan-Hendrik / Stöver, Heino (Hrsg.): Risiko mindern beim Drogengebrauch. Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag.
Mielck, Andreas (2005): Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion. Bern: Hans Huber Verlag.
Suchthilfe Wien gGmbH (2012): Tätigkeitsbericht Ganslwirt. Wien: Suchthilfe Wien gGmbH.


Über den Autor

BA Fabian Grümayer, Jg. 1987
fabian_grue@gmx.at

2007 bis 2010 Studium der Sozialen Arbeit an der FH Campus Wien, seit September 2010 im Masterstudiengang Klinische Sozialarbeit an der FH Campus Wien;
Von 2009 bis Juni 2012 Vertretungsdienst bei der sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle Ganslwirt (Verein Wiener Sozialprojekte); seit Juli 2012 Vertretungsdienst bei der Drogenberatungsstelle Jedmayer, Suchthilfe Wien;
Mitbegründer der Initiative Drogenkonsumraum (I-dk)