soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 9 (2013) / Rubrik "Geschichte der Sozialarbeit" / Standortredaktion Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/280/460.pdf
Jonathan Kufner:
1. Einleitung
Die Annahme, dass jeglicher Sozialen Arbeit das Phänomen des „doppelten Mandates“ innewohnt, stellt das erkenntnisleitende Moment dieser Arbeit dar. Gemeint ist damit, dass sich Soziale Arbeit, bzw. nach damaligen Begriffen „Fürsorge“, historisch wie aktuell betrachtet, immer in einem Spannungsfeld bewegt, welches aus dem Zusammenspiel kritisch-fachlicher, klientelparteilicher Aspekte und ihrem rechtlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Auftrag ergibt. Sind es momentan vorrangig dem Ökonomisierungsdiskurs entlehnte und sozialtechnologische Aspekte, die die sozialarbeiterische Praxis zunehmend und maßgeblich beeinflussen und nach denen sich Soziale Arbeit auszurichten gezwungen sieht, waren es in der Ersten Republik vorrangig kontrollierende, respektive disziplinierende (sozial- und armutspolitische) Strategien, die sie umsetzen sollte (Hammerschmidt/Tennstedt 2010; Kufner 2012a; Melinz 2003, 2009; Münchmeier 1981).
Wurde der Vorläufer der österreichischen Bewährungshilfe – die Schutzaufsicht – bislang zwischen einer reinen Kontrollfunktion und totem Recht verortet, zeigt diese Untersuchung1 die mannigfaltigen Entwicklungslinien dieses Rechtsinstitutes auf und macht deutlich, dass der aktuelle Forschungsstand mit diesen beiden sich einander diametral gegenüberstehenden Polen zu kurz greift. Denn die bisherigen Argumentationslinien2 beschränken sich im Wesentlichen auf zwei Aussagen:
Diese beiden Deutungsangebote können nicht einfach von der Hand gewiesen werden, bleiben jedoch in ihren Darstellungen an der Oberfläche der verfügbaren Quellenlage. Ziel dieses Beitrags ist es, die weit facettenreichere Genese der modernen Bewährungshilfe zu skizzieren und eine alternative, umfassendere Lesart anzubieten.
Um sich aus heutiger Perspektive jedoch nicht in einer fortschrittsoptimistischen oder repressionsgeschichtlichen Deutung zu verstricken und weil die Etablierung der Schutzaufsicht nur als Entwicklung und Reaktion auf spezifische historische Momente begriffen werden kann, wird zunächst der gesellschaftsgeschichtliche Kontext skizziert. Dieser soll nicht nur ein bestimmtes Verständnis von Strafpolitik sichtbar machen, sondern einerseits aufzeigen, welche zeitgenössischen Ereignisse und Entwicklungslinien zu der Umsetzung dieser strafrechtsspezifischen Reformen geführt haben, und andererseits deutlich machen, von welchen konkreten kontextuellen Rahmungen die Schutzaufsicht bedingt und abhängig war. Anschließend werden die Rahmenbedingungen und die Voraussetzungen für den (jugend-)kriminologischen Diskurs betrachtet sowie die internationale Einbindung der österreichischen Reformbestrebungen erläutert. Sowohl der Weg der Implementierung reformerischer Zwischenschritte bis hin zu der rechtspolitischen Zäsur der „bedingten Verurteilung“ von 1920 als auch die Analyse des damaligen theoretisch-normativen Schutzaufsichtshabitus stellt die formalrechtliche und theoretische Hintergrundfolie dar, anhand derer ein Abgleich zwischen theoretischer Selbstverortung und praktischer Handhabe vorgenommen wird, was eine Annäherung an die bisherige Positionierung der Schutzaufsicht zwischen totem Recht und reiner Kontrollfunktion erlaubt und zugleich den Abschluss des Beitrags darstellt.
2. Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und die Implementierung der Schutzaufsicht
Durch weitreichende Erosions- und Transformationsprozesse herkömmlicher kultureller und familiärer Sozialisations- und Integrationsstrukturen als auch einen tief greifenden Wandel der Erwerbsarbeitsformen kam es im letzten Drittel des 19. Jahrhundert zu einem folgenreichen gesellschaftlichen Umbruch, welcher einen Freisetzungsprozess bedingte, der eine Vielzahl Jugendlicher ihrer Existenzgrundlage beraubte und bislang gültige Handlungsrationalitäten zerbrach (vgl. Böhnisch 2008: 96; Dörner 1991: 22). Verschränkt war dieses realhistorische Entwicklungsmuster mit einer sich herausbildenden artifiziellen Perspektive auf eine vermeintlich neue und aus den gesellschaftlichen Umwälzungen hervorgegangene Bevölkerungsgruppe der „Jugendlichen“ (vgl. Feldbauer 1980: 129; Melinz 1982: 117; Münchmeier/Peukert 1990: 6, zit. nach Böhnisch 2008: 96). Dies sollte unter anderem dazu beitragen, dass vormals traditionell in der Familie angesiedelte Sicherheitsfunktionen nach und nach in (wohlfahrts-)staatliche Bereiche verlagert wurden. Das aus diesen gesellschaftlichen und bevölkerungspolitischen Missständen abgeleitete Schlagwort jener Zeit war jenes der Verwahrlosung und des Erziehungsnotstandes, wobei vorerst keine oder nur marginale Verantwortungsübernahme und aktive Fürsorge- respektive Sozialpolitikgestaltung von Seiten des Staates erfolgte. In die durch diesen Paradigmenwechsel entstandene Versorgungslücke stießen zunächst religiös motivierte und private Wohltätigkeitsorganisationen vor, die jedoch relativ rasch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kamen und darüber hinaus über weite Strecken unkoordiniert in diesem vielschichtigen Problemfeld agierten. Daraus sollte das bereits damals erkannte Dilemma resultierten, dass die privat organisierte Fürsorgelandschaft Armut und Kriminalität zum Teil eher reproduzierten und festschrieben, als dass sie diesen Phänomenen entgegenzuwirken vermochte (vgl. Reicher 1906: 31ff; Schuster v. Bonnett 1907: 104; Engelke et al. 2009: 81; Hering/Münchmeier 2007: 57ff).
Relativ zeitgleich mit der Proklamation eines Erziehungsnotstandes gewann die „Moderne Strafrechtsschule“ (Franz von Liszt) an Bedeutung, deren Vertreter(Innen) die Ursachen für Verwahrlosung und Kriminalität vorrangig in der Umwelt der DelinquentInnen und deren Sozialisationsbedingungen verorteten und womit auch eine starke Individualisierungstendenz in der Kriminologie selbst als auch im Strafrecht einherging, was in Verbindung mit erstarkenden internationalen Fachdiskursen und der Etablierung von Kriminalstatistiken zu einer verstärkten Sichtbarwerdung und damit zu einer Fokussierung auf die vorrangig proletarischen, männlichen, in urbanen Räumen lebenden und vermeintlich tendenziell delinquenten Jugendlichen führte. Kriminalität wurde nach der Auffassung der „Modernen Strafrechtsschule“ vorrangig als Produkt von Anlage und Umwelt gesetzt, wobei der Zweck der Strafe nicht mehr als Vergeltung und Generalprävention gefasst wurde, sondern darin gesehen wurde, den/die individuelle/n Delinquente/n vor weiteren Straftaten abzuhalten. Um das gewährleisten zu können, sollte die (Schutz-)Strafe nicht mehr nach der Schwere der Tat, sondern nach der potentiellen Gefährlichkeit des Straffälligen bemessen werden (vgl. Schauz 2008a; Wetzell 2010). Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die liszt´sche Tätertypologie (vgl. Liszt 1905a u. b) ebenso die Kategorie der „Unverbesserlichen“ kannte und in diesen Fällen eine „Unschädlichmachung“ auf unbestimmte Zeit per Verwahrungshaft als Mittel der Reaktionswahl galt.
Dieser Wahrnehmungs- bzw. Sensibilisierungsprozess stellte in Kombination mit einer Zuspitzung der sozialen Verhältnisse („Soziale Frage“) die ausschlaggebenden Impulse dar, die die Erziehung in den staatlichen Zwangskontextbereich verlagerten. Konformität sollte nunmehr, nachdem soziale Integration per Lohnarbeit über weite Strecken nicht mehr fruchtete, per Disziplinierung hergestellt werden, was in erster Linie durch Inhaftierung in Zwangs- und Arbeitsanstalten geschehen sollte. Mit dem Schubwesen und der damit einhergehenden abrupten Änderung des Lebensmittelpunktes potenzierten sich die obrigkeitsstaatlichen Normierungsinstrumentarien (vgl. Melinz 2003).
Es wurde offensichtlich, dass post hoc Kriminalitätsbekämpfungsstrategien nicht den Zweck der Läuterung, vor allem aber auch nicht den der Resozialisierung und Re-Integration, erfüllten. Dass für diese Programmatik bei Weitem zu wenige und vor allem zu wenig geeignete Einrichtungen als auch kein Organisationsgefüge vorhanden waren, führte wiederum dazu, dass sowohl die Fürsorge als auch die Kriminalpolitik einem immensen Präventionscharakter annahmen, was zur Folge haben sollte, dass ein Selektionsapparat per Verwahrlosungszuschreibungen einsetzte, der eine Kriminalisierung von Armut begründete (vgl. Baernreither 1905; Kesseldorfer 1912; Reicher 1908a). Dieser Erkenntnisprozess wurde von einer sich im späten 19. Jahrhundert zunehmend etablierenden interdisziplinären ExpertInnenschaft getragen, die an internationalen Fachdebatten partizipierte und somit einen Abgleich der österreichischen Verhältnisse mit den internationalen erlaubte, aus welchem sich der hiesige theoretische als auch praktische Status quo als rückständig, unzeitgemäß und vor allem stark repressiv ausnahm, worin ein weiterer Grund für das Brüchigwerden von tradierten Ideologien und deren konzeptionellen Rahmungen zu sehen ist. Dieses international gespeiste Diskursterrain, welches gleichzeitig den höchst entwickelten, verfügbaren Stand der Diskussion darstellte, bot zahlreiche Marksteine der Kritik und Selbstkorrektur.
Im Zuge dieser Neuausrichtungen rückten zwangsläufig auch die Person des Täters bzw. der Täterin und die Ursachen seines/ihres kriminellen Verhaltens in den Fokus der StrafrechtsreformerInnen. Vor diesem Hintergrund wird auch die Installierung einer „sozialen ExpertInnenschaft“ verständlich, die das gängige und bis dahin vorrangig medizinisch und juristisch ausgerichtete Erklärungsmodell um eine soziale Dimension erweitern sollte. Aus diesem bevölkerungspolitisch gedeuteten Missstand wurde die kriminalpolitische Innovation der Schutzaufsicht für Jugendliche 1919/1920 installiert und war implementiert, um die gerichtlichen Beurteilung von Angeklagten und die sich daran anschließenden korrigierenden Interventionen stärker anhand sozialer Bewertungskriterien ausrichten zu können. Erklärtes Ziel des Rechtsinstituts der Schutzaufsicht war die Rehabilitation und Resozialisierung des/der „Besserungsfähigen“, der/die damit zu einem rechtmäßigen Lebenswandel angeleitet und ihm/ihr wiederum die Rückkehr in geordnete Verhältnisse ermöglicht werden sollte.
3. Rechtliche Entwicklungslinien
3.1 Reformerische Schritte bis 1918
Bedenkt man, dass weltweit die Einführung von Rechtsinstituten der bedingten Verurteilung respektive Entlassung und die ersten Bewährungshilfegesetze relativ zeitgleich, sprich ca. in den Dekaden vor und nach 1900, installiert wurden, scheint hier Österreich dem allgemeinen Rechtsverständnis zunächst nur verzögert Rechnung getragen zu haben. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch, wenn man besieht, dass bereits dem ersten Strafgesetzbuchreformentwurf aus dem Jahr 1874 die bedingte Entlassung nicht fremd war (vgl. Kufner 2012a: 58f). Bis zur Jahrhundertwende kehrte die Forderung nach einer Installierung dieses Rechtsinstitutes zyklisch wieder (vgl. 210 Beilagen Abgeordnetenhaus, XI 1891: 31)3, sollte jedoch zunächst nur in einer Abschlagsreform münden: Der Begnadigungsordnung aus dem Jahr 1902. Durch diese Zwischenlösung und die darauf folgenden Erlässe der Jahre 1903 bis 1905 sollten sämtliche jugendliche Delinquenten, zumindest der Möglichkeit nach, vorrangig nach erzieherischen und weniger nach repressiven Gesichtspunkten behandelt und wieder in die Gesellschaft integriert werden. In der mangelhaften Umsetzung begleitender erzieherisch-pädagogischer Maßnahmen – keine nach internationalen Modellen nachgebildete Probezeit inklusive Erziehungsaufsicht wurde installiert – kulminierte eine Vielzahl ablehnender und kritischer Haltungen (vgl. Neumair 1996: 147ff; Reicher 1906: 31ff), die letztendlich zur Etablierung des Rechtsinstituts der Schutzaufsicht führten.
3.2 Das Jugendgerichtsgesetz 1919 und das Rechtsinstitut der bedingten Verurteilung 1920
Das Gesetz vom 25. Jänner 1919 umfasste lediglich 5 Paragraphen, wobei § 3 festlegte, dass sich alle Jugendgerichte der Unterstützung und Mithilfe von Einzelpersonen, privaten Organisationen sowie allen anderen in der Jugendfürsorge tätigen AkteurInnen bedienen könne. Namentlich ist hier nur die Jugendgerichtshilfe (i.F. JGH) angeführt und die Fürsorgeaufgaben bei Jugendgerichtsverfahren nur sehr vage umrissen. Diese beschränkten sich lediglich auf Erhebung des sozialen Umfelds und ggf. in der Abklärung ob der Notwendigkeit eines gerichtlichen Beistands (StGBL Nr. 46, Gesetz vom 25.1.1919: 77). Die näheren Ausführungen sollten in Vollzugsanweisungen bestimmt und erläutert werden, so auch jene über die vorgesehene Schutzaufsicht.
In dem vom Nationalrat beschlossenen Rechtsinstitut über den bedingten Strafnachlass und die bedingte Entlassung vom 23. Juli 1920 wird ersichtlich, dass man sich hier weitgehend an einer Regierungsvorlage von 1912 orientierte. Die Bestimmungen über die Schutzaufsicht wurden in Anlehnung an das englische Bewährungshilfegesetz und einen schweizerischen Vorentwurf getroffen. In Art. 1 war der bedingte Strafnachlass und dessen Voraussetzungen und Wirkungen geregelt: „§ 1 (1) Das Gericht kann die Vollziehung einer Geld=, Arrest= oder Verschließungsstrafe vorläufig aufschieben, wenn das aus besonderen Gründen die bloße Androhung der Vollziehung allein oder in Verbindung mit anderen Maßnahmen zweckmäßiger scheint (…). § 2 (1) Das Gericht bestimmt eine Probezeit von ein bis drei Jahren und kann dem Verurteilen zugleich oder später für sein Verhalten Weisungen erteilen, die geeignet sind, ihn vor dem Rückfall zu bewahren. (…) (2) Das Gericht kann den Verurteilten ferner für die Probezeit unter Schutzaufsicht stellen“ (vgl. StGBL Nr. 373, Gesetz vom 23.7.1920: 1555). Widerrufsgründe bestanden unter anderem in Trunksucht, Spiel und Müßiggang, was an einen auf sittliche Normierung abgestellten Schutzaufsichtscharakter und stark an ehemalige armenpolizeiliche Maßnahmen denken lässt. Die Schutzaufsicht war in dieser Gesetzesfassung nur provisorisch ausformuliert und sollte in nachfolgenden Vollzugsanweisungen näher bestimmt werden.
Die bedingte Entlassung war ebenfalls in starker Anlehnung an die Regierungsvorlage von 1912 formuliert worden. Die Voraussetzung für eine bedingte Entlassung bestand darin, dass eine Schadenswiedergutmachung erfolgen und die persönlichen Verhältnisse geregelt sein mussten. Die Probezeit war mit der Straflänge anzugeben, mindestens jedoch mit einem Jahr. Falls die Strafzeit mit weniger als drei Jahren angesetzt wurde, konnte die Probezeit auf dieses Maß ausgedehnt werden. Lebenslang verurteilte StraftäterInnen wurden mit einer sieben Jahre befristeten Probezeit entlassen.
Dieses Gesetz war das Produkt von Bemühungen, die entgegen des etablierten Strafzweckgedankens der Sühne und Vergeltung gerichtet waren und die der in den letzten Dekaden errungenen Erkenntnis über die massiven Haftschäden Rechnung trugen. Die Schutzaufsicht sollte das Mittel der Wahl sein, welchem zugedacht war, die Verurteilten durch ein alternatives und jedenfalls unschädliches Moment der Erziehung zu unterstützen und gleichzeitig dem Vergeltungsbedürfnis der Gesellschaft Genüge zu tun. Dies sollte jedoch nicht per Weg- und Aussperren geschehen, um generalpräventive Vorkehrungen zu treffen wie es davor alltägliche Praxis war, sondern über die erzieherische Re-Integration der verurteilten Person.
3.3 Das Rechtsinstitut der Schutzaufsicht
In diesem Sinn ist auch in § 1 Abs. 1 des Gesetzes der bedingten Verurteilung von 1920 der grundlegende Zweck der Schutzaufsicht ausgedrückt: „Nicht der Schutz der Gesellschaft gegen den Verurteilten, sondern der Schutz des bedingt Verurteilten gegen die Gefahr des Rückfalles ist der unmittelbare Zweck der Schutzaufsicht.“ (StGBL Nr. 478, Gesetz vom 25.9.1920: 1715).4 Musste Schutzaufsicht bei unter 18-Jährigen nicht aus den in § 2 Abs. 2 geregelten Kriterien obligatorisch angeordnet werden, sollte sie nur Anwendung finden, wenn die jeweils individuellen Gesichtspunkte eines Schutzaufsichtsfalles dafür sprachen (StGBL Nr. 478, Gesetz vom 25.9.1920: 1715). Hier wurde explizit festgelegt, dass sich das Gericht vorrangig der Organe der freiwilligen Fürsorge bedienen und erst wenn diese nicht verfügbar oder überlastet wären, auf SchutzaufsichtsbeamtInnen zurückgreifen sollte.
Es oblag den Bezirksgerichten selbst, Organisationsstrukturen zu schaffen oder sich an bestehende Einrichtungen zu wenden, an welche die Führung der Schutzaufsicht delegiert werden konnte. Waren Einrichtungen der JGH vorhanden, fiel die Schutzaufsicht von unmündigen und jugendlichen Personen in deren Kompetenzbereich. Anders verhielt es sich bei bedingt entlassenen Jugendlichen, die bereits das 18. Lebensjahr vollendet hatten und zwar nicht obligatorisch, dennoch – im Wortlaut des Gesetzes (BGBL Nr 298, Verordnung vom 22.5. 1921: 1077) – „in der Regel“ für die Dauer der Probezeit unter Schutzaufsicht gestellt werden sollten. Hier sollten im Gegensatz zu der Schutzaufsicht unmündiger und bedingt verurteilter Jugendlicher jedoch in erster Linie die Fürsorgeämter der Bundesbehörden für den Sicherheitsdienst und erst nachfolgend jene der freiwilligen Fürsorge damit betraut werden. War bereits während des Strafverfahrens eine für die Jugendfürsorge tätige Privatperson oder eine Fürsorgestelle selbst hinzugezogen worden, sollte eine etwaige Schutzaufsicht aus (prozess-)ökonomischen Gründen von derselben Person oder Stelle ausgeübt werden. Dass Privatpersonen jedoch nicht unbedingt im Rahmen einer privaten oder auch öffentlichen Fürsorgeorganisation agieren mussten, um Schutzaufsichten übernehmen zu dürfen, wurde insofern ermöglicht, dass diese schlichtweg „zur Führung der Schutzaufsicht geeignet und bereit“ (StGBL Nr. 478, Gesetz vom 25.9.1920: 1715) sein mussten.
Beide neuen Einrichtungen, die bedingte Verurteilung sowie die Schutzaufsicht, wurden anfänglich, weder was die Sache noch die Form betraf, der gesetzlichen Intention entsprechend durchgeführt, was das Bundesministerium 1922 dazu veranlasste, den gerichtlichen Instanzen per Erlassweg korrigierende Erläuterungen und Handlungsanweisungen zukommen zu lassen.
3.4 Das Jugendgerichtsgesetz 1928
War mit der Errichtung von Jugendgerichten und den im Erlass- und Verordnungsweg ergangenen Detailregelungen zu Beginn der Ersten Republik einige Bewegung in die Reformbemühungen um ein materielles Jugendstrafrecht im Sinn eines Nacherziehungsgedankens gekommen, wurden vorerst keine weiteren dahingehenden Schritte mehr unternommen. Bei Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes kam letztendlich der Anstoß von der Erlassung des dt. Jugendgerichtgesetzes vom 1. Juli 1923, mehr aber noch von der Wirkkraft der privaten und in der „Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge“ vereinigten Fürsorgeorganisationen, die im Oktober 1924 eine Fachtagung abhielt, in der der Entwurf einer Regierungsvorlage erarbeitet wurde und der nahezu vollständig in das Jugendgerichtsgesetz vom 18. Juni 1928 übernommen werden sollte. Die Regierungsvorlage war von dem Leitgedanken „Erziehung statt Strafe“ getragen, den Ferdinand Kadecka (1929: III) in seinem Vorwort zum Jugendgerichtsgesetz wie folgt zusammenfasste: „Dem Jugendgerichtsgesetz sind nach der Begründung zwei Ziele gesteckt: der Abbau der Strafe und der Aufbau der Ersatzeinrichtungen. In Wahrheit handelt es sich um mehr als um einen bloßen Austausch von Einrichtungen. Es hat sich ein Wandel in der Anschauung vollzogen, auf denen diese Einrichtungen beruhen. Das Jugendgerichtsgesetz bedeutet einen feierlichen Absage an den Vergeltungsgedanken, an die überkommene Vorstellung von einer Schuld, die der Übeltäter der Gesamtheit gegenüber auf sich geladen hat, und einer Sühne, durch die er diese Schuld tilgen soll, (…). Das Gesetz bekennt sich zu dieser Auffassung (…). Es nennt sich nicht Jugendstrafgesetz, sondern Gesetz über die Behandlung junger Rechtsbrecher.“5 Michael Neumair hält fest, dass es zwar mit der Jugendgerichtsgesetzreform aus Sicht der JGH-Bewegung noch immer nicht gelungen war, „die Zwangserziehung durch ein Gesetz über die Fürsorgeerziehung von der Voraussetzung begangener strafbarer Handlungen zu befreien und auf alle Verwahrlosten auszudehnen“ (1996: 313), dass mit der Reform jedoch der Gedanke der Spezialprävention auch im Fürsorgebereich fixiert wurde. Durch die Schwerpunktsetzung auf die Spezialprävention muss aber realiter davon gesprochen werden, dass sich die Auswirkungen von den im Jugendgerichtsgesetz gegenübergestellten Polen der „Strafe“ und „(Zwangs-)Erziehung“ auf die betroffenen Jugendlichen vermengten. Denn die sogenannte Nacherziehung sollte zwar längstens bis zum 20. Lebensjahr ausgesprochen werden und zur Anwendung kommen. Ebenso sollte der/die Verurteilte nach spätestens drei Jahren „enthaftet“ werden können(sic!). Doch konnte die Person bei diagnostizierter Unreife jederzeit wieder in die Anstalt rückgeführt werden und dass auch nach Vollendung des 20. Lebensjahres. Die Kriterien für Reife bzw. Unreife waren in den Protokollen nicht weiter dargelegt worden (vgl. 8 der Beilagen Sten. Prot. NR, III. GP, 1927: 16). De facto bedeutete dies, dass die Jugendlichen i.d.R. länger und auch mit strikteren Normierungsmaßnahmen festgehalten werden konnten. Erst in den darauf folgenden Jahren sollte sich der Fokus auf die Spezialprävention insofern positiv auswirken, dass die weiteren Entwicklungsschritte des Strafrechts unter starkem human- und sozialwissenschaftlichen Einfluss stattfanden (vgl. Neumair, 1996: 314). Stellt man die Strafrechtsreformbemühungen in den breiteren Kontext um das jahrzehntelange Bemühen um ein umfassendes Fürsorgeerziehungswesen und folgt man den Ausführungen Michael Neumairs, ist das Jugendgerichtsgesetz sowohl als Durchbruch, als auch als Abschlagszahlung zu bezeichnen.6
Für die Betrachtungen bzgl. der Reform der Schutzaufsicht kann mit einer Ausnahme auf keine wesentlichen Modifikationen durch das Jugendgerichtsgesetz verwiesen werden. Die bedingte Verurteilung wie auch die Entlassung waren schon durch das Gesetz aus dem Jahr 1920 verankert worden, wobei letztere durch die Strafrechtsreform noch geringfügige Adaptierungen erfuhr. Das wirkliche Novum bestand in der Einführung der „echten“ bedingten Verurteilung. Der zentrale Unterschied zu den vorangegangenen Formen bestand darin, dass ab diesem Zeitpunkt nicht nur die Strafvollstreckung aufgeschoben werden konnte, sondern erstmalig der Strafausspruch selbst (vgl. 8 der Beilagen Sten. Prot. NR, III. GP, 1927: 3; Kadecka 1929: 5).
4. Organisationsstruktur und Akteure der Schutzaufsicht
4.1 Organisation und Finanzierung
Die örtliche Anbindung der JGH an das Bezirksgericht Josefstadt im Jahr 1917 stellte, nach den Ausführungen Grete Löhrs zu schließen, den wichtigsten Schritt der bisherigen JGH-Geschichte dar (vgl. Löhr 1918: 90f). Zwar war bereits mit dem 1911 gegründeten „Komitee für Jugendgerichtshilfe“ eine enge Kooperationsbasis mit den Straf- und Pflegschaftsgerichten eingegangen worden, diese wurde in den darauf folgenden Jahren insbesondere durch den Kriegsbeginn sukzessive geschwächt und fand ihr abruptes Ende in dem Tod Heinrich Kesseldorfers, der bis dahin die zwischen Gericht und JGH-Komitee bestehende Verbindung aufrecht erhalten hatte. Durch die 1917 stattfindende Errichtung der Geschäftsstelle konnten die Aufgaben gebündelt und zumindest teilweise zentralisiert, die Zusammenarbeit mit dem Bezirksgericht Josefstadt wieder durch die räumliche Nähe und den persönlichen Kontakt der MitarbeiterInnen der beiden Institutionen effektiver gestaltet werden.
Dem Ruf nach einer ebenfalls materiellrechtlichen Intensivierung (per Zusammenlegung pflegschafts- und strafrechtlicher Aufgaben) mit dem Ziel der Zentralisierung der Schutzaufsichtsagenden, die eine einheitliche Durchführung parallel mit dem örtlichen Zusammenwirken gewährleisten sollte, wurde zu dieser Zeit in fachlichen Kreisen verstärkt Nachdruck verliehen.
Selbst als dem Zusammenschluss dieser beiden gerichtlichen Agenden mit den Gesetzen 1919 und 1920 Rechnung getragen wurde, wäre die Vorstellung einer einheitlichen und unter der Ägide der JGH stehenden großen Vereinigung eine fehlgeleitete. Denn bereits zum Zeitpunkt der Gründung des „Komitees für Jugendgerichtshilfe“ zählten 25 Wiener Jugendschutz- oder Wohlfahrtsvereine zu den Mitgliedern, die sich zur Verfügung stellten. Zwar war die JGH im Erlassweg als erste Anlaufstelle für etwaige gerichtliche Weisungen genannt, formal war es aber vorgesehen, dass das jeweilige Gericht Verbindung mit den in Frage kommenden Organisationen oder auch geeigneten Einzelpersonen suchen musste. Diese Organisationsform der „Vereinshilfe“, wie sie von G. Löhr (vgl. Bundesministerium für soziale Verwaltung 1921: 18) bezeichnet wurde und der Anfang der 1920er Jahre 40 Körperschaften angehörten, war international gesehen keineswegs eine unübliche.
Ein Moment, das die JGH und damit auch die Schutzaufsicht durch die gesamte Erste Republik begleiten und prägen sollte, war die enorm prekäre finanzielle Grundlage. Bereits kurz nach der Errichtung der JGH (1922) wurde über massive materielle Sorgen geklagt. In den Gesetzen von 1919 und 1920 war zwar die Übernahme der Schutzaufsicht dezidiert in den Kompetenzbereich der JGH angesiedelt worden, es wurde „aber in diesen Gesetzen kein Wort darüber gesagt, woher die Jugendgerichtshilfe die materiellen Grundlagen für ihre Tätigkeiten nehmen soll.“ (Fiala 1922: 55) Die stockenden Zuwendungen, die zumeist aus freiwilligen Kanälen flossen, waren an die allgemeine prekäre wirtschaftliche Lage rückgekoppelt und die Befürchtung, dass die Wiener JGH ihre Tätigkeiten einstellen musste, war keinesfalls ein Unikum, das nur die Bundeshauptstadt betraf. Im selben Jahr wurde ein Gesetzesentwurf im Nationalrat eingebracht, der für den Wirkungskreis der JGH einen außerordentlichen Kredit von 80 Mio. Kronen einforderte, welcher auch schließlich am 6. Dezember 1922 bewilligt wurde (vgl. BGBL Nr. 888, Gesetz vom 6.12.1922: 1904f). Damit war das Fortbestehen einstweilen gesichert, doch hieß es bereits 1925 in einem Erlass, dass „[a]us zahlreichen Berichten sämtlicher Landesregierungen […hervorgeht], daß die Durchführung des Gesetzes über die bedingte Verurteilung […] infolge vollkommener Unzulänglichkeiten der zu Gebote stehenden Mittel gehemmt, teilweise sogar gänzlich lahmgelegt ist“ (Erlass des Bundeskanzleramtes 1925, zit. nach Leirer, 1997: 6 f). Diese Passage unterstreicht, dass die Jugendfürsorge im urbanen als auch im ländlichen Bereich mit außerordentlich knapp bemessenen finanziellen wie infrastrukturellen Ressourcen auskommen musste.
Eine realistische Einschätzung der Bedeutung dieser prekären finanziellen Situation für die Schutzaufsichtspraxis ergibt sich, wenn man sich die Anzahl der vom Gericht zugewiesenen KlientInnen vor Augen führt. Marie Michalski, eine langjährige JGH-Mitarbeiterin, zieht 1937 resümierend die Bilanz, dass zwischen der Gründung der JGH im Jahr 1919 und 1935 insgesamt 69.640 KlientInnen betreut wurden. Davon waren 42.737 Pflegschafts- und 26.903 Schutzaufsichtsfälle.
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass Verwahrlosung, Dissozialität und Kriminalität vorrangig Erscheinungen von Großstädten, Industriezentren und damit des urbanen Raumes waren und diese Phänomene am Land eher als Einzelerscheinungen wahrgenommen wurden (vgl. Löhr/Suchanek 1930: 29). Darin ist auch der Grund zu sehen, dass Wien als Modernisierungsmotor und sozusagen als „role model“ für wesentliche Fortschritte in der JGH im Allgemeinen und der Schutzaufsicht im Besonderen fungierte, dass von dort die maßgeblichen Entwicklungsimpulse kamen und sich auf dem Land befindliche Schutzaufsichtorganisationen und auch Einzelpersonen an den Wiener Standards orientierten.
4.2 Akteure der Schutzaufsicht
Die Geschäftsstelle der JGH selbst hatte am Beginn lediglich zwei Mitarbeiterinnen, wobei G. Löhr vorrangig administrative und koordinierende Aufgaben versah. Neben den beiden anderen Haupttätigkeitsbereichen der JGH, der Ermittlungs- und Begleitungstätigkeit von Schützlingen in Verfahren, wurden die meisten Schutzaufsichtsfälle von ihrer Kollegin durchgeführt. Das unterstreicht ein weiteres Mal, dass der JGH anfänglich nahezu ausschließlich eine Verteilungs- und Multiplikatorenfunktion zukam. In Anbetracht der von privater Wohlfahrtsseite zur Verfügung gestellten personellen wie materiellen Ressourcen und eben durch die JGH organisierten Schutzaufsichten relativiert sich einerseits die grotesk anmutende Beschreibung, dass die Geschäftsstelle der JGH seit 1917 neben G. Löhr mit bloß einer Mitarbeiterin besetzt war (vgl. Mösenbacher 1936: 40). Andererseits entsteht durch diesen Umstand der Dezentralisierung die Assoziation, dass die Verantwortlichkeit, Armut und Kriminalität entgegenzutreten und für die betroffenen Personen konstruktiv aufzulösen, von staatlicher Seite negiert wurde.
Mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtgesetzes Anfang 1920 wurde die MitarbeiterInnenzahl der Geschäftsstelle auf zehn erhöht (vgl. Trought 1927: 22). 1925 waren 18 MitarbeiterInnen angestellt, die in der Mehrzahl Frauen waren, unter der Leitung der ersten Schutzaufsichtsbeamtin (G. Löhr) standen und zu deren Aufgaben sowohl Büro- als auch Außendienste zählten (vgl. ebd.). Die anspruchsvollsten Fälle sollten von MitarbeiterInnen der Geschäftsstelle übernommen, anderweitige an Nachbarorganisationen delegiert werden, wobei – wie G. Löhr betont – nahezu alle Wr. Fürsorge- und Wohlfahrtsorganisationen bei der JGH zusammenliefen und auch zwischen 100 und 150 „individual workers“ (ebd.; vgl. auch Mösenbacher, 1936: 42) eingebunden waren. Die Anzahlzahl der direkt bei der Geschäftsstelle der JGH angestellten MiterarbeiterInnen betrug (bis 1936) zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung 24.
In beiden Bereichen sollten SozialarbeiterInnen tätig sein. Das galt sowohl für die „Außenfürsorge“ (Erhebungs- und Schutzaufsichtsdienste) als auch für den „Innendienst“ (Bearbeitungen der Berichte, Teilnahme an den Verhandlungen usw.) (vgl. Löhr/Suchanek 1930: 30). Professionalität durch eine wissenschaftliche Ausbildung wurde bereits zum Zeitpunkt der Geschäftsstellengründung als gemeinhin anerkannte Voraussetzung und Notwendigkeit jeglicher erfolgreichen Fürsorge gesehen. Damit sollte nicht nur den fachlichen Ansprüchen und pädagogischen Standards entsprochen werden können, man wollte auch gewährleisten, dass die Schutzaufsicht zum Gewinn der Jugendlichen gereiche und gleichzeitig verhindern, das diese nicht zu einer unter dem Deckmantel einer anderen Begrifflichkeit firmierenden Polizeiaufsicht verkam (vgl. u. a. Fiala 1918: 60).
5. Schutzaufsichtsakteure als reine Kontrollorgane einer neuen Strafökonomie oder als neue ExpertInnen des Sozialen in einem juristisch, medizinisch und kriminalbiologisch dominierten Diskursfeld?
Vor der Skizzierung dieser gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungsmuster und der formalen und praktischen Rahmenbedingungen der Schutzaufsicht stellt sich die Frage, ob der Schutzaufsichtspraxis wirklich eine reine Kontrollfunktion zukam bzw. falls nicht, wie diese Praxis beschrieben werden kann und weiters, ob sich durch die Etablierung einer sozialen ExpertInnenschaft das Kräfteverhältnis in dem materiell prekären und kriminalbiologisch, medizinisch und juristisch dominierten Praxis- und Diskursfeld veränderte und die Definitionsmacht in Bezug auf den Umgang mit Kriminalität verschob. Die in den letzten Jahren erschienen Arbeiten zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik beschäftigen sich u. a. mit der Frage, in welchem Verhältnis die Strafpraxis von sozialen bzw. medizinisch-biologischen Bewertungskriterien bestimmt wurde (Schauz 2008a: 100). Im Zuge dieser aktuellen Untersuchungen wird zwar betont, dass durch die Vertreter(Innen) der Reformbewegung der „Modernen Strafrechtschule“ die komplexe Interaktion zwischen Anlage- und Umweltfaktoren an Bedeutung gewann, kriminalsoziologische Untersuchungen jedoch bald hinter kriminalbiologischen zurücktraten und sich die Vorherrschaft der Kriminalbiologie nach und nach herauskristallisierte (Wetzell 2010: 317).
In einem größeren Kontext sollte die „soziale Mission der Jugendgerichtshilfe […] Fragen der Volkswirtschaft, Volkshygiene und Sozialpolitik“ erforschen, um die Auswirkungen des sprunghaften Anstiegs der Jugendkriminalität und die damit einhergehenden „Schäden [aufzuzeigen], die an unserer Volksgesundheit zehren“ (Löhr 1919: 33). Es wurde aus einer bevölkerungspolitischen Perspektive und in diesem Sinne aus einem auf ein effektives „Volksganzes“ abzielendes Argumentationsrepertoire geschöpft, das per Klassifizierung von unverbesserlichen „Gewohnheitsverbrechern“ und umerziehbaren „Gelegenheitsverbrechern“ sowie zwischen produktiven und unproduktiven Bevölkerungseinheiten unterscheiden sollte. Die Selektion von sogenannten unverbesserlichen VerbrecherInnen kann als Ausdruck einer neu entstandenen Strafökonomie verstanden werden, die auch von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wurde (Schauz 2008a: 119). Auf der Ebene der Fürsorgepolitik wurde die Jugendgerichtshilfe eingesetzt, um der Verwahrlosung der Jugend entgegenzutreten. Denn würde die Verwahrlosung eingedämmt werden, hätte man damit auch die sozial-pathologischen(sic!) Ursachen der Kriminalität beseitigt (vgl. Kufner 2012: 34). Mit dieser Annahme begründete man eine präventive Zwangserziehung, die bereits vor real eingetretener strafrechtlich relevanter Delinquenz einsetzen sollte (ebd.: 87f).7
Auf der praktischen Ebene der Schutzaufsicht und im Kontext der Wiener JGH waren Milieustudien und die Erhebung der sozialen Faktoren ein von Beginn an in den theoretischen Leitlinien eingeschriebenes Moment, das die Diagnose- und Prognosetätigkeit optimieren sollte. Die soziale Diagnose sollte der Idee nach die ausschließliche Aufgabe der JGH sein, aus der „Anlage Umwelt“ Diskussion gewann man jedoch die Erkenntnis, dass zumeist nicht einzelne Verwahrlosungserscheinungen, sondern ein Verwahrlosungskomplex die Ursache der Delinquenz darstellte. D. h., dass der Diagnosefokus auch auf anderweitige als soziale Kriterien gelegt wurde. Forciert wurde diese Entwicklung durch den Einfluss der psychiatrischen und kriminalbiologischen Erkenntnisse im Allgemeinen und auch durch die enge Zusammenarbeit mit Erwin Lazar im Speziellen, die sich spätestens mit dem Beginn der Ersten Republik intensivierte. In dessen Theoriegebäude zeigte ein Erklärungsstrang nach wie vor in die Richtung vererbter, physischer wie psychischer „Wurzeln der Dissozialität“, insgesamt vertrat er jedoch den Standpunkt, dass psychische, physische und soziale Faktoren als Ursachenkomplex der Verwahrlosung zu identifizieren und auch in ihrer Gesamtheit zu behandeln seien, was sich bereits in den Leitlinien der JGH von 1919 widerspiegelte. In einem der ersten Praxishandbücher heißt es in diesem Sinn: „Haupterfordernis der Ermittlung ist es klarzustellen, inwieweit Anlage und Vererbung, inwieweit das Milieu auf den Entwicklungsgang des Jugendlichen Einfluß genommen haben“ oder mit anderen Worten „die sogenannte soziale Diagnose zu stellen, die sich aus den Erziehungsverhältnissen, der wirtschaftlichen Lage und der Wesensart des Jugendlichen und seiner Familie ergibt“ (Löhr/Suchanek 1930: 34ff). AkteurInnen der JGH vertraten alsbald die Ansicht, „daß die Verwahrlosung Jugendlicher und die von ihnen begangenen Straftaten ihre Ursache häufig in einer krankhaften Störung des Seelenlebens oder in einer mehr oder weniger großen geistigen Schwäche […] des Jugendlichen haben“ (Bundesministerium für soziale Verwaltung 1921: 34).
Gleichzeitig wurden auf institutioneller und interdisziplinärer Ebene klare Kompetenzgrenzen zwischen JuristInnen, MedizinerInnen, HeilpädagogInnen und FürsorgerInnen gezogen. Zum einen durften FürsorgerInnen keinerlei medizinische Diagnosen stellen, mussten aber zugleich den HeilpädagogInnen zuarbeiten, indem sie bei ihren Erhebungen das „Augenmerk auf die Gesichtspunkte zu richten [hatten], die für den Arzt von Bedeutung sind“ (ebd.: 35). Zum anderen zählte die Erforschung der strafbaren Handlung selbst dezidiert nicht zu den Aufgaben der Fürsorge. Diese Kompetenzaufteilung in Kombination mit der z. T. vehementen Ablehnung gegen die, weil vermeintlich Kompetenzbereiche überschreitende Funktion der Schutzaufsicht, trug dazu bei, dass sich die Selektions- und Kontrolltätigkeit nahezu ausschließlich auf die gerichtlich vorgegebenen Parameter bezog, jedoch keine pädagogisch fundierte disziplineigene Meinung ausgewiesen und vertreten wurde. Ganz im Gegensatz zu der von G. Löhr festgehaltenen Intention, dass die „Erhebung der Jugendgerichtshilfe […] nicht nur mitmaßgebend für die Beurteilung des Jugendlichen durch den Jugendrichter [sein sollte], sondern […] auch die Grundlage für alle weiteren Fürsorge- und Erziehungsmaßnahmen“ (Löhr 1919: 36) bieten sollte. Die JGH konnte faktisch auf keine ausgereiften institutionellen Strukturen zurückgreifen, befand sich als relativ junge Disziplin der Sozialarbeit und Pädagogik in einer in diesem interdisziplinären Diskursfeld der Deutungshoheit und Expertise der Medizin, Justiz und Kriminalbiologie nachgereihten Position, was in dieser Gesamtheit nur beschränkt als sicherheitsstiftende Ausgangssituation gesehen werden kann und einen möglichen Erklärungsansatz dafür bietet, warum auf traditionelle bzw. disziplinfremde Normierungsschemata – besonders auf Psychiatrie und Kriminalbiologie – zurückgegriffen wurde. Aus einer diskursanalytischen Perspektive heraus gewinnt diese Lesart an Plausibilität. Expertise gilt dieser Methodologie nach gemeinhin als eine soziale Konstruktion. „Sie wird über Professionalität, Disziplinarität, Sprache, aber auch durch professionellen und disziplinären Status konstruiert und legitimiert. Experten reproduzieren und produzieren Wissen im Diskurs und schreiben damit die Figuration vom Verbrechen aktiv mit. Experten kämpfen auf der Schaubühne des Gerichtsaales um Deutungsmacht über das Verbrechen“ (Grütte 2008: 41f). Mit diesen Gesetzmäßigkeiten vor Augen scheint auf der JGH selbst ein Konformitätsdruck gelastet zu sein, der durch Legitimitäts- und Etablierungsbestrebungen anderen machtvollen Disziplinen gegenüber angetrieben wurde, der folgenreiche Konsequenzen für den Diskurs und die Praxis bedeuten sollte.
Im Vergleich zu den interdisziplinären Auseinandersetzungen ergibt sich anhand der Quellenlage bzgl. der Betreuungsverhältnisse zwischen FürsorgerInnen und Schützling ein ebenso verqueres Bild. Die Betreuungsverhältnisse erscheinen anhand JGH-Akten weniger Produkte zu sein, die durch die Komplexität der sozialen Wirklichkeit und den Interaktionen zwischen KlientInnen und SchutzaufsichtsbeamtInnen bedingt waren, deren Inhalt und Erfolg weniger von individuellen Problem- und Bedarfslagen, also weniger über einen professionellen Habitus, von fachlichen Kriterien und disziplinären Standards bestimmt waren, sondern die viel mehr entlang alltäglicher Kategorisierung und Typologisierung definiert und mit einer Überbetonung von klischeehaften und vermeintlich schichtspezifischen Generalisierungen bewertet wurden. Dass in diesem Ausmaß auf einen kriminalbiologischen und einen traditionellen Sittlichkeits- und Moralkanon als orientierungs- und handlungsanleitendes Konzept zurückgegriffen wurde, verwundert aufgrund der bereits etablierten und ausformulierten fachlichen Standards und Positionen, wird aber aus der oben beschriebenen interdiskursiven und -disziplinären Verflechtung nachvollziehbar. Um die eigene Deutungsmacht zu etablieren wurde gewissermaßen eine Wissensadaption vorgenommen, um interoperable Übersetzungsschritte hinsichtlich der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und dem Gericht implementieren zu können. Die Vermengung von Wissensbeständen und die interdisziplinäre Zerrissenheit werden auch auf der Personalebene der SchutzaufsichtsakteurInnen offensichtlich. Denn im Regelfall führten dieselben BeamtInnen sowohl die Erhebung als auch die Schutzaufsicht durch, wobei erstere überwiegend anhand von anlagebedingten Indikatoren durchgeführt wurde, zweitere überwiegend anhand von umweltrelevanten Parametern ausgerichtet wurde. Dass daraus Rollenkonflikte hinsichtlich der Ermittlungs-, Kontroll- und der Betreuungsfunktion resultierten, die negative Auswirkungen auf die Beziehung zwischen FürsorgerIn und KlientIn hatten, liegt auf der Hand.
D. Schauz schreibt über die Verflechtung der Weimarer Gerichtshilfe in diesem interdiskursiven und -disziplinären Feld, dass die „Furcht vor dem „Gewohnheitsverbrecher“, dessen Existenz wissenschaftlich legitimiert schien, […] schließlich die Gerichtshilfe neben der Kriminalbiologie zu einem weitern Selektionsinstrument [machte]. Angesichts dieser kriminalpolitischen Interessenskonvergenz verlor die Expertenkonkurrenz letztlich an Bedeutung. In der Argumentation verschränkten sich dich medizinische, soziale, moralische und rechtliche Kriterien unauflöslich.“ (Schauz 2008a: 119) Das trifft auch auf die Wiener Schutzaufsichtspraxis zu. Die Kontrollfunktion lag demnach weniger in der Praxis selbst als in ihrer diskursiven Verflechtung. Der qualitative theoretische Schutzaufsichtshabitus konnte weder in die Praxis übersetzt werden, noch konnte sich der diskursive Einfluss der entstehenden Sozialarbeit durchsetzen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass eine große Kluft zwischen theoretisch-normativen Standards bzw. offizieller Programmatik und einer tendenziell disziplinierenden Praxis bzw. impliziten Zielsetzungen bestand, wobei letztere einem traditionell geprägten sittlich-moralischen Imperativ und kriminalbiologischen Deutungsschemata verhaftet waren. Die JGH agierte sozusagen als Zuarbeiterin, um die Klassifizierung des Verbrechers via soziale Kriterien zu komplettieren und sprach sich im Zuge dessen auch tlw. für eine Unschädlichmachung per Einweisung in eine Erziehungs- und Arbeitsanstalt aus, so psychosoziale und auf das Milieu abzielende Interventionen undurchführbar schienen.
Verweise
1 Der Beitrag beruht über weite Strecken auf meiner Diplomarbeit (Kufner 2012a) und darauf aufbauenden Überlegungen, die ich teilweise auch in einem anderen Zusammenhang formuliert habe (vgl. Kufner 2012b).
2 Den argumentativen Grundstein haben diesbezüglich Elisabeth Schilder (1904-1983) und Sepp Schindler (*1922), zwei mit der Geschichte der österreichischen Bewährungshilfe eng verbundene Personen, gelegt. Vgl. bspw. Schilder (1966, 1976, 1978) sowie Schindler (1956, 1962, 1984). Weitere und in der Folgezeit erschienene Publikationen zu diesem Themenfeld, welche sich auf diese Quellen beziehen und gleichzeitig das Gros des Forschungsstandes umreißen: Gernjak 1995; Leirer 1997; Mirecki/Preiß 1985; Pölzl 2007; Vlcek 2005; dem Werdegang und Kontext kritischer hingegen Neumair 1996. Bei Caspar Einem heißt es bezüglich der verfügbaren Literatur zur Bewährungshilfe: „Versucht man, sich einen Überblick über die bisher vorliegende Literatur zur österreichischen Bewährungshilfe zu verschaffen, stößt man zunächst vor allem auf das Problem, die einschlägigen Arbeiten überhaupt zu finden. […] es [ist] nahezu unmöglich, auch nur ein Bruchstück des vorliegenden Materials ohne unverhältnismäßigen Aufwand zu rezipieren.“ (Einem 1979: 587)
3 Die Quellenangaben, die sich auf Gesetzestexte bzw. Protokolle diverser politischer Gremien beziehen, sind allesamt auf dem Server der Österreichischen Nationalbibliothek in digitalisierter Form zu finden: http://www.onb.ac.at/kataloge/index.htm
4 In der kommissionellen Vorberatung des Vorentwurfes war das Wesen und der Zweck der bedingten Verurteilung noch vorrangig unter generalpräventiven Gesichtspunkten beschrieben worden: „Das Wesen der bedingten Verurteilung wie der bedingten Entlassung bestehe nicht in einer einseitigen Begünstigung des Übeltäters. Ihr Sinn und Zweck sei keineswegs der einfache Verzicht auf die Vollstreckung der Strafe oder ihres Restes, sondern die Ersetzung dieser Strafvollstreckung durch Maßnahmen anderer Art und in der Regel längerer Dauer, die die Gesellschaft wirksamer, als es der Strafvollzug vermöchte, gegen die verbrecherischen Neigungen des Individuums schützen sollen“ (961 der Beilage Sten. Prot. der konstituierenden Nationalversammlung 1919: 12.)
5 Vgl. dazu nahezu identischen Wortlaut der Regierungsvorlage aus dem Jahr 1926/7, 8 der Beilagen Sten. Prot. NR, III GP, 1927: 11.
6 So lautet das Fazit, zu dem Michael Neumair am Ende seiner Untersuchung gekommen ist.
7 Dass nicht nur straffällig gewordene, sondern auch anderweitig delinquente respektive verwahrloste Jugendliche im Kontext der Praxis der Schutzaufsicht nahezu ausnahmslos unter einem problematisierenden Blickwinkel betrachtet wurden, trug nicht nur zu dem Erhalt und einer Verfestigung dieser Perspektive bei, womit parallel auch homogene Typologien Jugendlicher geschaffen und damit eine positive Sicht auf Jugendliche verunmöglicht wurde, sondern hatte auch zur Folge, dass diese hegemonialen Verhältnisse reproduziert wurden. Setzt man vor diesem Hintergrund Schutzaufsicht als integralen Bestandteil eines kriminal-, fürsorge-, ordnungs- und machtpolitischen Feldes, scheint der Fokussierung auf spezifische Zielgruppen eine Stellvertreterfunktion zuzukommen, die von strukturellen Mängeln ablenkt und die Funktion der Schutzaufsicht selbst eine zu einem auf Dauer gestellten (und seine Bedingungen selbst reproduzierenden) Reparationsmechanismus degradierte zu sein. (Dieser Schlussfolgerung verdanke ich einem 2012 gehaltenen Vortrag von Josef Bakic.)
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Mag. Jonathan Kufner, BA
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