soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 10 (2013) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/285/472.pdf


Michael Proksch:

Räume der Handlungsfähigkeit als Antwort auf die Megatrends der zweiten Moderne?


1. Einleitung
Es handelt sich hier um eine Kurzfassung einer Bachelorthesis, in der Humankapitalansatz und identitätsbildende Theorie erörtert, und dann einander gegenüber gestellt wurden. In dem hier vorliegenden Artikel wird nicht auf die theoretische Rahmung von Humankapitaltheorie (vgl. Schultz 1986; Becker 1982; Mincer 1993) und Sozialisationstheorie (vgl. Böhnisch/Lenz/Schröer 2009) eingegangen, sondern es werden Handlungsansätze für die Soziale Arbeit und Vorschläge für den Umgang mit den Megatrends der späten Moderne gebracht. Als grundlegende Annahme wird hier Robert Castels (2009) These, dass soziale Sicherheit in der Zweiten Moderne abnimmt, aufgegriffen.


2. Lebensstilorientierung und Kapital
Die Späte Moderne ist durch eine radikale Individualisierung der Lebenslagen und Lebenswege sowie einem zunehmenden Machtgewinn des globalen Marktes und der damit verbundenen Unterordnung der Politik gekennzeichnet. Menschen stehen dabei vor der ambivalenten Aufgabe sich in einer Gesellschaft zu verwirklichen, in der immer mehr in der Moderne noch sozialstaatliche Aufgaben in das private Leben hineinreichen und Prekarität zunimmt (vgl. Dörre 2009). Das Sein ist eine Janusköpfigkeit: Jugendliche und Erwachsene müssen einerseits der Konsumgesellschaft und wirtschaftlichen Anforderungen gegenüber aufgeschlossen sein und gleichzeitig ist das nur möglich, wenn die Person psychosozial stabil ist und sich ihr somit aussetzen kann. Anforderungen, die in der Moderne noch klare sozialstaatliche Aufgaben waren, werden in der Zweiten Moderne durch Entgrenzung verwischt. Menschen, die eine geringere Ausstattung mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital und damit zusammenhängenden Netzwerken mit sich bringen, erfahren daher Benachteiligung. Denn der Mensch benötigt für eine gesellschaftlich „akzeptable“ Bewältigung der Entgrenzungstendenzen Ressourcen, Kapital und Sicherheit.

Somit stehen Menschen vor der Herausforderung trotz abnehmender Sicherheit und steigender Prekarität soziale Netzwerke aufzubauen, um auf diese Weise Räume der Handlungsfähigkeit zu finden. Diese privaten und lokalen Beziehungen sollen Halt geben, wenn dieser in der Gesellschaft und der sozialstaatlich vermittelten Sicherheit verloren geht. Es geht dann um eine ständige Balance zwischen Selbst und Außen (vgl. Böhnisch 2001: 58-59). Diese Balance zwischen gesellschaftlicher Anforderung und sozialer Gruppe bzw. Milieu kann in der „Lebensstilorientierung“ (ebd.: 61) hergestellt werden. Es können dabei gesellschaftliche Anforderungen zum Lebensstil gemacht werden, um so die Balance zwischen sich und Gesellschaft zu halten. Um dies zu leisten, ist jedoch „kulturelles Kapital“ (Bourdieu 1983) notwendig. Dieses ist Menschen aber nicht im gleichen Maß zugänglich und wird durch die Privatisierung von Bildung schwächer durch den Sozialstaat und seine Institutionen vermittelt.


2.1 Die Privatisierung von Bildung
Entgrenzungsprozesse führen zur Erosion bis hin zur Auflösung von bestehenden Begrenzungen des Sozialen und Politischen sowie von Strukturen des Alltags. Es gibt dabei vor allem Entscheidungsverschiebungen vom Öffentlichen bzw. Politischen in das Private und eine damit verbundene Schaffung von Sachzwängen (vgl. Böhnisch/Schröer 2007: 25). Durch den zunehmenden Verfall der sozialstaatlich vermittelten Sicherheit werden Menschen zu UnternehmerInnen ihrer eigenen Biografien ernannt. Die Aufgabe von Bildung und die damit verbundene Verantwortung werden durch den Humankapitalansatz auf den Menschen übertragen. Personen werden abnehmender sozialstaatlicher Sicherheit ausgesetzt und erleben durch prekäre Verhältnisse eine Reduktion sozialer Netzwerke sowie der privat vermittelten Sicherheit. Diese Entgrenzung der sozialstaatlich vermittelten Bildung führt zur Annahme, dass jeder Mensch die gleichen Bildungschancen hätte. Die Bildungsforschung zeigt, dass Bildung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital zusammenhängt und das Bildungsniveau von der sozialen Herkunft abhängig ist (vgl. Lassnigg/Vogtenhuber 2009). Mit der Verinnerlichung der humankapitalistischen Logik kann der Fehlschluss entstehen, dass Bildung in der Hand des Menschen liegt, und er dafür die Verantwortung trägt. Es ist vor diesem Hintergrund als sozialpolitischer Rückschritt zu betrachten, wenn die Verantwortung für Bildung bei den BürgerInnen liegt und sozialpolitische Aufgaben des Wohlfahrtsstaates dadurch in das Private rücken.


3. Handlungsansätze für die Soziale Arbeit
In der Sozialisation der Zweiten Moderne bildet sich die Identität des Menschen in seiner Lebenslage und die Handlungsfähigkeit kann als ein über der Identität stehendes Konzept betrachtet werden. Die Entgrenzungsdynamiken und Bewältigungsaufforderungen führen zur Individualisierung. Auch die Humankapitaltheorie ernennt die Menschen zu EntrepreneurInnen ihrer Lebenslagen und sie können sich darin selbst die Nächsten werden.

In Meads (1932) Identitätskonzept bildet sich stabile Identität dadurch, dass Menschen ihre Gegenüber anerkennen und die Spiegelungen durch ihre eigenen Erfahrungen und Vorstellungen reflektieren. Wenn der Mensch aber auf sich alleine gestellt ist, so kann es dazu kommen, dass er sich soziale Bezüge so sucht, dass sie ihm eine Spiegelung ohne Eingehen auf die Person ermöglichen. Die interaktionistische Psychoanalyse beschreibt dies in der Figur des „neuen Narziss“ (vgl. Altmeyer 2000 zit. in Böhnisch/Lenz/Schröer 2009: 33). Der neue Narziss ist eine Person, die sich in ihrer Umwelt laufend selbst spiegelt ohne dabei verbindliche soziale Beziehungen einzugehen.

„Man ist sich selbst der Haltepunkt und erliegt dabei dem sozialen Schein der Bespiegelung als Form der sozialen Integration und Zugehörigkeit. Dieser neue Narziss ist nicht triebgesteuert, wie dies die traditionelle Psychoanalyse annahm, sondern baut sich interaktiv auf und steht im Sog der arbeits- und konsumgesellschaftlichen Dynamiken: Zu spüren und wahrzunehmen, wie man sich im anderen spiegelt, wird zum Motor der Entwicklung einer fragilen Identität, die immer neu um Anerkennung heischen muss“ (Böhnisch/Lenz/Schröer 2009: 58).
Im Sinne der Herstellung einer stabilen Identität ist hier insbesondere die Soziale Arbeit gefragt, um am Identitätsverständnis von und mit Jugendlichen zu arbeiten. Aus sozialpädagogischer Perspektive ist der neue Narziss, der sich im Konsum und der eigenen Spiegelung im Anderen realisiert, Grundstein einer instabilen Identität. Damit junge Menschen eine stabile Identität entwickeln können, müssen die eigenen Verhaltensweisen – die aus dem Unbewussten aufbrechen können – reflektiert werden. Grundbedingungen für ein offenes Identitätsprojekt, in dem Lebenssinn entwickelt werden kann, und „ein Ausgleich von äußeren Anforderungen und inneren Anspruchshaltungen möglich ist“, sind laut Keupp (1997: 19-20 zit. in Kahlert/Mansel 2007: 10) das Vorhandensein materieller Ressourcen und einer sinnvollen Tätigkeit, die Verfügbarkeit von sozialen Ressourcen und die Fähigkeit Netzwerke zu pflegen. Die Fähigkeit „Regeln, Ziele und Formen des ‚richtigen Lebens’ auszuhandeln, also die subjektive Bereitschaft zu demokratischer Willensbildung sowie Fähigkeiten der Konfliktregulierung“ (ebd.). Dafür benötigt der Mensch „individuelle Gestaltungskompetenz und die Bereitschaft, sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen. Und vor dem Hintergrund dieser Fähigkeiten braucht der Mensch das Gefühl von Vertrauen in das Leben und seiner ökologischen Voraussetzungen“ (ebd.).


3.1 Menschen brauchen Räume der Handlungsfähigkeit
In der Moderne bestand die Idee des Bildungsmoratoriums, das einen Gegensatz zwischen Bildung und ökonomischer Logik schuf und somit in einem Spannungsfeld zur Arbeitsgesellschaft stand. Nach diesem Moratorium, mit eigener Entwicklungs- und Qualifizierungslogik, sollte die Eingliederung in die Arbeitsgesellschaft geschehen. In der Zweiten Moderne können sich Jugendliche hingegen durch Konsum an der Arbeitsgesellschaft beteiligen und das Bildungsmoratorium, das Jugendlichen einen freien Raum der Entwicklung bot und sie von der Arbeitsgesellschaft schützen sollte, hat an Kraft eingebüßt. Durch den Wegfall des Moratoriums werden Jugendliche immer früher Teil der Arbeitsgesellschaft und sind mit der Entgrenzung von Bildung und Arbeit konfrontiert (vgl. Karl/Schröer 2006: 49). Durch die Verschiebung der Altersstrukturen stehen junge Menschen durch die Entgrenzung von Bildung und Arbeit vor denselben Anforderungen wie Erwachsene. Zur Bewältigung dieser Aufgabe braucht der junge Mensch kulturelles Kapital, um sich auf die gesellschaftlich vermittelten Prozesse einzulassen und Räume, in denen er Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit erfahren kann, um so die Entwicklung einer stabilen Identität zu unterstützen.

Die Soziale Arbeit kann durch offene Handlungsräume die Möglichkeit bieten, Verhaltensweisen, die durch die Sozialisation geprägt sind, zu hinterfragen. Die möglicherweise abweichenden Verhaltensweisen von Jugendlichen können im Sinne der Handlungsfähigkeit betrachtet und sozial abweichende Handlungen können „als Projektionen und Abspaltungen vor dem Hintergrund sozial gestörter Primärbeziehungen interpretiert“ (Böhnisch 2001: 53) werden. Abweichende Verhaltensweisen werden durch die Entwicklung im Kleinkind- und Jugendalter verschieden stark geprägt und der Mensch hat etwas Ursprüngliches, sich Widersetzendes in sich, das den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen widersprechen kann.

Soziale Arbeit sollte mit solchen Verhaltensweisen umgehen können, den Entwicklungshintergrund der Jugendlichen achten und den Menschen gleichzeitig alternative Bewältigungsstrategien zeigen, die unter der Kontrolle der Person stehen und nicht aus dem Unbewussten aufbrechen.

Soziale Arbeit kann für Jugendliche solche Räume schaffen, in denen sie nach Handlungsfähigkeit streben können. Mit diesen Räumen sind Orte in der Lebenswelt des Menschen gemeint, die sozial konstruiert sind und somit durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe geschaffen werden, jedoch auch einen Platz im physischen Raum einnehmen und dadurch mit realen Orten verbunden sind. Soziale Arbeit kann in diesen Räumen dazu anleiten, Copingstrategien zu entwickeln, um dadurch positive Handlungserfahrungen zu machen. Solche Räume der Bewältigung werden auch im Milieu gefunden und Soziale Arbeit kann hierbei das soziale Umfeld in seiner positiven Sicht anerkennen, da Milieus den Menschen Sicherheit und gemeinsame Wertvorstellungen bieten. Die „Millieugeborgenheit“ darf jedoch nicht auf der Abwertung von anderen Menschen gegründet sein (vgl. Böhnisch 2001: 60). Die Soziale Arbeit muss dem Milieuaspekt eine pädagogische Gewichtung geben, um auf Abwertungstendenzen, die im Sinne der Handlungsfähigkeit notwendig werden, reagieren zu können.

Es zeigt sich, dass Sicherheit in der Zweiten Moderne immer weniger durch den Sozialstaat vermittelt wird und Räume der Handlungsfähigkeit daher an Bedeutung gewinnen. Die Soziale Arbeit sollte in dieser Entwicklung eine starke politische Funktion übernehmen. Sie hat die Möglichkeit, die Sachzwänge und Anforderungen der Zweiten Moderne aufzudecken und die Menschen nach außen zu vertreten. Sie steht daher vor der Herausforderung als eigenständige Profession außerhalb von „Lebensweltorientierung“ und „Case Management“ gesellschaftstheoretische Modelle zu etablieren, um dadurch politisch angebunden argumentieren und handeln zu können.


Literatur
Böhnisch, Lothar (2001): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 3. Auflage. München/Weinheim.
Böhnisch, Lothar / Schröer, Wolfgang (2007): Politische Pädagogik. Eine problemorientierte Einführung. München/Weinheim.
Böhnisch, Lothar / Lenz, Karl / Schröer, Wolfgang (2009): Sozialisation und Bewältigung. Eine Einführung in die Sozialisationstheorie der zweiten Moderne. München/Weinheim.
Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband der Sozialen Welt 2. Göttingen.
Castel, Robert / Dörre, Klaus (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Franfkurt/New York.
Dörre, Klaus (2009): Prekarität im Finanzmarkt- Kapitalismus. In: Castel, Robert / Dörre, Klaus (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Franfkurt/New York, S. 35-64.
Kahlert, Heike / Mansel, Jürgen (Hg.) (2007): Arbeit und Identität im Jugendalter. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Strukturkrise aus Sozialisation. München/Weinheim.
Karl, Ute / Schröer, Wolfgang (2006): Fördern und Fordern – Sozialpädagogische Herausforderungen im Jugendalter angesichts sozialpolitischer Umstrukturierungen. In: Spies, Anke / Tredop, Dietmar (Hg.): „Risikobiografien“. Benachteiligte Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Förderprojekten. Wiesbaden, S. 41-56.
Lassnigg, Lorenz / Vogtenhuber, Stefan (2009): Bildungsstatus und Bildungsherkunft im Sekundarbereich. In: Specht, Werner (Hg.): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2009. Band 1, Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren. Wien, S. 152-153.
Mead, George Herbert / Murphy, Arthur Edward (1932): The Philosophy of the Present. New York.
Schulz, Theodore W. (1986): In Menschen investieren. Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität. Tübingen.


Über den Autor

Michael Proksch

Michael Proksch BA, Jg. 1989
m.proksch@gmx.at

2009 bis 2012 Studium der Sozialen Arbeit an der FH St. Pölten. Seit 2012 Studium des Master in Sozial- und Integrationspädagogik an der UNI Klagenfurt.