soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 10 (2013) / Rubrik "Geschichte der Sozialarbeit" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/286/477.pdf


Alexander Brunner:

Normalisierung als Diskurs der entstehenden Fürsorge in Österreich 1900-1935


1. Einleitung
Der vorliegende Artikel hat sich zur Aufgabe gemacht anhand eines diskursanalytischen Zugangs die Entstehung und Entwicklung des Fürsorge- und Wohlfahrtsdiskurses in Österreich im Zeitraum vom Übergang zum Zwanzigsten Jahrhundert bis Mitte der Dreißigerjahre an einigen Beispielen zu verfolgen und zu analysieren. Den theoretischen Hintergrund der Analyse bildet das von Jürgen Link in seinem Buch „Versuch über den Normalismus“ (Link 2006) entwickelte Modell von Normalismus.

Der gewählte Zugang hebt bewusst nicht einzelne zentrale Wissenschaften, wie die Medizin oder die Pädagogik, hervor, vielmehr handelt es sich dabei um eine Analyse des Geflechts der unterschiedlichen Expert_innen, Wissenschaften, Institutionen und Praktiken, die mit ihren Aussagen und Methoden an der Hervorbringung dessen arbeiten, was zunehmend im Laufe der Jahrzehnte das moderne Fürsorge- und Wohlfahrtswesen konstituiert. Der Blickpunkt liegt dabei auf den unterschiedlichsten Strategien der Normalisierung, die damit verbunden waren. Beispielhaft soll diese sowohl auf der Ebene des Individuums als auch der Bevölkerung dargelegt werden, analog zu Foucaults Feststellung, dass sich die Biomacht, „die Macht zum Leben“, rund um die „Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung“ (Foucault 1991: 166) organisiert hat.

Der genannte Zeitraum wurde unter anderem deshalb gewählt, weil die Vermutung nahe liegt, dass sich hier entscheidende Veränderungen vollzogen haben, die Vorläufer bis weit in das Neunzehnte Jahrhundert haben. Die Blüte des Fürsorgediskurses ist aber gewiss in Österreich mit dem beginnenden Zwanzigsten Jahrhundert anzusetzen, da dieser Diskurs gerade zu dem Zeitpunkt aus unterschiedlichsten Richtungen an Bedeutung gewinnt.


2. Theoretische Grundlage – der Normalismus in Anschluss an Jürgen Link1
Jürgen Link betont in seiner Untersuchung „Versuch über den Normalismus“ (Link 2006) vor allem den historischen Charakter dieses Phänomens. Damit schließt er eng an Michel Foucaults Normalisierungstheoremen an, die er erweitert und präzisiert. Bei Foucault sieht er mehr eine Konzentration auf die „protonormalistische Dressur“ als auf „entwickelt-normalistische Flexibilisierung und Selbst-Adjustierung“ (ebd.: 121), die Foucault wohl auch kennt, aber nicht immer präzise herausarbeitet. Auf die wichtige Unterscheidung zwischen Protonormalismus und Flexibilitätsnormalismus, die Link einführt, werde ich später nochmals eingehen. Für ihn ist zunächst zusammengefasst „die Normalität nicht als ahistorische, jederzeit parate, anthropologisch konstante Kategorie aufzufassen, sondern als historisch spezifische, von der westlichen Moderne nicht ablösbare Emergenz seit dem 18. Jahrhundert.“ (ebd.: 39)

Links Versuch über Normalismus präsentiert zwei wichtige analytische Unterscheidungen, die sowohl für die theoretische als auch für die praktische Analyse von Normalisierungsdiskursen von hoher Relevanz sind. Unterschieden wird zwischen Diskursebenen einerseits und normalistischen Strategien andererseits, genauer gesagt unterscheidet er drei Diskursarten rund um den Normalismus, die miteinander in Beziehung stehen. (ebd.: 19f) Zunächst ist der Elementardiskus zu nennen, d. h. die in der Lebenswelt eingelassenen alltäglichen Sedimente von Normalität, die die Wahrnehmung und Beurteilung von Normalität und Anormalität bestimmen. Unser Wahrnehmen, Urteilen und Sprechen ist voll von Normalitätsaussagen. Zahlreiche Formulierungen des Alltags zu allen möglichen Zuständen, Dingen, Ereignissen des täglichen Lebens prägen und strukturieren seit der Etablierung des Normalitätsbegriffs in der Alltagssprache vor etwa hundert Jahren die Wahrnehmung und Orientierung des modernen Menschen in der Welt.

Etwas älter sind die Spezialdiskurse, d. h. vor allem die Diskurse der Wissenschaften, die mit Normalität operieren bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Entwicklung angefangen haben, die von ihnen untersuchten Erscheinungen in einem Feld von Normalität einzuschreiben. Diese Diskurse stammen sowohl aus den Naturwissenschaften als auch aus den Humanwissenschaften und strukturieren das Feld der Normalität entlang verdateter Aussagen über Häufigkeiten, Verteilungen und Abweichungen in einem Feld, das durch Differenz und Homogenität gekennzeichnet ist. Die Entwicklung der Statistik im 18. und 19. Jahrhundert spielt dabei eine zentrale Rolle. Das „Normale“ taucht „tatsächlich zuerst im Zusammenhang mit moderner Massenproduktion und moderner Erhebung von Massendaten sowie der statistischen Analyse solcher Massendaten seit dem 18. und verstärkt seit dem frühen 19. Jahrhundert auf.“ (ebd.: 20) Auch der Diskurs der Fürsorge ist ein solcher Spezialdiskurs, der Wissen über Normalität, Abweichung, die Wiederherstellung von Normalität und die Normalisierung von Erscheinungen zur Verfügung stellt.

Zuletzt fungieren sogenannte Interdiskurse als Bindeglied. Vor allem über unterschiedlichste mediale Kanäle (Fachzeitschriften, Zeitungen, Boulevardblätter, Radiosendungen und weitere Formate) infiltrieren die Spezialdiskurse die Alltagsdiskurse über Normalität. Neben medialen Kanälen sind es aber auch Kontakte mit Professionist_innen, die hier wesentliche Normalisierungsarbeit leisten. Sie transformieren das Wissen der Spezialdiskurse in die alltägliche Selbstwahrnehmung von Subjekten, die diese zu bestimmten Setzungen in ihrem Verhältnis zu sich selbst, ihren Vorstellungen, Gefühlen, dem Körper auffordern.

Neben den verschiedenen Diskursebenen führt Link zur Unterscheidung weiters zwei strukturelle und auch historisch unterschiedliche normalistische Strategien analytisch an. Zu Beginn der Entwicklung des Normalismus ab dem 18. Jahrhundert steht aus seiner Sicht der sogenannte Protonormalismus. Stellt man sich die Normalität als eine statistische Verteilung entlang der Gaußschen Normalverteilung mit einem Mittelwert und davon rechts und links abfallenden Kurven vor, so werden im Rahmen dieser Strategie von Normalität auf beiden Seiten der Normalverteilung strikte Grenzen eingezogen. Diese Normalitätsgrenzen trennen klar das Normalitätsfeld und sein Außen voneinander ab. „Die Fixierung einer stabilen Grenze auf dem prinzipiell homogen Kontinuum Normalität-Anormalität kann aber nur durch die Zuschreibung semantisch und symbolisch diskontinuierlicher Qualitäten in Verbindung mit materiellen Grenzen erfolgen.“ (ebd.: 124) Es gibt kein mathematisches Kriterium für die Grenzen, wenn auch oft mit Standardabweichungen und ähnlichem argumentiert wird. Zum Beispiel ist die Setzung, dass jemand in der Standardverteilung von Intelligenz mit einem IQ unter 50% geistig behindert oder mit einem IQ über 130% hochbegabt ist, eine semantische Setzung.

Das Normalfeld wird wohl auch durch Verdatung, Häufigkeiten und den diagnostischen Blick auf das Soziale errichtet. Seine Grenzen werden jedoch aufbauend auf Diskursen von Expert_innen normativ gesetzt. Vielfach fallen daher bei dieser Art von Normalismus Normalität und Normativität zusammen. Subjekttheoretisch setzt diese Strategie auf Autorität und Außensteuerung. Dem Subjekt werden von einem Außen klare normative Grenzen vorgegeben, an denen es sich zu orientieren hat bzw. an denen es von Expert_innen orientiert wird. Fürsorger_innen und andere Expert_innen, wie Mediziner_innen, Pädagog_innen, Jurist_innen, Bevölkerungswissenschaftler_innen und Psycholog_innen, leisten dies im Rahmen der Etablierung der modernen Fürsorge.

Anders verhält es sich beim sogenannten flexiblen Normalismus, der dynamischer und weniger von außen oktroyierend, sondern mehr selbststeuernd ist und sich erst im späteren 20. Jahrhundert generiert. In diesem Fall ist ein autonomes Subjekt gefordert, das sich flexibel zu den angebotenen Normalitätsgrenzen verhalten kann. Die Grenzen sind variabel, man könnte parallel zum Normalfeld von einer Art Grenzfeld sprechen, innerhalb dessen Grenzen ausgelotet, geweitet aber auch verengt und verschoben werden können. Normalität generiert sich vielmehr durch Häufigkeiten und der subjektiven Prüfung anhand gesellschaftlich angebotener Kriterien – ist man noch normal oder schon gefährdet? Normalität und Normativität klaffen auseinander, was normal in diesem Sinne ist muss nicht unbedingt normativ erwünscht sein.

Beide Strategien können nebeneinander bestehen bzw. kann eine Strategie in die andere umschlagen, wobei dem Umschlagen Grenzen gesetzt sind, weil die Subjekte nicht so leicht von einer Strategie auf die andere „umlernen“. Vor allem im Bereich des flexiblen Normalismus ist eine Tendenz zum Umschlag in eine protonormalistische Strategie beobachtbar, wenn die gesellschaftliche Denormalisierungsangst einen gewissen Grenzwert überschreitet. Solche Grenzwerte können sich sowohl statistisch generieren (z. B. 30% der Kinder haben Übergewicht und es besteht Handlungsbedarf) als auch etwa durch mediale Wahrnehmung (z. B. es gibt immer mehr Kriminalität von Jugendlichen und es braucht ein schärferes Jugendstrafgesetz). Dabei unterscheidet sich Link insofern von Foucault, als er sich mehr für die Toleranzgrenzen interessiert, während es Foucault mehr um die Mitte der Normalität, statistisch würde man sagen den Durchschnitt, geht. „Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet.“ (Foucault 1991: 172, kursiv von A.B.)

Jürgen Link hat wohl das am besten ausgearbeitete Modell von Normalisierung vorgelegt, das vielfach Anknüpfungspunkte für die Soziale Arbeit bietet. Sowohl die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Ebenen des Diskurses über Normalität als auch die Unterscheidung zwischen normalistischen Strategien lässt sich für die Analyse von Prozessen in der Entwicklung moderner Sozialer Arbeit nutzen.


3. Historischer Abriss der Entwicklungen im frühen 20. Jahrhundert
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war in Österreich sowie auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern ein starker Aufbruch in einem Bereich, der damals (soziale) Fürsorge genannt wurde, zu verzeichnen. Sowohl die Industrialisierung als auch die damit verbundene Urbanisierung verschärfte die „soziale Frage“ enorm und wurde politisch im späten 19. Jahrhundert durch die Sozialversicherungsgesetzgebung etwas gemildert. Trotzdem waren viele Menschen von unterschiedlichsten Notlagen und Armut betroffen. Verbunden damit war ein neues Bewusstsein und Bedürfnis für diesen Not leidenden Teil der Bevölkerung Hilfen anzubieten, die sich in den Fürsorgeaktivitäten und -neuerungen des beginnenden 20. Jahrhunderts manifestierten. Es bildeten sich zahlreiche Initiativen, z. B. zum Schutz von Müttern und Säuglingen aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit, die sich in Mütterberatungsstellen und der Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge institutionalisierten. Wichtige Kongresse wurden erstmals abgehalten, wie die großen Kongresse für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Wien 1907 und 1913. Es kam zur Institutionalisierung von Hilfen, wie etwa den Jugendämtern – in Wien ab 1913. Zahlreiche neue Gesetze wurden erlassen: 1916 erfolgte ein Gesetz über Generalvormundschaft, 1918 das Verbot von Kinderarbeit durch das Kinderarbeitsgesetz, 1919 das Ziehkindergesetz, das vor allem Waisenkinder und uneheliche Kinder schützen sollte und 1928 wurde schließlich ein Jugendgerichtsgesetz beschlossen. Die unterschiedlichsten Diskurse aus den Bereichen Justiz, Medizin, Pädagogik, Psychologie, Bevölkerungswissenschaften – um nur die wichtigsten zu nennen – nahmen sich dem Thema Fürsorge sowohl in Form von Praxen als auch in Forschung und Theoriebildung an. Damit verbunden war eine gewisse Professionalisierung der Fürsorge – und damit ein neues Berufsfeld für Frauen im Entstehen. Erste Ausbildungskurse fanden, von der österreichischen Pionierin der Fürsorgewissenschaft Ilse von Arlt ins Leben gerufen, in Wien ab 1912 statt. Die Stadt Wien rief ab 1919 eine eigene Ausbildung für Fürsorgerinnen ins Leben. Außerdem kam es zur Einrichtung publizistischer Organe, wie der „Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge“ (ab 1923 unter dem Titel „Zeitschrift für Kinderschutz, Familien- und Berufsfürsorge), die ab 1906 erschien, in der führende Persönlichkeiten der damaligen Zeit zu den unterschiedlichsten Themen der Fürsorge publizierten. (vgl. Brunner 1996)

„Insgesamt kann gesagt werden, dass in den meisten west- und mitteleuropäischen Städten nach den Verheerungen des Weltkrieges und den bevölkerungspolitischen Diskussionen ein dichtes Netz fürsorgerischer Einrichtungen geschaffen wurde, das sich primär auf die Unterschichten und insbesondere auf die „nicht-respektablen“ Teile der Arbeiterschaft erstreckte... Die Betonung der prophylaktischen Aufgaben der Fürsorge führte zu einer Konzentration des fürsorgerischen Interesses auf die Kinder und Jugendlichen… Über ihre fürsorgerische Erfassung und Beobachtung gelangte die Masse der Familien erstmals systematisch in den Blick der Sozialfunktionäre.“ (Sieder 1987: 222f)

Es wird hier deutlich, dass sich neben dem Sozialversicherungssystem ein weiteres Netz konstituiert, das, wie Sieder schreibt, die „nicht-respektablen Teile der Arbeiterschaft“ in den Blick nimmt und in einer Kombination von Hilfe und Kontrolle pädagogisierend, psychologisierend, medizinalisierend und nicht zuletzt individualisierend das Feld der Sozialhilfe (Fürsorge) etabliert. Um auf eine andere Art zu veranschaulichen, welcher Sprung sich von der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bis in die Zwanzigerjahre vollzog, lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung der Ausgaben der Gemeinde Wien für Fürsorgezwecke von der Vorkriegszeit bis zur Mitte der Zwangzigerjahre. Dazu die Sozialdemokratin Marie Bock 1929: „Die Gemeinden wenden heute einen viel größeren Teil ihrer Einnahmen für Fürsorgezwecke auf. Das Land Wien, wo der Einfluß der Arbeiterschaft am größten ist, hat im Jahre 1928 den dritten Teil der Gesamteinnahmen für Wohlfahrtspflege ausgegeben, gegenüber der gutchristlichen Gemeindeverwaltung im Jahre 1913, wo nur ein Zehntel aller Einnahmen für dieselben Zwecke ausgegeben wurde.“ (Bock 1929: 6) Gleichzeitig vollzieht sich der Übergang von der „Wohltäterei“ zu einem staatsbürgerlichen Recht. Noch einmal Marie Bock: „Heute wird von Fürsorgepflicht der öffentlichen Körperschaften und von Fürsorgerecht der Staatsbürger gesprochen.“ (ebd.: 4, Orig. gesperrt, fett im Orig.)

Ein anderes Indiz ist die weitläufige und biopolitisch die gesamte Bevölkerung umfassende Etablierung von Fürsorgezweigen in diesem Zeitraum, wobei Fürsorge damals viel umfassender verstanden wurde als das Gebiet, das in unseren Tagen Soziale Arbeit abdeckt. Dabei könnte das Motto lauten – Fürsorge von der Wiege bis zur Bahre: Kinderfürsorge, Jugendfürsorge, Erwachsenenfürsorge, Gesundheitsfürsorge, Fürsorge für behinderte und psychisch kranke Menschen.

Diese Liste ließe sich inhaltlich noch weiter ausführen, zum Beispiel in Spezialisierungen wie Psychopathenfürsorge, „Krüppel“-fürsorge oder Berufsfürsorge. Wesentlich ist jedoch, dass sich hier innerhalb weniger Jahrzehnte ein dichtes Netz von Praxen etablierte, begleitet von einem weiten wissenschaftlichen Diskurs unterschiedlicher Disziplinen und zahlreicher interdiskursiver Verflechtungen von Theorie und Praxis. Bei aller Verschiedenheit lässt sich aber zeigen, dass diese theoretischen Aussagen und praktischen Umsetzungen unter einem gewissen Gesichtspunkt Ähnlichkeiten aufweisen, die sich nach der Logik der protonormalistischen Strategie der Normalisierung beschreiben lässt. Analysiert man die einschlägigen Publikationen aus jener Zeit rund um den Gegenstand Fürsorge bzw. anknüpfender Felder, wie Pädagogik, Psychologie, Bevölkerungswissenschaft, seien es Fachbücher oder Zeitschriftenartikel (hier vor allem die Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge), so eröffnet sich ein diskursives Feld, das unter anderem durch eine starke Dichotomie von bestimmten Begrifflichkeiten gekennzeichnet ist, wie unten an praktischen Beispielen auf den Ebenen des Individuums und der Bevölkerung gezeigt werden wird: (Brunner 1996)

normal – abnorm
normal – asozial
normal – pathologisch
normal – degeneriert
höherwertig – minderwertig
medizinischer, heilpädagogischer, psychologischer und eugenischer Diskurs
wert – unwert
lebenswert – lebensunwert
produktiv – unproduktiv
bevölkerungspolitischer, ökonomischer, eugenisch-rassistischer Diskurs
sittlich – unsittlich
erzogen – verwahrlost
pädagogisch, juristisch, moralischer Diskurs

Tabelle 1: (Brunner 1996)

Nicht nur aus den Gegensatzpaaren, in denen die Begrifflichkeit der „Normalität“ schon in der Benennung zum Tragen kommt, kündigt sich hier ein binärer Code an, der Phänomene und Handlungen strikt entweder dem einen oder dem anderen Bereich zuordnet. Gemäß einer protonormalistischen Strategie geht es dabei um ein Normalfeld im Sinne der Gaußschen Normalverteilung mit klaren Normalitätsgrenzen und damit Ab- und Ausgrenzungen, die über eine starke normative Ladung verfügen. Dies wird in Begriffspaaren, in denen „Wert“ als Begrifflichkeit vorkommt, explizit gemacht, bildet jedoch auch den Hintergrund anderer Unterscheidungen, wie etwa erzogen – verwahrlost, produktiv – unproduktiv oder normal – degeneriert. Dementsprechend sind die zeitgenössischen Diskurse auch stark darum gruppiert, Normalitätsgrenzen zu definieren und zu fixieren. Die Spielräume sind dabei nicht allzu weit, sondern entlang einer „Entweder-Oder-Logik“ relativ strikt, gesetzt. Ich möchte dieses normalistische Vorgehen an zwei Beispielen deutlich machen, die sich einerseits auf das Individuum beziehen und andererseits auf die Bevölkerung als Gesamtes.


4. Normalisierung des Individuums durch Fürsorgemaßnahmen
Die positive Norm, an der sich die Unterscheidung zunächst festmacht, ist der normale, gesunde, sittliche und produktive Bürger (bzw. die Bürgerin), jeder/jede andere, der/die einem dieser Kriterien nicht entspricht, wird jenseits der Normalitätsgrenze angesiedelt und dementsprechend „behandelt“. Hier zeigt sich gleichzeitig die Ambivalenz der sozialen Fürsorge. Einerseits mit ihrem Eintreten für diejenigen, die aus der Norm fallen und auf unterschiedliche Weise Hilfe und Unterstützung benötigen. Andererseits steht die soziale Fürsorge als Instrument der Diagnose, Differenzierung und Aussonderung im breiten Feld der Fürsorgemaßnahmen. Jede neue Erfassung von „Abweichung“, unabhängig von ihrer Art und der Entwicklung dementsprechender Fürsorgeleistungen, ist zugleich immer auch eine Ab- und Ausgrenzung aus dem Feld der imaginierten Normalität, wobei dieses Normalitätsfeld relativ eng und mit scharfen Grenzen gezogen wird, ganz entsprechend einer protonormalistischen Strategie. Nicht umsonst blüht in dieser Zeit auch das Geschäft der Diagnose, d. h. die immer neue Suche und Definition von Grenzen der Normalität, wobei hier analog zu Foucaults Analysen zur Diskursivierung von Sexualität in dieser intensiven Auseinandersetzung auch immenses Wissen über Individuen hinsichtlich Normalität bzw. Anormalität produziert wird.

Ich möchte diesen diagnostisch normalisierenden Diskurs auf der Ebene des Individuums kurz anhand einer führenden Persönlichkeit des Fürsorgediskurses im ausgewählten Zeitraum veranschaulichen – Erwin Lazar. Erwin Lazar hatte die typische Vorbildung für die damalige „Heilpädagogik“, er war Mediziner, oder genauer Pädiater. Im Jahre 1911, am 4. November (vgl. Z.f.K.J. Nr. 12, 1911: 364; Nr. 3, 1912: 92ff), wurde die neue Wiener Kinderklinik eröffnet. Diese Kinderklinik verfügte als erste der Welt über eine „Heilpädagogische Station“, zu deren Leiter Lazar bestellt wurde. Gleichzeitig war er Mitbegründer des „Komitees für Jugendgerichtshilfe“ in Wien, zu dessen ersten Vizepräsidenten er gewählt wurde (Z.f.K.J. Nr. 10, 1910: 273ff; Nr. 11, 1911: 334; Nr. 12, 1911: 361f). Lazar habilitierte sich 1917 im Fach Kinderheilkunde, war ab 1918 heilpädagogischer Konsulent im neu errichteten Ministerium für soziale Verwaltung und ab 1929 tit. ao. Professor für Kinderheilkunde.

Lazar, der in der Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge mit zahlreichen Artikeln vertreten war und damit zur interdiskursiven Verbreitung „heilpädagogischen“ Wissens wesentlich beitrug, beschäftigte sich neben grundsätzlichen heilpädagogischen Fragen weiters mit der Anstaltsreform, Berufsberatung und mit Fragen des Hilfsschulwesens. Er entfaltete eine reiche publizistische Tätigkeit; 1925 erschien eine Art Kompendium, “Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik für Erzieher, Lehrer, Richter und Fürsorgerinnen“ (Lazar 1925), auf das aus Platzgründen hier nicht eingegangen werden kann. Interessant ist an der Person Erwin Lazars, dass sich bei ihm geradezu idealtypisch verschiedene Elemente des damaligen Fürsorge-, speziell des Jugendfürsorge- und „Verwahrlosten“-diskurses vereinigen, die Verbindung von Medizin, Justiz und Pädagogik. Lazar war ein Pädiater, der als Heilpädagoge stark psychiatrisch orientiert war und gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit mit der Justiz favorisierte – Elemente, die exemplarisch in Artikeln der Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge mit Titeln wie „Ärztliche Probleme in der Fürsorgeerziehung“ (Z.f.K.J. Nr. 5, 1912: 150ff) oder „Psychiatrie in der Jugendfürsorge“ (Z.f.K.J. Nr. 8/9, 1916: 213ff) hervortreten.

Wie bei Theodor Heller, einem weiteren zeitgenössischen, österreichischen Heilpädagogen, steht bei Erwin Lazar das „defekte“ Individuum im Mittelpunkt. „Ursachen“ für „Verbrechertum“ und „Verwahrlosung“ sind auch bei ihm primär „psychische Abnormität“ und mangelnde Erziehung. „Zahlreiche Umstände, die wir als die Ursachen des Verbrechens kennen gelernt haben, sind demnach im Individuum selbst zu finden, seien es angeborene, seien es anerzogene.“ (Z.f.K.J. Nr. 5, 1912: 151) Als Gegenmittel wird die „rationelle Erziehung der moralisch gefährdeten Jugend“ (ebd.) empfohlen; die Frage, ob „Verwahrlosung“ und Kriminalität jenseits einer vermeintlich „ethisch schwachen“ Veranlagung einzelner Individuen auch noch andere Ursachen haben könnte, wird hier kaum gestellt.2 „Maßgebend bleibt allein, ob der Jugendliche psychisch gesund ist oder nicht, ob die intellektuelle oder die ethische Seite seines Geisteslebens defekt ist, ob seine Psyche durch Verwahrlosung oder durch Verleitung gelitten hat.“ (ebd.: 153) Hier werden aufgrund von Erfahrungen mit „abweichenden“ Jugendlichen die Grenzen zwischen psychisch gesund und intellektuell oder moralisch defekt gezogen.

Allerdings bedarf es des diagnostischen Blicks, um die Normalen von den Abnormalen zu scheiden, denn „es sollte ja gar nicht behauptet werden, daß alle diese vielen Abnormen geisteskrank, verrückt sind, sondern lediglich, daß sie besondere Menschen sind, welche zwar viele Züge aufweisen, die sich auch bei völlig Normalen finden, daß sie aber der besonderen Eigenschaften wegen einer anderen Beurteilung und Behandlung bedürften. Daß der nicht psychiatrisch Geschulte an ihnen vorüberging, wundert uns nicht mehr.“ (Z.f.K.J. Nr. 8/9, 1916: 213, kursiv von A.B.) Individualität wird zur „Krankheit“, jeder, der das Ideal bürgerlicher Normalität in Handeln und Denken verlässt, ist entweder geisteskrank oder zumindest psychisch oder moralisch abnorm.

Einige von Lazars Formulierungen, etwa über die Funktion des Psychiaters, lassen geradezu Foucaultsche Alpträume wahr werden: „Von ihnen befruchtet (den Psychiatern, Anm. A.B.), wird sich das Urteil des Richters in anderer Art entwickeln, werden die Pädagogen ungeahnte Kräfte gewinnen. In ihrem Zeichen wird das Gesetz siegen.“ (ebd.: 216) Bei Foucault in „Überwachen und Strafen“ wird dieser Prozess mit einem guten Schuss Übertreibung nicht in der Euphorie des Fortschritts, wie bei Lazar, sondern in der Stimmung der Angst und Paranoia so beschrieben: „Wir leben in einer Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft ein jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen.“ (Foucault 1998: 392f)

Es war aber nicht nur der psychiatrische Blick, der diagnostisch das Feld von normal/anormal durchpflügte. Es war auch die Psychologie, die in diesen Jahren einen ungeheuren Aufschwung erlebte und in zahlreiche Praxisfelder Einzug hielt – unter anderem auch in die Fürsorge. (vgl. dazu Brunner 1996: 493-527) Die Wiener Psychologie erschloss sich den Bereich der Fürsorge als Forschungs- und Tätigkeitsfeld in den Zwanzigerjahren, etwa auch hinsichtlich des Themas Armut und deren Auswirkungen, programmatisch sei nur die Schrift „Kindheit und Armut, Psychologische Methoden in der Armutsforschung und Armutsbekämpfung, Psychologie der Fürsorge I“ (Hetzer 1929) von Hildegard Hetzer, Mitarbeiterin von Charlotte Bühler, erwähnt. Kritische Anmerkungen zu diesen Entwicklungen findet man wieder bei Siegfried Bernfeld: „Noch vor wenigen Jahren war Psychologie die Angelegenheit der Fachleute und Studenten, höchstens noch einer Gruppe von Lehrern... Die Psychologie dringt täglich weiter in das öffentliche Leben ein: im Gerichtssaal, im Strafvollzug, im Jugendamt, in der Schule, in der Eheberatung spielt das psychologische Gutachten eine immer größere Rolle. Graphologie, Reklamepsychologie, Psychotechnik gewinnen im Wirtschaftleben einen immer größeren Raum.“ (Bernfeld 1930/1971: 497f) Auch die Psychologie wird zu einem Instrument der Normalisierung, indem sie durch ihre Diagnostik die Normalen von den Anormalen scheidet.


5. Normalisierung der Bevölkerung durch Fürsorgemaßnahmen
Für den genannten Zeitraum ist auch die Orientierung an biopolitischen Denkfiguren im Sinne einer Kombination von Bevölkerungspolitik, Fürsorge und Normalisierung zu verzeichnen. Thema ist vor allem die sogenannte „Menschenökonomie“3, die Julius Tandler, einer der führenden Proponenten der damaligen Diskussion, in eine bevölkerungswissenschaftliche Terminologie kleidet:

„Alle jene Ausgaben nämlich, welche die Reproduktionskraft des Volkes, sei es in quantitativer, sei es in qualitativer Beziehung erhöhen, seine Produktions- und Arbeitsfähigkeit erhalten oder wiederherstellen, bezeichnen wir als produktive bevölkerungspolitische Ausgaben.“ (Tandler 1924: 16)

Der „bevölkerungswissenschaftliche“ bzw. „bevölkerungspolitische“ Diskurs war mit militärischen (Schwächung der Wehrkraft), medizinisch-ökonomischen (Säuglingssterblichkeit und ihr „volkswirtschaftlicher“ Schaden), eugenisch-sozialhygienischen („minderwertiges“ und „unwertes“ Leben) und rassistisch-nationalistischen („Umvolkung“) Diskursen verzahnt und immer wieder auch mit der Fürsorge- und Wohlfahrtsfrage, als Mittel einer rationalen Bevölkerungspolitik. (vgl. Brunner 1996: 529-560)

So waren die mit der Jahrhundertwende ansetzenden Bestrebungen zur Senkung der Säuglingssterblichkeit sicherlich von einem breiten humanitären Impuls getragen, allerdings gab es auch eine andere Seite, die besonders im Krieg deutlich wurde. So der Vorstand der Berufsvormünder in Wien, Josef Gold, im Jahr 1916:

„Geburtenrückgang und Säuglingsfürsorge werden gewöhnlich in einem Atem genannt...Zweck der Bekämpfung des Geburtenrückgangs ist es, die Geburtlichkeit des Volkes derart zu regeln, daß es gegenüber anderen Völkern mit größerer Geburtlichkeit sein Ansehen, seine Macht behält und vor dem Untergange bewahrt wird. Aufgabe der Säuglingsfürsorge ist es, die Lebenskräfte von den Geborenen in der Zeit der größten Gefährdung, im ersten Lebensjahr, zu erhalten und der in der übergroßen Säuglingssterblichkeit gelegenen sinnlosen Verschwendung von Volkskräften und Volksvermögen vorzubeugen, die Säuglingssterblichkeit als auf das Maß der notwendigen Auslese herabzudrücken, welche ungefähr bei 8 vom Hundert liegt.“ (Z.f.K.J. Nr. 4, 1916: 106)

Solche Maßnahmen kann man in der damaligen Terminologie unter „produktive Bevölkerungspolitik“ einordnen. Es gab allerdings auch noch eine andere Seite, die sich mit der „unproduktiven“ Seite der Bevölkerung, namentlich mit „lebensunwerten“ und im Sinne der Wirtschaft „unwerten“ Teilen der Bevölkerung beschäftigte. „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.“ (Foucault 1991: 165)

Diese Ansätze zur Steuerung und möglichst effizienten Nutzung von Bevölkerung schlagen im Laufe der Zeit in ziemlich konkrete Berechnungen über den Wert und „Unwert“ von Menschen um, worin sich bereits der Umschlag bevölkerungswissenschaftlichen, eugenischen und rassistischen Denkens in die menschenverachtende Praxis des Nationalsozialismus ankündigt. Entlang der protonormalistischen Strategie werden Normalitätsgrenzen zwischen „vollwertigen“ und „minderwertigen“, zwischen gesunden und kranken, zwischen produktiven und unproduktiven sowie „lebenswerten“ und „lebensunwerten“ Gesellschaftsmitgliedern errichtet, wie ein Zitat aus dem Jahr 1934 des oftmaligen Teilnehmers der Tagungen der Gesellschaft für Bevölkerungspolitik und Fürsorgewesen, dem Stockerauer Primarius Rudolf Uhliz, zum Ausdruck bringt. So schreibt er etwa über die „Verluste“ beim Tod eines Kindes: „Es gehen also beim Sterben eines Kindes folgende Werte verloren: 1. der Investitionswert, 2. der rückkapitalisierte Endwert des Lebens, 3. der rückkapitalisierte Wert einer Nachkommenschaft. Diese drei Größen zusammengenommen, ergeben den V e r l u s t w e r t des Kindes.“ (Z.f.K.J. Nr. 3/4, 1934: 23) Auch „Vollwertigkeit“ und „Minderwertigkeit“ lassen sich so „leicht“ berechnen:

Vollwertig ist ein Mensch, welcher voraussichtlich eine Mindestlebensdauer von 54 Jahren vollenden, während dieser Zeit ein gewisses Minimum an Krankheitstagen nicht überschreiten und die übrigen Tage imstande sein wird, einen bestimmten Grad von Quantität und Qualität seiner Arbeitseffekte zu erreichen. Minderwertig ist jedes Kind, welches, wenn auch nur einer dieser Aufgaben voraussichtlich nicht entsprechen wird.“ (ebd., Orig. gesperrt, kursiv von A.B.).

An dieser Stelle tritt das biopolitische und im letzten ökonomische Kalkül voll zutage. Im Sinne der Menschenökonomie wird auch der einzelne Mensch zu einer ökonomischen Variable, zu einem „Investment“ das sich lohnt oder auch nicht.

Zuletzt hat uns die Galionsfigur der Fürsorge- und Wohlfahrtstätigkeit der Zwischenkriegszeit, Julius Tandler, wie bereits erwähnt, zu diesem Thema unerfreuliches hinterlassen. Tandler unterscheidet zwischen einer produktiven und einer unproduktiven Bevölkerungspolitik. Ihr Fundament ist die „Wertung des Menschenlebens.“ (Tandler 1924: 7) Produktiv ist vor allem die Jugendfürsorge, bei ihr rentieren sich die „Aufzuchtsspesen“. Unproduktive bevölkerungspolitische und damit „rein humanitäre Ausgaben“ sind demgegenüber jene für Alte, Gebrechliche, Sieche und „Irre.“ (vgl. ebd.) Es geht hier um den ökonomischen Wert des Individuums, das etwas leistet und nichts kostet, „unwert“ sind demzufolge sowie der ökonomischen Logik folgend jene, die „nichts“ leisten und etwas kosten. Wohin solch eine ökonomische Rationalität führen kann, ist leider auch schon bei Tandler zu lesen:

„Welchen Aufwand übrigens die Staaten für vollkommen lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30 000 Vollidioten Deutschlands diesen Staat 2 Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens im Interesse der Erhaltung lebenswerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr ins Volksbewußtsein dringen. Denn heute vernichten wir vielfach lebenswertes Leben um lebensunwertes zu erhalten.“ (ebd.: 17, Orig. gesperrt, kursiv von A.B.)

Tandler war zwar kein Nationalsozialist, hat aber als führende Persönlichkeit des damaligen Fürsorge- und Wohlfahrtsdiskurses mit den Boden für die Akzeptanz der Vernichtung von „lebensunwerten“ Leben im Nationalsozialismus bereitet.


6. Resümee
Wie dieser (notgedrungen kurze) Streifzug durch die Geschichte der Entstehung der österreichischen Fürsorge zeigt, spielten hier Strategien im Sinne der protonormalistischen Normalisierung eine wichtige Rolle. Über binäre Codes wurde ein Normalfeld von Normalität errichtet, wurden die Grenzen der Normalität durch eine intensive Diskursivierung der Fürsorge durch Wissenschaft und Praxis errichtet, die wiederum ein Eingreifen und „Behandeln“ von „Anormalität“ rechtfertigten. Insofern lässt sich auch die Fürsorge in den breiten Strom der Normalisierung seit dem 18. und 19. Jahrhundert einordnen. Die moderne Soziale Arbeit funktioniert zum Teil weiterhin nach diesen Mechanismen, wenn hier auch mehr flexibel-normalistische Strategien zum Tragen kommen. So ist – um ein Beispiel zu nennen – Alkoholkonsum nicht verboten, doch das Individuum muss selbst die Grenze ziehen, ab wann der Alkoholkonsum noch gesund (normal) ist. Suchtberatung und Suchtprävention „unterstützen“ beim Finden dieser Grenze, die nicht mehr strikt gesetzt wird, sondern eine gewisse Toleranzbreite aufweist. Die Zeiten haben sich geändert, heute dominiert der flexible Normalismus, der an die Soziale Arbeit neue Herausforderungen und Fragen stellt, die es theoretisch und praktisch zu beantworten gilt. Gleichzeitig gilt es immer wieder Tendenzen zum Rückfall in protonormalistische Strategien zu beobachten und zu analysieren.


Verweise
1 Vgl. zur Anwendung dieses Konzepts auf die Sozialpädagogik auch ausführlich die Beiträge von Michael Behnisch (2007) und Udo Seelmeyer (2008).
2 Das auch damals schon eine andere Sicht möglich war, wird an einem weiteren österreichischen Intellektuellen, Siegfried Bernfeld, der sich in einer Kombination aus Psychoanalyse und Marxismus mit Fragen der Fürsorge beschäftigte, deutlich. Vergleich dazu exemplarisch: „Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik.“ (Bernfeld 1929/1970: 198-211)
3 Zum Begründer der Menschenökonomie, dem österreichischen Soziologen Rudolf Goldscheid, vgl. Bröckling (2003).


Literatur
Bernfeld, Siegfried (1929/1970): Der Soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik. In: Bernfeld, Siegfried: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse. Ausgewählte Schriften Band 1. Frankfurt am Main: März Verlag, S. 198-211.
Bernfeld, Siegfried (1930/1970): Die Psychologie in der Arbeiterbewegung. In: Bernfeld, Siegfried: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse. Ausgewählte Schriften Band 2. Frankfurt am Main: März Verlag, S. 497-506.
Brunner, Alexander (1996): Über den Umgang mit Armut, Krankheit und Abweichung. Theorie- und Sozialgeschichte des österreichischen Fürsorge- und Wohlfahrtswesen im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts. Dissertation Universität Wien.
Behnisch, Michael (2007): Sozialpädagogik und Normalität oder: Vom (unsicheren) Leben in der Kurvenlandschaft. In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Gesellschaftspolitik, Heft 1/2007, S. 43-59.
Bock, Marie (1929): Die Fürsorge in Österreich. Wien: Verl. der Organisation d. Sozialdemokratischen Partei Wien.
Bröckling, Ulrich (2003): Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopolitischen Ökonomie. www.eurozine.com/articles/2003-03-28-broeckling-de.html (03.07.2013).
Foucault, Michael (1991): Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1998): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hetzer, Hildegard (1929): Kindheit und Armut. Psychologische Methoden in der Armutsforschung und Armutsbekämpfung. Psychologie der Fürsorge I. Leipzig
Lazar, Erwin (1925): Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik für Erzieher, Lehrer, Richter und Fürsorgerinnen. Wien: Julius Springer Verlag.
Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3. ergänzte, überarbeitete und neugestaltete Aufl.. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Seelmeyer, Udo (2008): Das Ende der Normalisierung? Soziale Arbeit zwischen Normativität und Normalität. Weinheim; München: Juventa.
Sieder, Reinhard (1987): Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Tandler, Julius (1924): Ehe und Bevölkerungspolitik. Wien: Perles.
Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge bzw. ab 1923 Zeitschrift für Kinderschutz, Familien- und Berufsfürsorge (1906 – 1938), Wien (Z.f.K.J.).


Über den Autor

Dr. Alexander Brunner

Studium der Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Geschichte in Klagenfurt und Wien; Lebens- und Sozialberater, Gestaltberater und Gestaltpädagoge, Lektor an der Universität Wien im Bereich Bildungswissenschaften und an der FH Campus Wien im Bereich Soziale Arbeit; Forschungsschwerpunkte: Beratung- und Beratungstheorien, Geschichte der Sozialen Arbeit, Jugend und Medien, Jugendarbeit, Bildungstheorie und Normalisierungstheorien.

Link: www.lifeskills.at