soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 10 (2013) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/303/511.pdf


Martina Siedl:

Werte im Raum als Segment individueller Identitätskonstruktion


Peripherer Lebensraum am Beispiel Waldviertel


Der vorliegende Artikel basiert auf der Masterthesis „Zuzug und Rückkehr ins Waldviertel – Fallstudie über die subjektive Bedeutung des Sozialraums“, eingereicht an der Fachhochschule Campus Wien, 2012.


1. Einleitung
Die aktuelle Bevölkerungsprognose sagt für das mittlere Waldviertel weiterhin einen generellen Bevölkerungsschwund sowie einen durchgehenden „Brain Drain“ voraus. (Hitz 2009: 482) Der Begriff „Brain Drain“ rekurriert auf den Verlust von Personen höherer Bildungsschichten. So finden sich Befunde wie „Zwettl schrumpft zusammen“ (Schabauer 2011), „die Frauen gehen aus Ausbildungsgründen“ (Weber 2009) und „Abwanderung als Todesstoß“ (Schabauer 2011) über den Forschungsraum im wissenschaftlichen sowie auch im öffentlichen Diskurs.

Die physische Festlegung auf das Waldviertel als zu beforschendes Feld geschah vor allem aufgrund akuter „Betroffenheit“ des Raumes von der Thematik. Wanderung und regionale Entwicklung sind in den (lokalen) Medien, bei den Waldviertler_innen selbst, sowie bei relevanten Akteur_innen der Kommunalpolitik und Regionalplanung als Thematik präsent. Wanderungstendenzen werden beobachtet, Zuzieher_innen strategisch angeworben und der Bedarf an zuziehenden Personen offen und kritisch diskutiert.1

In den letzten 60 Jahren verringerten sich die Bevölkerungszahlen um 22%. Schrumpfung stellt eine langjährige Problematik im Untersuchungsraum dar, wobei die Bevölkerungsrückgänge beinahe flächendeckend in allen Gemeinden auftraten. (vgl. Waldviertel Akademie 2012) Erstaunlich schien, dass es in der Regel die Abwanderungsspirale ist, welche die Schlagzeilen bildet. Dabei wird die Thematik erst in Verbindung mit der Bevölkerungsentwicklung mit sinkenden Geburtenraten und demografischer Alterung brisant. Die aktuelle Analyse des Mikrozensus differenziert das Bild der Abwanderung als Todesdiagnose für die Region: So sind in den Jahren 2008 und 2010 die Wanderungsbilanzen positiv ausgefallen. 4195 „Ausnahmen“ des Trends der Abwanderung gab es beispielsweise im Jahr 2010, diese Personen haben ihren Hauptwohnsitz im angegebenen Zeitraum im Waldviertel begründet.

Festgehalten soll hier werden, dass die Mehrheit der Zuzieher_innen nicht, wie fälschlicherweise angenommen, zu Kohorten älterer Jahrgänge gehören, sondern der überwiegende Teil in die Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen fällt. (vgl. Sillip 2012) Diese Gruppe inkludiert die im vorliegenden Artikel genannten Rückkehrer_innen, das heißt Bildungsmigrant_innen, welche zu einem späteren Zeitpunkt wieder in ihren Herkunftsraum zurückkehren. Diese spielen bei der Abwanderungsproblematik des Waldviertels eine bedeutende Rolle, da der Zugang zu Hochschulen im Forschungsraum strukturell verwehrt ist. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur zum Raum das Phänomen des „Brain Drain“ als „Charakteristikum“ des Waldviertels tituliert. (Hitz 2009: 482) So erschien die Frage nach den Motiven dieser Rückkehrer_innen besonders interessant.


Im Folgenden sollen der Forschungszugang und die Methodik erläutert und die Untersuchungspopulation definiert werden. Die anschließend dargelegten Ergebnisse lassen sich in zwei große Themen einordnen: der kollektiv geteilte, historisch gewachsene soziokulturelle Bezugs- und Werterahmen im Raum, zum einen als subjektive Bedeutung für seine Bewohner_innen selbst und zum anderen als Gewinn für Zuzieher_innen und Rückkehrer_innen.


2. Forschungszugang und -methodik
Die verfasste Master-Thesis war als qualitative Fallstudie des Waldviertels konzipiert, da damit das Generieren von lebensweltlichen Hypothesen möglich wurde. Ziel war es, den umrissenen Gegenstand im Sinne materialer Theoriengenerierung zu analysieren. Sowohl der Erhebungs- als auch der Auswertungsprozess erfolgten nach den Prinzipien der Grounded Theory. (vgl. Glaser/Strauss 2008: 41)

Ziel der Untersuchung war es, Motivlagen für den Zuzug in einen ganz bestimmten peripheren Raum kennen zu lernen, der – genauso wie seine Bewohner_innen – vielfach mit Stereotypien und inhaltsstarken Zuschreibungen bedacht wird. Dabei ging es nicht um eine Zählung konkret präzisierbarer Vorzüge dieses Lebensraumes. Vielmehr interessierten individuelle Motivlagen einer bestimmten Gruppe und deren subjektive Identitätskonstruktion unter Bezugnahme auf die Kategorie des Raumes. Es sollte der bestehenden Diagnose „Abwanderung und Verfall der Region“ ein Debattenstrang entgegengesetzt werden, der empirisch evident ist. So existiert eine, der räumlichen Entleerung gegenläufige Strömung. Die Intention war auch eine Relativierung der Sichtweise über die Zukunft des Raumes und der dadurch begründeten gedrückten Stimmung.

Ziel der Arbeit war es, unter Berücksichtigung kritischer Kategorien, verstehendes Wissen über jene Motive zu entwickeln, die biografisch zu einem Zuzug beziehungsweise zu einer Rückkehr geführt haben und führen können. Die Untersuchung bildete durch qualitative Methodik Zuzug als vorhandene Gegenströmung in ihrer Tiefe ab.


2.1 Datenerhebung und -auswertung
Narrative Interviews erwiesen sich durch ihre biografische Komponente als geeignete Erhebungsmethode um die erwünschten lebensweltlichen Deutungsmuster und Argumentationen für das Handeln der Subjekte zu erhalten. Um möglichst lebensweltnahe Aussagen zu erhalten, wurde die Erzählaufforderung offen gehalten, von einer zeitlichen Limitierung der Interviews weitgehend abgesehen und diese bevorzugt im eigenen Wohnraum der Untersuchungspersonen geführt.

Im Zuge der Erhebungen fanden auch zwei Expert_inneninterviews nach Meuser und Nagel (2005) mit Dr. Ernst Wurz, Vorsitzender des Vorstandes der Waldviertel Akademie, und Josef Wallenberger, geschäftsführender Gesellschafter der lokalen Regionalberatung Wallenberger & Linhard GmbH, statt.

Der gesamte Forschungsprozess wurde durch einen breiten Datenschnitt erweitert: Vor allem durch die Teilnahme an der Workshop-Reihe „Abwanderung – (k)ein Schicksal?“ der Waldviertel Akademie im Jahr 2012 wurden Selbstdeutungen der Waldviertler Bevölkerung auf der einen und Einschätzungen sowie operative Strategien durch handelnde Akteur_innen, wie Kommunalpolitiker_innen und Expert_innen der Wanderungssteuerung, auf der anderen Seite, deutlich. Informelle Gespräche mit Akteur_innen der Kommunalpolitik und Vereinsfunktionär_innen brachten zusätzliche Sichtweisen, um die Stimmungslagen in Bezug auf die Abwanderungsthematik einschätzen zu können.

Gerade dieser vielschichtige Forschungszugang war für das Ziel der Erweiterung der Komplexität des Forschungsgegenstandes am besten geeignet. Dieses Ziel verfolgt auch die Methode des Kodierparadigmas (vgl. Glaser/Strauss 2008), weshalb die erhobenen Daten damit ausgewertet wurden. Die Eigenschaft der angewandten Methode – also die Möglichkeit Thesen zu bilden sowie in Folge empirischer Erkenntnisse auszuweisen – war für das Ziel, verstehendes Wissen über soziale Phänomene zu generieren, ausschlaggebend. Die Auswahl der Daten sowie auch die Auswahl der Interviewpersonen erfolgte nach der „Methode des kontrastierenden Vergleichs“. (Strauss/Corbin 1996)

Qualitätssicherung wurde durch wiederholten Rückbezug auf die Daten sowie vor allem durch Diskussion in Auswertungsgruppen gewährleistet. Als Modus zur Sicherung der Validität diente die Führung eines chronologischen Protokolls im gesamten Forschungsverlauf von September 2012 bis August 2013.


2.2 Forschungspopulation
Die Untersuchungspopulation umfasste Personen, die sich bewusst für einen peripheren Raum als Lebensraum entschieden haben und ins Waldviertel gezogen sind. Die Auswahl der 15 Interviewpersonen erfolgte nach zwei Kriterien: Zum einen haben die Untersuchungspersonen dieser Studie den Vergleich von peripheren und zentralen Raumkontexten erlebt. Sie haben also verschiedene Wohnstandorte kennen gelernt und konnten ihre Erfahrungen und subjektiven Entscheidungsmotive diesbezüglich schildern. Zum anderen sind die ausgewählten Interviewpersonen nach Vester (2001) dem akademischen Milieu zuzuordnen. Diese Eingrenzung auf akademisches Milieu erfolgte aufgrund der Diagnosen „Brain Drain“ und „Armutszuzug“.

Um möglichst präzise raumspezifische Aussagen über die Zuzieher_innen treffen zu können, wurde eine Kontrastgruppe gebildet. Neben dem Hauptanteil der zehn Interviewpersonen, welche keine gebürtigen Waldviertler_innen sind, sondern aus anderen (Bundes-)Ländern kommen, ist innerhalb der Untersuchungspopulation ein Drittel gebürtige Waldviertler_innen. Diese fünf Interviewpersonen sind im Forschungsraum aufgewachsen, haben den Raum, zumeist aus Bildungsabsicht, verlassen und sind wieder zurückgekehrt. Das Heranziehen einer Kontrastgruppe unterstützte das Generieren von Kategorien, wodurch sich das theoretische Potential erhöhte. (vgl. Glaser/Strauss 2008: 62)


3. Ergebnisse
In der anfänglichen Forschungsphase zeigte sich bereits, dass die Wahrnehmungen von peripherem Raum in Bezug auf Identität und deren individueller Konstruktion gesetzt wurden. Die Gestaltung des eigenen Lebensverlaufes wurde laufend mit Raumwahrnehmungen in Bezug gebracht. Die folglich erhobenen subjektiven Motivlagen boten Aufschluss über individuelle Deutungsmuster in Hinblick auf die Konstruktion von Identität.

Inwieweit integrieren Zuzieher_innen den vorgefundenen Werte- und Bezugsrahmen in die Herstellung der eigenen Identität? Welche Benefits ziehen Sie daraus für Ihre Lebensgestaltung? Diese Fragestellungen sollen in den folgenden Ausführungen Beantwortung finden. Dies geschieht – wie auch der Datenerhebungs- und Auswertungsprozesses – mit dem Blick der Identitätstheorie nach Böhnisch (2009) und der Identitätskonstruktionstheorie nach Keupp (2012). Laut diesen Autoren meint Identität einen Reflexionsmechanismus zwischen innerer und äußerer Welt, die dem Menschen Sinngebung und Verortung des Selbst ermöglicht und auf dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis von Wertschätzung basiert. (vgl. Keupp 2012: 79) Identitätskonstruktion betrifft die persönlich-biografische als auch eine sozialinteraktive, gesellschaftliche Dimension: Individuen beziehen Werte aus der Gesellschaft, die sie für die Konstruktion der eigenen Identität heranziehen. Die Darstellung des Selbst vollzieht sich in der Herausforderung der Auswahl von passenden, akzeptierten Lebensverläufen. (vgl. Böhnisch 2009: 30)


3.1 Raumwahrnehmungen
Mit der „Schönheit“ wurde der untersuchte Raum von den Interviewpersonen am öftesten in den Narrationen beschrieben (I2: Z12, I5: Z84), ja sogar als „Paradies“ bezeichnet (I1: Z60). Diese Metapher findet sich auch in diversen Reiseführern und Prospekten über das Waldviertel und wird dabei mit Attributen wie „ruhig“, „ganz normal“, „sehr menschlich“ aber auch „exquisit“ ausgeschmückt. (Pruckner 2002: 29) Auch der Vergleich mit einer „Insel“ fand sich nicht nur in publizierten Raumbeschreibungen, sondern in den Erzählungen der Untersuchungspopulation (I3: Z47). Tatsächlich liegt das Waldviertel im Nordwesten des Bundeslandes Niederösterreich zwischen der Donau und der Grenze zu Tschechien.

Näher an die Natur, ins Grüne wollten die Interviewpersonen (vgl. I3: 108), was ein weiteres oft gebrachtes Attribut dieser flächigen Gegend impliziert, die sich durch grüne Wiesen, Felder und beinahe 50%-iger Bedeckung der Landfläche mit Wald (vgl. Pruckner 2002: 25) sowie über 1000 klaren Gewässern auszeichnet (vgl. Destination Waldviertel GmbH2). Gerade die Vielfältigkeit der Landschaft wird von Zuzieher_innen als namhaftes Attribut des Untersuchungsraumes vorgebracht (vgl. I9: Z10).

Nicht so idyllisch wirkte dagegen die Aussage einer Interviewperson, wenn sie ihren neu gewählten Wohnort am „Ende der Welt“ verortet (I1: Z59). Und doch traf sie mit der Randlage des Raumes, der bis 1989 durch den Eisernen Vorhang begrenzt war, ein wesentliches Charakteristikum. Neben der peripheren Lage erschweren auch die vergleichsweise gering entwickelte Industrialisierung sowie die sich im Wachstum befindliche und vergleichsweise spärlich erschlossene Infrastruktur die Situation des Raumes. Bezogen auf die Bevölkerungsdichte zeichnet sich das Waldviertel durch eine außerordentlich dünne Besiedelung aus. (vgl. Pruckner 2002: 24-25) Von einer „Dichte“ kann nicht die Rede sein. Genau dieser Umstand stellt aus Sicht der Interviewpersonen ein weiteres Argument für den Zuzug ins Waldviertel dar: „Geringe Siedlungsdichte zieht uns an!“ (I7: Z22). Und die findet man dort allemal: Obwohl das Waldviertel rund 25% der Fläche Niederösterreichs bedeckt, leben hier nur rund 14% der Landesbevölkerung (vgl. Pruckner 2002: 24-25), das waren im Jahr 2012 219.703 Personen mit gemeldetem Hauptwohnsitz (vgl. Statistik Austria 2012).

Dennoch oder gerade deshalb wird das Waldviertel in Lifestyle-Magazinen, Wanderführern und Büchern mit gehaltvollen Ausdrücken wie „unverbrauchte Urnatur“, „Fluchtraum für Traumtänzer“, „landschaftliche Reserveseele“ oder „seelische Kraftkammer“ versehen (Waldert 1992: 343) und in den Deskriptionen auch mit der Verstärkung durch Fotografien zu einer extravaganten (Kultur-)Landschaft hochstilisiert.

Schönheit, Natur, Isolation sowie klare Grenzen konnten somit als wesentliche Raumwahrnehmungen der Zuzieher_innen herausgearbeitet werden.


3.2 Kollektives Sinn- und Bedeutungsgefüge
Festgestellt werden kann, dass im Waldviertel ein ausgeprägter, kollektiv geteilter und historisch gewachsener soziokultureller Bezugs- und Werterahmen vorliegt. Auffallend ist, dass sich dieser auf eines von vier Vierteln des Bundeslandes Niederösterreich bezieht. Nicht in erster Linie der Geburtsort, die Ortschaft, die Gemeinde oder der Bezirk, sondern das „Waldviertel“ wird als Bezugsrahmen herangezogen, genannt und inszeniert. Hervorzuheben ist jenes Selbstverständnis, mit dem die Identifikation mit dem Raum von den ursprünglichen Waldviertler_innen, aber eben auch von den Zuzieher_innen dieser Untersuchung, hergestellt wird. Auffallend in diesem Zusammenhang war, dass sich auch die Zuzieher_innen als „Waldviertler_innen“ deklarieren. Was macht das Mysterium Waldviertel in seinem integrierenden Gemeinsamen aus? Die Gespräche und das Selbstbild von „Waldviertler_innen“, also Menschen, die sich als genau solche identifizieren, lassen einen gemeinsamen Ethos vermuten, nämlich in Gestalt eines gemeinsamen Sinnbildes, beziehungsweise eines gemeinsames Sinn- und Bedeutungsgefüges. Dieses kollektive Sinngewebe, beziehungsweise seine Einzelteile, sind identitätsstiftend, weil die tragenden Werte, wie zum Beispiel Arbeit, Fleiß und Authentizität, Rückschlüsse auf die Identität eines Subjektes ziehen lassen.

Das Waldviertel an sich macht einen Sinn – und für alle, für die es Sinn macht und die voll und ganz diesen Sinn impliziert haben, stellt es eine übergeordnet vorliegende Gemeinsamkeit dar. Aussagen wie „Waldviertler mit Leib und Seele“ zu sein (I1: Z84), lassen auf einen vorliegenden Bezug auf ungeschriebene Gesetze beziehungsweise Gebote schließen, aber auch auf den Zugang zu einer wertvollen, beschränkten Ressource.

Mit dem Zugang zu dieser Ressource wird Wissen geteilt und es herrschen vereinte Sozialisationsmuster vor. Wesentlich ist der gemeinsame Sinnbezug auf die Werte und Wertkonstellationen. Die Werte beziehen sich neben dem (Landschafts-)Raum vor allem auf die Identität und sie stiften diese auch vice versa. Das Phänomen „Waldviertel“, die Mystik des Raumes funktioniert, weil es geteilt wird, daran festgehalten wird: Auf der einen Seite finden sich die – mit allen Zuschreibungen und Stereotypien – zu ihrem Raum stehenden Waldviertler_innen und auf der anderen Seite die Zuschreibungen, um nicht zu sagen die „Belächelungen“, der Anderen. Dieses Phänomen reproduziert Abgrenzung, festigt den Zusammenhalt nach Innen und hält das Mysterium am Leben.

Arbeit und Fleiß, soziale Hilfe und Tausch sowie Authentizität und Autonomie bilden Wertvorstellungen, welche aufgrund des durchgängigen Vorkommens in den Daten eine Beschreibung der Waldviertler_innen als Gruppe ermöglicht. In diesen Segmenten lokal gebundener Identität verdichten sich die sozialen Abläufe, wie Machtzuteilungen und -demonstrationen, Identitätskonstruktionen, Rollendefinitionen sowie die Gestaltung von gutem Leben und dem eigenen Lebensverlauf.


3.3 Verbindung zum Raum von gebürtigen Waldviertler_innen – die Rückkehrer_innen
Eine gebürtige Waldviertlerin schildert, dass sie als Lehrerin in den Ferien von ihrem damaligen Lebensort Kalifornien, „immer“ mit ihren Kindern ins Waldviertel gefahren sei und dass sie ihr Dienstverhältnis in ihrem Heimatland während ihres 10-jährigen Lebensabschnittes in Kalifornien durch Karenzzeiten und wiederholte Sonderurlaube aufrecht gehalten hat (vgl. I1: Z15-17, Z33-35). Ein ebenfalls aus dem Waldviertel stammendes Paar berichtet, dass es so oft wie möglich während des Studiums der Veterinärmedizin in Wien ins Waldviertel gefahren ist, auch wenn es dadurch „viel Geld auf der Straße“ gelassen habe (I3: Z11-12).

Waldviertler_innen nehmen Mühen und Kosten auf sich, um den Kontakt zur Heimat aufrecht zu halten. In den Erhebungen kam zum Ausdruck, dass Waldviertler_innen sich zum Teil auch starken inneren Widersprüchen aussetzen, um das Naheverhältnis zum Raum nicht aufzugeben. Der soziotheoretische Fachdiskurs geht davon aus, dass Identitätskonstruktion verstärkt in autonom gewählten Bindungen von Überzeugungen gründet, welchen eine derartige Relevanz zugeschrieben wird, dass das Festhalten daran unter Einsatz persönlicher Kosten erfolgt.

Das Naheverhältnis zwischen dem Waldviertel und seinen Bewohner_innen offenbarte sich in der vorliegenden Untersuchung als ein überaus starkes. Die Waldviertler_innen verwenden für die Beschreibung des Naheverhältnisses zum Raum sehr gehaltvolle Begriffe wie „Bodenhaftung“ (I1: Z51) und beschreiben die Bindung mit Ausdrücken wie „er ist ganz verhaftet“ (I1: Z85). Auf die Frage, weshalb sie sich für diesen Wohnraum entschieden haben, nennen gebürtige Waldviertler_innen zuallererst die Tatsache, dass sie von diesem Raum „abstammen“. Das Naheverhältnis zum Boden wird in den Narrationen als etwas Innewohnendes dargestellt, so als könne man sich diesem nicht entziehen. Diese Bindung kam in der vorliegenden Untersuchung nicht im Sinne eines negativen Freiheitsentzugs, sondern im Sinne einer Halt und Sicherheit gebenden Konstante zu Tage. Diese Gebundenheit lässt in den Berichten ein stabilisierendes und Halt gebendes Potential deutlich werden. Die verwendete bildhafte Sprache spiegelt hier einen intensiven Bezug zum physischen materiellen Raumbezug, dem Boden, wider. Dieser wird auch durch die Verwendung der Metapher des Baumes deutlich, welche durch Begrifflichkeiten wie „verwurzelt“ und „abgestammt“ zu Tage kommt. Die angeführten Zitate sowie die Titulierung „Waldviertler mit Leib und Seele“ (I1: Z84) untermauern die These einer intensiven, übertrieben wirkenden Verbindung der Waldviertler_innen zu ihrem Herkunftsraum. Diese Bindung offenbarte sich in der vorliegenden Forschung als freiwillig eingegangene Verpflichtung, welche mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit getragen, wiederkehrend betont und folglich reproduziert wird.

In Zusammenhang mit dem Raum des Waldviertels ist Darstellungs- und Inszenierungshandeln festzustellen. In der Inszenierung vom Herkunftsraum wird Stolz transportiert. Die Hochhebung und Inszenierung von Wertschätzung erfüllt zweifelsfrei Sinn: Auf Basis der Deutungszuschreibungen vermag sie Halt zu geben. Zudem verspricht sie Anschluss und (soziale) Eingebundenheit. Identifikation mit einem Raum ist Verortung per se, welche Gewissheit, Verwurzelung und Stabilität bietet und eine Sicherheitsfunktion für die Teilhaber_innen des Raumes leistet. Der in der Postmoderne evidenten „allgegenwärtigen Drohung, ins Nichts zu fallen“, kann laut Sennett (1998: 189) mithilfe dieser Sicherheit und einer folgend erlebten Stabilität, leichter begegnet werden. Dies könnte vor allem für die Sozialarbeit mit der Thematik der Migration ein Denkansatz sein. Das Eingehen von Verbindungen zu Räumen kann positive Phänomene mit sich bringen, somit bei Verlust auch Stabilität und Sicherheit in einem beträchtlichen Maß nehmen und oben genannte Drohung spürbar werden lassen.

Die eingegangene Bindung zum Raum „verhaftet“, um in den Worten der Zuzieherin zu sprechen (I1: Z51) und macht in diesem Sinne auch unflexibel. Gerade Flexibilität, auch im Sinne von räumlicher Mobilität, ist in der Postmoderne das ausschlaggebende Attribut, um in Zukunft mitzuhalten. Mit Castels Immobilitätstheorie gedacht, würde eine vorliegende Verbindung zu örtlichem Boden das Individuum in der Postmoderne immens benachteiligen. Castel treibt die Tragweite der geforderten Flexibilität in der Postmoderne auf die Spitze, indem er die weniger mobilen Individuen als Verlierer_innen bezeichnet und ihnen sozialen Tod prophezeit. (vgl. Castel 2007: 70-71) Es lag der Rückschluss nahe, dass die Euphorisierung und Darstellung des besonderen Wertes dieses Raumes durch die Waldviertler_innen als Überdeckung vorhandener Kratzer im Selbstbild dient. Ein Kratzer im Selbstbild ergäbe sich aus einer eingegangenen Verpflichtung, weil diese in Widerspruch zu Idealvorlagen der Postmoderne steht. Diese These könnte eine Antwort sein auf die Frage, ob ein diffuser Heimatbezug als Ersatz für Mängel im Selbstbild fungieren kann. Die erlebten Mängel entstehen jedenfalls aufgrund eines Ideals, das nicht (vollkommen) erreicht werden kann. Eine weitere These zum Ursprung der empfundenen Mängel soll ebenfalls angeführt werden: Der Begriff „zentral“ rekurriert auf das Wesentliche sowie auf Teilhabe am Geschehen, während Peripherie auf Randlage, Überflüssiges und Ausgeschlossenheit verweist. Im Waldviertel zu leben heißt somit, nicht in der Mitte des Geschehens zu sein, in den Worten Schroers gesprochen, „teilnahmslos“ zu sein (vgl. Schroer 2006). Diese Teilnahmslosigkeit zeigt sich als Antonym zum Ideal in der Postmoderne, aktiv inmitten des Geschehens zu sein – eben zentral und nicht randständig. Das westeuropäische Verständnis des Zentrum-Peripherie-Begriffs kann als Erklärung für die (übertriebene) Inszenierung durch die Waldviertler_innen herangezogen werden.


3.4 Zuschreibungen und Stereotypien
Festgestellt wurde, dass Zuschreibungen und Stereotypien mit bestimmten Attributionen in Zusammenhang stehen. Die kursierenden Zuschreibungen und Stereotypien des Raums werden folglich beschrieben und schon jetzt als zusätzliche Begründung herangezogen, warum Waldviertler_innen das Naheverhältnis zu ihrem Herkunftsraum in einer (übertriebenen) Vehemenz darstellen. Die Abschreibung von Intellekt beispielsweise (vgl. I1: Z66-67) fordert die Argumentation und das Eintreten für den eigenen Herkunftsraum geradezu heraus. Es schien der Rückschluss zulässig, dass sich erlebte Negativzuschreibungen sowie das Festhalten und Darstellen von einem starken Naheverhältnis zum Herkunftsraum hier vice versa bedingen und verstärken.

Die Beschreibungen der Interviewpersonen ließen folgendes Bild entstehen: Waldviertler_innen seien „verschlossen“ und „doof“ (I1: Z66-67), würden sich aber fleißig „abrackern“ (I3: Z81) und seien auch „neugierig“ und „offen“ (I8: Z93). Im Forschungsprozess wurden von gebürtigen Waldviertler_innen die Attribute „muffig“ und „verschlossen“ (I1: Z66-73) verwendet. Von Zuzieher_innen als auch von Waldviertler_innen selbst wurden ihnen Arbeitsfleiß sowie eine gewisse Schweigsamkeit zugeschrieben. Die Zuzieher_innen bezeichnen die Waldviertler_innen als „freundlich“ und halten sie für offen, vor allem auch gegenüber Zuzieher_innen (I9: Z27). Zuzieher_innen weisen den Menschen im Raum zudem eine gewisse Spiritualität zu und drücken in den Rekonstruktionen Bewunderung für eine so pragmatische spirituelle Denkweise sowie impliziertes und – als Normalität erlebtes – „ursprüngliches Wissen“ aus (I4: Z95-100).

Festgestellt werden konnte, dass es in den Deutungszuschreibungen der Zuzieher_innen und Rückkehrer_innen eine „Waldviertler Mentalität“ gibt, die als Distinktion zu anderen vorliegt und sich bereits von der Mentalität angrenzender Gebiete abhebt (vgl. I1: Z71). Die Zusammenschau der Daten ließ den Rückschluss zu, dass eine zurückhaltende Art in der sprachlichen Kommunikation, verbunden mit einer gewissen Konfliktscheue, einherzugehen scheint. Eine gebürtige Waldviertlerin schildert in pointierter Weise die Nicht-Äußerung von Waldviertler_innen, wenn sie über Waldviertler_innen erzählt: „Die Pappen bringans ned auf“, und schließt unmittelbar an das Gesagte an: „Des deafst ned rein schreiben!“ (I1: Z66). Die eben zitierte Interviewperson stammt selbst aus dem Untersuchungsraum und hat die, ihrerseits an den Waldviertler_innen kritisierte Handlungsform auf eine treffsichere Weise reproduziert und dadurch die These der sprachlichen Zurückhaltung im Untersuchungsraum bestärkt.

Eine gewisse Konfliktscheue, vor allem in direkten Gesprächen, kann den Waldviertler_innen auf Basis der geführten Erhebungen also zugeschrieben werden und wurde auch im Selbstbild empirisch vorgefunden. In den Erhebungen wurde eine gewisse Verklärtheit, eine Skepsis im Raum vorgefunden (vgl. I8: Z141-142). Ein Zuzieher, welcher schamanische Heilsitzungen anbietet, erzählte: „Sie kommen auch mal zu Heilsitzungen, im Verdeckten natürlich!“ (I8: Z143). Es schien der Rückschluss zulässig, dass die Geheimhaltung der Inanspruchnahme institutioneller, beziehungsweise nicht gängiger Beratungen auf eine, womöglich tatsächlich vorhandene, Konflikt- und Problemscheue zurückzuführen ist. Diese wird in der Literatur dem traditionell ländlichen bzw. dörflichen Milieu zugeschrieben (vgl. Brüggemann/Riehle 1986: 173). Hier ist allerdings festzuhalten, dass sich die Unterscheidung ländlich versus urban mit all den dazugehörigen Stereotypien und Bildern zunehmend aufgelöst hat und auflöst und derartige Kategorisierungen ihre Gültigkeit eingebüßt haben.

Im Waldviertel wurde eine gelebte Handlungsidee vorgefunden, wonach eigene Probleme vorrangig selbst zu lösen wären und Konflikt- und Krisenthematiken in der Kommunikation tendenziell ausgeklammert werden. Hier soll – vor allem auch mit sozialarbeitswissenschaftlicher Brille – auf die Gefahr dieser Handlungsweise hingewiesen werden, wonach Sorgen und Probleme in der radikalen Durchziehung zu einem Modus der Verdeckung werden können. Wenn Hilfsbedürftigkeit keine Worte in der Öffentlichkeit findet bzw. finden darf, muss in Betracht gezogen werden, dass Macht und Abhängigkeitsverhältnisse nicht an die Oberfläche kommen. (vgl. Böhnisch et al. 2009: 244) Die Autonomie, auch bei der Idee Probleme ohne Hilfe von außen zu lösen, wurde als wesentliches Segment in der Wertehaltung der Waldviertler_innen deutlich. Dieser Wert, betrachtet als Säule von Identität, würde bei Notwendigkeit der Inanspruchnahme von Hilfe versehrt werden, was eine (weitere) Erklärung für eine Zugangsbarriere für Hilfeleistungen sein könnte.


3.5 Gewinne für Zuzieher_innen

„Wia san froh, wenn ma (…) uns wo ausbroatn kenan, wo ma unsan Plotz hom.“ (I3: Z21)
„Weil ma mehr Platz gebraucht haben!“ (I6: Z2)
„Es passt wiakli supa, weil wie gsogt: Wia sehng uns ned, wemma uns ned sehng woin und es san olle sehr nett. Und des Scheine is, dass a Jeder sein Bereich hom konn!“ (I3: Z99-100)

Eine quantitative Verbesserung der Wohnfläche stellt ein überwiegendes Merkmal für den Zuzug dar. Zudem kann das Waldviertel mit niedrigen Immobilienpreisen und geringer, beziehungsweise nicht vorhandener Siedlungsdichte ein Medium für jene Menschen sein, die der Anwesenheit Fremder sowie der Nähe zu anderen nicht ausgesetzt sein wollen.

„Wenn ma nerm sehng woin, geht des auch! Ma siacht hoit kane Nochbarn do, ma trifft sie ned zufällig.“ (I7: Z33-34)

Die Zuzieher_innen und Rückkehrer_innen können durch die Verfügungsmacht über Raum nicht erwünschte soziale Erscheinungsformen auf Abstand halten. Sie können Verfügungsmacht beanspruchen, was sich vor allem in einem Gefühl von Autonomie über die eigene Identität äußert. Identität wird auch über die Kategorie des Besitzes hergestellt, sei es nun Grundbesitz oder Immobilien. Raumbesitz ermöglicht für das Individuum Selbstbestimmung auf der einen sowie die Schaffung von Privatheit, das auf Distanz halten von Subjekten und Kontrolle über Zugänge auf der anderen Seite. Die Möglichkeit über Ein- und Ausgänge zu bestimmen, verschafft besitzenden Individuen Handlungsmacht (vgl. Schroer 2006: 217-218), welche besonders von den Zuzieher_innen positiv hervorgehoben wird.

„Do gehst aussi, baust da dei Essen söwa on. Sunst hob i meine Viecha, wia hom Müchschof, Eier vo de Hendl. Wia hom Gemüse und Obst, den Rest kemma a wengl vertauschen.“ (I3: Z123-125)

Höchstmögliche Selbstversorgung, geringere Abhängigkeiten, mehr Privatheit, die Nähe zur und Verbindung mit der Natur, aber auch interessante Jobangebote sowie der Wunsch nach quantitativer und qualitativer Verbesserung der Wohn- und Lebensfläche wurden unter anderen als dezidierte Zuzugsmotive genannt. Die Interviewpersonen gewinnen Sinngebung und Identitätsstiftung, im Hintergrund vom Verlust traditioneller Rahmungen in postmodernen Gesellschaften, welche Orientierung ermöglicht. Ein Gewinn in der eigenen Identitätskonstruktion und der autonomen Gestaltung guten Lebens stellt auch die Erhöhung des Maßes an Selbstbestimmung sowie die Abgrenzung zu ökonomisch gängigen Handlungsweisen dar. Arbeit, Mithilfe und aktive Beteiligung am örtlichen Vereinsleben sowie Kinder bieten Einstiegsmöglichkeiten in die lokale Gemeinschaft und wirken beziehungs- und identitätsstiftend. Besonders schätzen die Zuzieher_innen auch die Möglichkeit das „Nicht-Ökonomische“ zu forcieren, also das verstärkte Zurückgreifen auf Handlungsweisen außerhalb der vorherrschenden Wirtschaftslogik. Eine Zuzieherin berichtet beispielsweise hierzu:

„Schenken is nu sozial bindend, verbindlicher als der monetäre Tausch. Da Euro entbindet jeder sozialen …, du bist einfach quitt.“ (I7: Z72-73)

Die Interviewpersonen erzählten mit Euphorie von selbst angebauten Lebensmitteln, gegenseitigen Hilfestellungen und funktionierenden Tauschkontakten in ihrem sozialen Umfeld: „Wia tan vü hin und her tauschen!“ (I3: Z71)

Einerseits Rückzugsmöglichkeit anderseits die Chance nahe, wertschöpfende Beziehungen zu gestalten, zeichnen die besonderen Vorzüge des Raumes für die Zuzieher_innen aus.

Tätig sein, hier vor allem auch im Sinn von Hilfe im sozialen Netzwerk, stellt eine vorrangige Säule der Identität dar. Das soziale Handlungsmuster des Tausches funktioniert im Untersuchungsraum in beeindruckender Weise und wird auch von den Zuzieher_innen geschätzt und aufgegriffen. Individuen stellen dar, was sie tun und folglich wer sie sind. Durch diese reziproke Interaktionsform erfolgt Selbstdarstellung, zudem werden Bindungen geschaffen und erhalten, was wiederum das Individuum zu einem Teil eines Netzwerkes macht und Zugehörigkeit als Komponente von Identität entstehen lässt.

In der Literatur wird gerade offenen und erfahrenen Menschen zugesprochen, dass sie das Bedürfnis nach Lokalität verstärkt aufweisen: „Der Mensch braucht einen Ort. Je weiter der Horizont, desto größer ist auch dieses Bedürfnis.“ (Tournier 1969, zit. in Egli 1981: 152-153) Die Interviewpersonen betonten als besonderen Benefit ihres neuen Lebensraumes, dass dieser die Fähigkeit habe ein Gefühl von Heimat entstehen zu lassen.

Mit der Identitätskonstruktionstheorie von Heiner Keupp (2012: 26) erklärt, kann dann von „gelungener Identität“ gesprochen werden, wenn es dem Individuum Kohärenz, Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit im individuell passenden Ausmaß ermöglicht. Diese Modi sind für die Bildung der Identität essentiell. Nach diesem Modell konnten die Zuzieher_innen und Rückkehrer_innen ihre Identität gelingend konstruieren, wobei der Raumbezug als wesentliche Konstante dargestellt wurde.


3.6 Unterschied zwischen Zuzieher_innen und Waldviertler_innen
Im Vergleich der Handlungsweisen von Zuzieher_innen und ursprünglichen Waldviertler_innen wurde festgestellt, dass Zuzieher_innen mit ihren weitreichenden Kontakten und Netzwerken von früheren Wohnorten sowie Ausbildungs- und Arbeitsbeziehungen nicht bzw. nur in einem beschränktem Ausmaß auf örtlich gebundenen Kontakte angewiesen sind (vgl. I11: Z15). Den ursprünglichen Waldviertler_innen und den Zuzieher_innen gemeinsam sind die strukturierenden Grundwerte. Was eine alleinerziehende Mutter am Untersuchungsraum schätzt und hervorstreicht, worauf sie „stolz“ ist, ist ident mit dem, was die zugezogene esoterische Tierärztin in der baufälligen Mühle als „besonders“ und „charakteristisch“ ausweist. Den wesentlichen Unterschied macht der Status zwischen den Gruppen aus: Verwiesenheit versus freier Entscheidung und Flexibilität.

Im ländlichen Raum des Waldviertels existieren Handlungsmuster sozialer Kontrolle. Diese wurden vonseiten der Zuzieher_innen in keiner Weise einengend oder belastend erlebt. Durch eine gelungene Identitätskonstruktion, durch Mechanismen der Abgrenzung und dem Habitus der Zuzieher_innen im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zum akademischen Milieu scheint es für diese vergleichsweise einfach möglich zu sein, mit sozialer Kontrolle und sozialen Kontrollmechanismen umzugehen (vgl. I11: Z81). Im Vergleich dazu finden sich in den Daten zwei empirische Belege, dass für Rückkehrer_innen, also ursprüngliche Waldviertler_innen, diese Mechanismen nicht an Bedeutung eingebüßt haben und die implizierten Denkweisen diesbezüglich, auch nach verschiedenen anderen Lebensorten, wirkungsvoll sind (vgl. I1: Z66-73).

In den Deutungszuschreibungen zeigte sich eine überaus starke Identifikation mit dem Waldviertel, auch wenn dieser Raum ohne freien Entschluss Wohnraum ist. Der Blick liegt hier auf Waldviertler_innen, die aufgrund von Besitz (Flächen, Immobilien beziehungsweise aufgebaute Existenzen wie Betriebe) auf den örtlich festgelegten Raum angewiesen sind, der Einsatz in materieller Sicht zu groß wäre, um die räumliche Bindung aufzugeben. Im Gegensatz zu den Zuzieher_innen mussten die beschriebenen Waldviertler_innen durch die Bindung an Raum einen wesentlichen Baustein gelungener Identitätskonstruktion einbüßen: situative Handlungskompetenz. Zuzieher_innen können die Verfügung über freien Willen hochstilisieren (vgl. I3: Z52-54). Situative Handlungsfähigkeit, anders ausgedrückt Autonomie, in vollen Zügen als wesentliche Komponente in der Identitätskonstruktion in der Postmoderne bleibt den beschriebenen Waldviertler_innen verwehrt (vgl. I1: Z85). Die Verwiesenheit mit einem Manko an Ausstiegsmöglichkeiten kann als Deutung für übertriebene Identifikation mit Raum herangezogen werden. Mit der Brille von Breckner und Bricocoli (vgl. 2006) betrachtet, kann die These soweit ausgeführt werden, dass die Waldviertler_innen eine Überidentifikation zu ihrem Herkunftsraum mangels anderer statusträchtiger Identitätskomponenten herstellen. Die identitätsstiftende Funktion des Waldviertels bis aufs Äußerste zu verinnerlichen, macht gerade dann Sinn, wenn Subjekte darauf verwiesen sind. So kann das Individuum für sich und im Auftreten nach außen Kohärenz herstellen.


4. Conclusio
Will man Identitäten stützen und eine auf Mitbestimmung abzielende und in diesem Sinne Identität fördernde Regionalentwicklung sowie eine erfolgreiche Maßnahmenplanung mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensqualität verwirklichen, braucht es ein differenziertes und differenzierendes Wissen über Selbstdeutungen und Entscheidungsmotivationen. Lebensweltliche Daten und Deutungsmuster werden durch Professionist_innen der Wanderungssteuerung oft nicht ausreichend mitbedacht. Die Interpretation empirischer Daten durch die Sozialwissenschaft trug im betreffenden Raum wesentlich zum Verstehen bei und verhalf durch gemeinsame Zusammenarbeit von Sozialwissenschaft auf der einen sowie Kommunalpolitik und Regionalplanung auf der anderen Seite dazu, Entscheidungen und soziales Handeln nachvollziehen zu können. Die Analyse der lebensweltlichen Handlungsweisen in Bezug auf die Wohnstandortwahl ermöglichte die Auslotung des soziokulturellen Potentials des Untersuchungsraumes. Um das soziokulturelle Potential in seiner Breite detaillierter erfassen zu können, wären quantitative Erhebungen auf Bases der durchgeführten qualitativen Forschungsarbeit zielführend.

Die sozialarbeiterische Erforschung praktizierter, persönlicher Lebensweisen kann neue bzw. geänderte Raum- und Zeitnutzungsstrukturen ausloten. Sozialarbeitswissenschaft kann lebensweltliche Kontexte aussagekräftig abbilden und somit gesellschaftliche Tendenzen neu denken lassen. Ein wesentliches Ziel der durchgeführten Erhebung war, Deutungswissen zu den Ausreißern der Abwanderung zu beschreiben. Die erhobenen qualitativen Ergebnisse bieten Möglichkeit zur positiven Beeinflussung für Wohnstandorte. Diese ist vor allem für bisher wirtschaftlich noch ausbaufähige und strukturell wachsende Räume, wie dem Untersuchungsraum, essentiell.


Verweise
1 In der Festlegung des Untersuchungsraums ist der Bezirk Krems ausgenommen, da dieser im Einzugsbereich Wiens und dem „Speckgürtel“ St. Pöltens liegt und eine grundlegend andere demographische sowie sozioökonomische Struktur hat. Somit könnte der Einbezug von Krems empirische Daten verfälschen. Auf diese Weise agiert auch die Wallenberger & Linhard Regionalberatung GmbH, welche neben der Durchführung zahlreicher Regionalentwicklungsprojekte Standortmarketing betreibt.
2 Destination Waldviertel GmbH: Still, unberührt geborgen: http://www.waldviertel.at/d/default.asp?id=79005 (1.6.2012).


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Über die Autorin

Martina Siedl, MA, Jg. 1985
siedl.martina@gmx.at

Studium der Sozialen Arbeit, Masterstudiengang Sozialraumorientierung
Berufserfahrung in der Jugend-, Alten- und Suchtarbeit sowie in psychosozialer Beratung
seit August 2000 Sozialarbeiterin bei der NÖ Jugendwohlfahrt; Sachwalterin