soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 11 (2014) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/314/559.pdf


Florian Rieder:

Alles Bleibt Anders!


Operative und strategische Perspektiven interkultureller Sozialer Arbeit im Zeitalter der Globalisierung


1. Einleitung
Die vielschichtigen Auswirkungen der Globalisierung stellen unvorhersehbare Herausforderungen an die Handlungsfelder der Interkulturellen Sozialen Arbeit. Sozialarbeiterische Unschärfen ergeben sich etwa durch

Solche Anforderungen begrenzen bestehende sozialarbeiterische Maßnahmen der Interkulturellen Sozialen Arbeit und fordern dadurch alternative Ansätze und Denkweisen für die Zukunft der Sozialen Arbeit ein. Versteht man Globalisierung als einen Prozess, der eine sich ständig ändernde Welt beeinflusst – worin das Globale auch im lokalen Kontext neue Kräfte und Ansprüche freisetzt – wird ersichtlich, dass sich Interkulturelle Soziale Arbeit kontinuierlich mit diesen Kräften zwischen Globalem und Regionalem auseinandersetzen muss, um zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.

Diese Arbeit versucht anhand einer systematischen Literaturanalyse Perspektiven zu ermitteln, die für die sozialarbeiterische Zukunft im Globalisierungskontext relevant werden. Dabei steht die folgende Forschungsfrage im Zentrum:

Was sind hauptsächliche Prognosen über zukünftige Handlungsfelder der Interkulturellen Sozialen Arbeit im Globalisierungskontext?


2. Grundlagen von Globalisierung und Interkultureller Sozialer Arbeit
Je nach historischer oder sozialer Perspektive kann Globalisierung als etwas Positives (Kapitalismus als Kraft für die Weltzivilisation), als reformistisch (Globalisierung als junger Prozess, der sich im Anfangsstadium eines längerfristigen Entwicklung befindet) oder als Risikofaktor (mit einer Vielzahl von kritischen sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen) gesehen werden. Doch was bedeutet Globalisierung im Kontext Sozialer Arbeit?

Beck definiert Globalisierung als „… Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchance, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden.“ (Beck 1997: 28f) Als Ergebnis dieses Prozesses versteht Beck, „… dass von nun an nichts, was sich auf unserem Planeten abspielt, nur ein örtlich begrenzter Vorgang ist, sondern alle Erfindungen, Siege und Katastrophen die ganze Welt betreffen und wir unser Leben und Handeln, unsere Organisationen und Institutionen entlang der Achse ‚lokal-global’ reorientieren und reorganisieren müssen.“ (ebd.: 30)

Globalisierung ist nach dieser Definition also mehr als ein rein wirtschaftlicher globaler Markt, mehr als nur Waren, Kapital und Dienstleistungen, die in einem globalen Wechselstrom fließen. Im Prozess der Globalisierung sind auch soziale Zusammenhänge immanent.

Obwohl es Ansätze gibt, Globalisierung als positiv für wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen zu beschreiben, erkennt ein Gutteil der nachstehend analysierten AutorInnen an, dass sich durch Globalisierung eine Reihe von „adverse social effects“, also ein Reihe von nachteiligen sozialen Auswirkungen, auf Menschen ergeben (George/Page 2004: 18). Für die Soziale Arbeit stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche konkreten Handlungsfelder sich daraus ergeben, und auf welche Art und Weise sich solche globalen Auswirkungen erkennen lassen.

Fisher und Ponniah (2005: 29) bezeichnen die von ihnen für das „World Social Forum“ entworfenen Handlungsfelder als „areas of action“ und meinen damit Kategorien mit Relevanz für soziale Handlungsfelder und Globalisierungsdynamiken. Erwähnenswert scheint an dieser Stelle, dass sich diese Kategorien nicht ausschließlich auf die drei klassischen Globalisierungsfelder Wirtschaft, Politik und Kultur beziehen. Ein Grund dafür ist, dass eine solche Einteilung soziale Lücken und Überlappungen mit sich bringt, die keine klar strukturierte Abgrenzung und Analyse der Handlungsfelder erlauben. Ein Beispiel: Zivilgesellschaft gehört per definitionem zum Sektor der Kultur. Diese hat aber nicht nur kulturelle Aufgaben, sondern kann durchaus auch politische und wirtschaftliche Verantwortung im sozialen Kontext übernehmen. Als zentrale „areas of action“ nennen die Autoren:

  1. Wealth Production, Social Reproduction (ebd.: 21ff) = Reproduktion von Reichtum, Soziale Reproduktion
  2. Affirmation of Civil Society and Public Space (ebd.: 187ff) = Bekräftigung von Zivilgesellschaft, Bürgerbewegungen und öffentlichem Raum
  3. Access to Wealth and Sustainability (ebd.: 107ff) = Zugang zu Reichtum und Nachhaltigkeit
  4. Political Powers and Ethics (ebd.: 277ff) = Politisches Machtgefüge und Ethik

Freise fasst die Handlungsfelder der Interkulturellen Sozialen Arbeit in folgendem Grundschema zusammen und erkennt dabei zwei große Teilbereiche für die Interkulturelle Soziale Arbeit: die innergesellschaftliche Interkulturelle Soziale Arbeit, und die Internationale Interkulturelle Soziale Arbeit (vgl. Freise 2008: 19ff). Interkulturelle Soziale ist dabei durch drei Hauptmerkmale charakterisiert:

  1. Sie ist eine „Querschnittsaufgabe“ jeglicher Sozialen Arbeit, mit besonderem Augenmerk auf das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und besonderer Problemlagen (ebd.: 19). Schrödter ergänzt: „Professionelle Interkulturelle Soziale Arbeit will unter anderem ein Gegengewicht zur sozialen und ethnischen Segregation von Zuwanderern bilden, Migrationsrisiken abfedern, zur Bewältigung von Integrationsprozessen beitragen oder das ‚interkulturelle’ Zusammenleben fördern“ (Freise 2007: 9). Hiernach werden vornehmlich kulturelle Dimensionen sozialer Arbeit in den Handlungsfeldern betont, die sich aus dem Auseinandertreffen von Menschen einheimischer und anderskultureller Herkunft ergeben. Gesellschaftliche Globalisierungsprozesse prägen diese Handlungsfelder durch „kulturelle Pluralität“ (ebd.: 19). Bezogen auf ihre Querschnittsaufgabe, hat Interkulturelle Soziale Arbeit also alle Bereiche der Sozialen Arbeit auf Problemstellungen zu durchsuchen, die sich aus dem erwähnten kulturellen Spannungsfeld ergeben.
  2. Interkulturelle Soziale Arbeit bezieht sich im lokalen Rahmen auf spezifische Handlungsfelder, in denen durch das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen prägnante Problemlagen entstehen. So kann beispielsweise die Gemeinwesenarbeit in Bezirken mit hohem Bevölkerungsanteil von MigrantInnen zur innergesellschaftlichen Interkulturellen Sozialen Arbeit gezählt werden. Dabei wird besonders die Arbeit mit MigrantInnen und Einheimischen als Zielgruppen hervorgehoben. Das Präfix „inter“ hebt diesen gegenseitigen Austauschprozess hervor. Wäre dies ein einseitiger Prozess, könnte man es lediglich als Migrationssozialarbeit verstehen. Wenn in diesem Prozess von MigrantInnen und Menschen mit Migrationshintergrund die Rede ist, seien damit all jene Menschen in einer Gesellschaft angesprochen, die „aufgrund aktueller oder zurückliegender Migrationserfahrungen unterschieden werden können von jenen, für die solche Hintergründe nicht vorliegen oder nicht mehr relevant sind“ (Eppenstein/Kiesel 2008: 24).
  3. Interkulturelle Soziale Arbeit bezieht sich auch auf sozialpädagogische Handlungsfelder. Diese seien laut Freise oft stark begegnungsorientiert; sozialarbeiterische Konzepte setzen sich dagegen oft mit der Regelung von Konflikten und Problemen auseinander (vgl. Freise 2007: 20f). Auch Eppenstein und Kiesel heben hervor, dass sich Soziale Arbeit und Sozialpädagogik im Sinne des sogenannten „Konvergenztheorem“ einander annähern (Eppstein/Kiesel 2008: 9). Dieses Theorem geht davon aus, dass sich beide Felder trotz berufsspezifischer Unterschiede derart ähnlich seien, dass sie ein gemeinsames Handlungssystem begründen können.

In Ergänzung zum o. g. Verständnis einer Interkulturellen Sozialen Arbeit setzt sich die Internationale Interkulturelle Soziale Arbeit mit zwei zentralen Dimensionen auseinander, nämlich mit interkulturellen Problematiken, die sich aus sozialen Problemlagen mit internationalen Bezügen ergeben und der damit verbundenen Migration.

  1. Eine Definition Internationaler Sozialer Arbeit stammt von Fisher und Ponniah. Relevanz hat diese, weil sie von der International Association of Schools of Social Work (IASSW) und der International Federation of Social Work (IFSW) in ihre jeweiligen Programme übernommen worden ist: Sozialer Wandel, das Problemlösen durch Anerkennung von Konflikten und das Aufeinandertreffen von Mehr- und Minderheiten sind klassische Handlungsfelder von Interkultureller Sozialer Arbeit.
  2. Nieke reflektiert den „internationalen emigrationsbezogenen Aspekt“ von Globalisierung, indem er darauf verweist, dass immer mehr Menschen im Zuge der Globalisierung freiwillig und unfreiwillig einen Arbeitsplatz im Ausland annehmen (Nieke 2001: 812). Freise meint ebenfalls, dass junge Menschen oft den Wunsch verspüren eine gewisse Zeit im Ausland zu verbringen.


3. Grundlagen der Systematischen Inhaltsanalyse
3.1. Quantitative Inhaltsanalyse – Frequenzanalyse
Im quantitative Teil untersucht diese Arbeit anhand eines analytischen Kategoriensystems Tendenzen und Prognosen, bezogen auf die Interkulturelle Soziale Arbeit im Globalisierungskontext. Sie filtert die zu untersuchende Literatur, um Aussagen über das relative Gewicht dieser Textbestandteile per Häufigkeit zu erkunden. Dieser quantitative Teil der systematischen Literatursichtung entspricht einer Frequenz- oder Häufigkeitsanalyse (vgl. Mayring 2003: 13).


3.1.1 Formulierung der Fragestellung FF 1
Welche Häufigkeiten lassen sich anhand des theoriegeleiteten Kategoriensystems durch eine Frequenzanalyse im gesammelten Material erkennen?


3.1.2 Theoriegeleitetes, deduktives Kategoriensystem
Der erste analytische Schritt besteht darin, ein deduktives, theoriegeleitetes Kategoriensystem zu entwerfen, auf welches das Material hin untersucht werden kann. Ein deduktives Kategoriensystem bestimmt laut Mayring „das Auswertungsinstrument durch theoretische Überlegungen“ (ebd.: 75). Dabei werden aus „Voruntersuchungen, dem bisherigen Forschungsstand, neu entwickelten Theorien oder Theoriekonzepten in einem Operationalisierungsprozess bestimmte Kategorien auf das Material hin entwickelt“ (ebd.: 43). Diese Einheiten müssen begründet werden.


3.1.3 Ergebnisse der Quantitativen Inhaltsanalyse – Frequenzanalyse
Tabelle 1 präsentiert nachstehend die Häufigkeiten der gesammelten Beiträge gemäß der aufgestellten analytischen Unterkategorien. Sie beschreibt die Häufigkeiten der einzelnen, in Literaturdatenbanken (Psyndex, KVK, WiSo) in deutscher und englischer Sprache recherchierten, Beiträge im Kategoriensystem. Die am häufigsten nachgewiesenen Beiträge sind grün gekennzeichnet, die seltensten rot.

Tabelle 1: Literaturbeiträge zu Globalisierung und Sozialer Arbeit
Tabelle 1: Literaturbeiträge zu Globalisierung und Sozialer Arbeit

In den 38 relevanten Büchern und Sammelbänden finden sich insgesamt 222 relevante Beiträge. Davon lassen sich 168 (75,7%) der internationalen Kategorie der Interkulturellen Sozialen Arbeit, 54 (24,3%) Beiträge in der Kategorie „Interkulturelle Soziale Arbeit – Lokal“ zuordnen. Die drei häufigsten Unterkategorien sind (in der Tabelle grün gekennzeichnet):

  1. „Zivilgesellschaft/Interkulturelle Soziale Arbeit – Global“ mit 21 Beiträgen (9,5% der Gesamtbeiträge),
  2. „Menschenrechte/Interkulturelle Soziale Arbeit – Global“ mit 14 Beiträgen (6,3% der Gesamtbeiträge),
  3. „Kultur/Interkulturelle Soziale Arbeit – Global“ mit 13 Beiträgen (5,6% der Gesamtbeiträge) und „Werte/Interkulturelle Soziale Arbeit – Global“ ebenfalls mit 13 Beiträgen (5,6% der Gesamtbeiträge).

Prägnant erscheint, dass die vier häufigsten Kategorien in der internationalen Spalte der Interkulturellen Sozialen Arbeit verortet sind. Erklärbar ist diese Tendenz aufgrund von zwei Argumenten: 75,7% der gesammelten Beiträge beschäftigen sich mit internationalen sozialarbeiterischen Themen zur Globalisierung, 24,3% mit innergesellschaftlichen Themen. Es kann also aufgrund der Verteilungsfrequenz durchaus ein Schwerpunkt an internationalen Themen erwartet werden. Ein zweites Indiz für die klare Häufigkeitsverteilung zu Gunsten der internationalen Arbeitsfelder besteht darin, dass die AutorInnen der gesammelten Beiträge einen grenzüberschreitenden Charakter der Handlungsfelder in den Vordergrund stellen. So streichen Beiträge zur Kategorie „Zivilgesellschaft“ immer auch einen internationaler Aspekt (z. B. die Verknüpfung von BürgerInnenbewegungen einzelner Ländern) hervor und weniger den explizit lokalen oder regionalen Zusammenschluss. Die relevanten Beiträge zeigen für innergesellschaftliche Aspekte der Sozialen Arbeit ebenfalls Relevanz, werden aber anhand der formalen Definitionskriterien, die im vorigen Kapitel erarbeitet worden sind (siehe: deduktives Kategoriensystem), den internationalen Kategorien der Sozialen Arbeit zugeordnet.


3.2 Qualitative Inhaltsanalyse
Für den qualitativen Teil der Literaturanalyse erweist sich die „zusammenfassende Inhaltsanalyse“ als sinnvolle Methode, weil damit vor allem Material zur weiteren Interpretation reduziert werden kann (ebd.: 58). Dieser Ansatz lässt sich auch für den Aufbau einer „induktiven Kategorienbildung“ einsetzen (ebd.: 75). Ein induktives Vorgehen „leitet die Kategorien direkt aus dem Material in einem Verallgemeinerungsprozess ab, ohne sich auf vorab formulierte Theorienkonzepte zu beziehen“ (ebd.: 75). Durch diese induktive Vorgehensweise kann „Verzerrungen durch Vorannahmen“ vorgebeugt und eine „naturalistische, gegenstandsnahe Abbildung des Materials“ gewährleistet werden. Als Selektionskriterium der Kategorienfindung in den Textbeiträgen nennt Mayring vor allem die Fragestellung der Analyse, aber auch die beabsichtigte Tiefe des Abstraktionsniveaus (vgl. Mayring 2003: 76). Das konkrete Ergebnis der induktiven Kategorienbildung stellt schließlich ein „System an Kategorien“ zu einem bestimmten Thema dar, die durch Paraphrasierung mit konkreten Textpassagen verknüpft sind.

Der auf diesen Ergebnissen aufbauende qualitative Teil ist also die „systematische, zusammenfassende Inhaltsanalyse“ mit „induktiven Kategorienbildung“. Die Analyse der Inhalte liefert dabei Prognosen und Anwendungsmöglichkeiten über zukünftige Inhalte der Sozialen Arbeit. Einige davon stellen Rekombinationen bereits bestehender Konzepte dar, andere ergeben sich aus neuen, globalen Einflüssen auf die wirtschaftlichen, politischen und sozio-kulturellen Lebenswirklichkeiten von Menschen. Sie stellen sowohl konkrete, neue Anforderungen an den operativen sozialarbeiterischen Alltag, als auch an die zukünftige strategische Planung von Curricula in der Ausbildung zur Sozialen Arbeit.

Die beiden in dieser Arbeit zu analysierenden Themenfelder Zivilgesellschaft Global und Menschenrechte Global – das sind die Kategorien mit den häufigsten Treffern – sind in ihrer Ausrichtung eng miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Deswegen wird diskursiv ein kategorienübergreifender Bezugsrahmen gespannt, um die interpretierten Ergebnisse zusammenfassend anhand von vier Schwerpunkten (siehe Kapitel 3.2.1 bis 3.2.4) zu diskutieren. Begriffe in kursiver Schrift stellen jene Dimensionen der rezipierten Literatur dar, die im Zuge der qualitativen Analyse in einen gemeinsamen Kontext der Interkulturellen Internationalen Sozialen Arbeit gestellt werden. Aus Gründen der Lesbarkeit sind die Belege einzelner Termini nicht gesondert aufgeführt, sie finden sich jedoch im Original der Arbeit, die als Master-Thesis an der FH Vorarlberg hinterlegt ist.


3.2.1. Menschenrechte und BürgerInnenaktivierung als Bildungsschwerpunkte in der Interkulturellen Sozialen Arbeit
Eine zentrale Zukunftsprognose besteht in der zunehmenden Verankerung von Menschenrechten als zweites Organisationsprinzip in der Ausbildung der Interkulturellen Sozialen Arbeit. Für eine weitere Etablierung des Menschenrechtsansatzes als diskursives Instrument in der Ausbildung bedarf es einerseits einer Einpflegung der Menschenrechte in die berufsethischen Grundsätze der Sozialen Arbeit, der Inklusion konkreter Lebenswirklichkeiten des Menschenrechtschutzes und des Einbeziehens nicht westlicher Sichtweisen in die Menschenrechtserklärung. Weiters wird gefordert, dass SozialarbeiterInnen Kompetenzen erlangen, die sie befähigen, universelle Gesetze der Menschenrechte in den lokalen Kontext zu übersetzen. Im Zuge der Forderung nach einem künftigen menschenrechtsorientierten Bildungswegen sollte Soziale Arbeit deswegen selbst definierte Aufträge erlangen, um die Menschenrechte kontinuierlich auf Wirtschaft, Politik, und das Gesundheitswesen ausweiten zu können.

Damit alle Sphären einer Gesellschaft mit Menschenrechten unterfüttert werden und ein menschenrechtlicher Diskurs gestartet werden kann, bedarf es einer engen Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Zivilgesellschaft. Denn die Effektivität der Menschenrechte hängt einerseits vom politischen Willen der Nationalstaaten ab, andererseits liegt das größte Potential des Menschenrechtschutzes bei den aktiven BürgerInnen. Deswegen fungiert Zivilgesellschaft als Schlüsselelement, um für die Zukunft ein tragfähiges Menschenrechtsverständnis zu initiieren. In diesen Ermächtigungsprozessen müssen Handlungsansätze dafür gefunden werden, wie sich in Zukunft BürgerInnen in staatsfreien Lücken für die Zivilgesellschaft aktivieren lassen. BürgerInnen werden angeregt, ergebnisoffen Wege zu erschließen, um gesellschaftliche Räume zu reklamieren und sich dann eigenständig Ziele der Umsetzung zu stecken.

Dabei steht der „capable citizen“ mit seiner freiheits- und individualitätsstärkenden Funktion als konstruktives Ideal dafür im Vordergrund, wie Menschen Verwirklichungschancen ihrer individuellen Bedürfnisse erfahren können („capabilities approach“). Damit sich BürgerInnen in diesem Bildungsprozess nicht vom Staat bevormundet fühlen, soll eine weniger direktive Aktivierung von BürgerInnen („active participation option“) den Politikverdruss hemmen. Als diskursive Mittel, um die bisher wenig erfolgreichen Konzepte politischer Bildung weiterzuentwickeln, geben erfahrungsfördernde Konzepte („social development“ und „democratic learning“) konkrete Ansatzpunkte für die Interkulturelle Soziale Arbeit, wie in diesem Prozess eine inkludierende AkteurInnenwahrnehmung gestaltet werden kann.

Konzepte der Selbstwirksamkeit können BürgerInnen auch in Eigeninitiative erleben – durch eigenständiges Handeln, Erfahren und Denken. Interkulturelle Soziale Arbeit kann sich hier durch die Etablierung einer Kultur der Auseinandersetzung und durch proaktive Unterstützung bei Anpassungen der Wahrnehmung globaler Auswirkungen auf lokale Einheiten einbringen („shifting baselines“). Um in diesen ergebnisoffenen Lernstrukturen der BürgerInnenaktivierung nicht Gefahr zu laufen, durch gesellschaftliche Exklusionsmechanismen und Stigmatisierungseffekte eine „culture of control“ entstehen zu lassen, werden zeitnahe Instrumente einer gesellschaftszugewandten Sozialen Arbeit Bildungsakzente setzen müssen.


3.2.2 Reziproke Mischformen des Zusammenlebens und multipler Ausbau der Rechtsgebung
Lokale Gemeinschaften stehen auf Meso- und Makro-Ebene ebenfalls vor der Herausforderung, innerhalb der Wirkungssphären der Globalisierung Zusammenleben selbstwirksam zu gestalten. Besonders erfolgsversprechend scheinen dabei wechselseitige Mischformen aus Kommunitarismus und Wohlfahrtsstaat, die den Anforderungen einer globalen Welt ebenso gerecht werden, wie einem lokalen Verständnis von Demokratie. Um derartige Gemeinschaften vor negativen Auswirkungen der Globalisierung schützen zu können, werden neue Gesellschaftsverträge die zivilen Rechte von BürgerInnen stützen. Außerdem soll die Erweiterung von bestehenden zivilgesellschaftlichen Verträgen unterstützend auf globale Prozesse wirken. Ein kontinuierlicher rechtlicher Ausbau der Zivilverträge stärkt dabei die Einforderungskompetenzen der Interkulturellen Sozialen Arbeit und ist Ausdruck für die Wichtigkeit multipler, rechtlicher Verankerungen von sozialarbeiterischen Anliegen in einer globalen Welt.

Auch das rechtliche Umfeld des Menschenrechtsschutzes untersteht stetigen politischen Veränderungsprozessen und muss die vielfältigen Möglichkeiten der Rechtsgebung sukzessive weiter nutzen und ausbauen. So können etwa internationale wirtschaftliche Abkommen dazu genutzt werden, um mit menschenrechtlichen Zusatzforderungen die Statuten von sich entwickelnden Ländern mit Menschenrechten zu unterfüttern. Denn wenn menschenrechtlich orientierte Sozialrechte in einer staatlichen Infrastruktur fehlen, werden Menschenrechte meist vernachlässigt.

Auch die kontinuierliche rechtliche Implementierung der Menschenrechte in den Statuten von stabil organisierten Staaten stellt eine relevante Entwicklungsforderung für die Zukunft dar. Bei solchen Entwicklungen müssen die dadurch entstandenen „legal black holes“ von partizipativen BürgerInnen beobachtet und von rechtlich kompetenten SupervisorInnen kritisch beleuchtet werden. Damit Opfer von Menschenrechtsverletzungen eine angemessene Wiedergutmachung erfahren können, muss die Verbindlichkeit der Wiederherstellung der Rechte der Opfer ebenfalls institutionell verfahrensrechtlich abgesichert werden. Effektiver Minderheitenschutz soll durch eine Etablierung der Selbstbestimmungsrechte der Völker erreicht werden. Damit die Interkulturelle Soziale Arbeit in der rechtlichen Ausdifferenzierung von Menschenrechten ein Mitspracherecht bekommt, bedarf es weiterer Professionalisierung der rechtlichen Kompetenzen von SozialarbeiterInnen.


3.2.3 Vernetzung und Internationalisierung
Damit die Zivilgesellschaft von Politik, Wirtschaft, wachsenden Interdependenzen und den negativen Auswirkungen der Globalisierung nicht zerstört wird, scheint eine Aufgabe für die Zukunft die zivilgesellschaftliche Vernetzung zu sein. Auf globaler Ebene bietet das Konzept der Indigenisation eine konstruktive Vernetzungsmöglichkeit von sozialarbeiterischen Handlungsansätzen zwischen Nord und Süd. Auf EU-Ebene kann eine Vernetzung von transnationalen NGOs die Einflusssphäre der Zivilgesellschaft auf politische Prozesse vergrößern. Die Implikationen zivilgesellschaftlicher Vernetzung sind deswegen für die Interkulturelle Soziale Arbeit relevant, da es eine breite Übereinstimmung zwischen den Aufgabenfeldern der Interkulturellen Sozialen Arbeit und den Arbeitsweisen von TNGOs gibt. Dabei stehen Konzepte der Förderung ziviler Dialoge im Mittelpunkt, die eine direkte Einflussnahme von NGOs auf die Leitlinien der Politik begünstigen sollen. Dass dieser Prozess bisher nicht abgeschlossen ist, muss nicht negativ beurteilt werden. Unabgeschlossene Prozesse bieten eine Chance für die Zivilgesellschaft, da sie den noch nicht besetzten sozialen Raum durch innovative Strukturen und Anliegen mitgestalten können.

Allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass SozialarbeiterInnen in Führungspositionen von NGOs meist unterrepräsentiert sind. Dies impliziert die zukunftsorientierte Forderung nach einer professionellen Verankerung von Sozialer Arbeit in TNGOs (transnationaler NGOs), was wiederum zwingende Auswirkungen auf die Ausbildung hat: Sie muss weiter internationalisiert werden, soziale Managementkompetenzen stärken und internationale Kooperationsbeziehungen von Wohlfahrtssystemen auf EU-Ebene fördern, damit deren AkteurInnen transnational anschlussfähig bleiben können.

Vernetzung ist ebenfalls eine relevante Prognose für die weitere Etablierung der Menschenrechte. So soll eine sukzessive Internationalisierung der Menschenrechte ihre Durchsetzungsmacht fördern und starke Signale an Menschenrechtsverletzer senden. Monolithische Ansätze können dabei durchaus zu einer fruchtbaren Spannungslage beitragen. Es sind aber vor allem sozialarbeiterische Mischformen aus zeitnahen Maßnahmen und langfristigen Entwicklungen, welche eine Verankerung der Menschenrechte auf möglichst vielen Ebenen der Gesetzgebung („pluralisme ordonné“) etablieren und auf diese Weise ein ausgeweitetes Mitspracherecht für SozialarbeiterInnen fördern.


3.2.4 Multiple Einflussnahmen auf die Wirtschaft
Um eine Verankerung von Menschenrechtsstandards auch in den Sphären der wirtschaftlichen Globalisierung zu implementieren, bedarf es einer Weiterentwicklung von Möglichkeiten der Einflussnahme sozial-orientierter Steuerung. Eine Komplementarität der Instrumente wird dabei als zentrale Prognose skizziert; es sollen nicht nur freiwillige („global compact“) oder verpflichtende Instrumente („monitoring“) eingefordert, sondern beide Richtungen ausdifferenziert werden. Denn nur durch einen verpflichtenden rechtlichen Unterbau können SozialarbeiterInnen als MenschenrechtsexpertInnen einen bindenden Diskurs zwischen RepräsentantInnen von Wirtschaft und Finanzinstitutionen meistern und die Forderung stellen, wirtschaftlichen Reichtum mit den Bedingungen menschlicher Bedürfnisbefriedigung abzugleichen. Deswegen müssen SozialarbeiterInnen durch Erlangung fachspezifischer Kompetenzen Eingang in repräsentative Positionen finden, um an diskursiven Dialogen mit der Wirtschaft teilnehmen zu können. Damit Zivilgesellschaft selbstständig solche Forderungen nach Sozialverträglichkeit im wirtschaftlichen Sektor einfordern kann, muss Interkulturelle Soziale Arbeit die verborgene Verletzlichkeit großer Unternehmen für sich nutzen lernen und BürgerInnen zum politischen Konsum motivieren. Sozialverantwortliche Transformation ist dabei das erklärte Ziel und gleichzeitig Ausdruck einer kulturellen Protesthaltung.

Weniger einen Ausdruck des Protests, sondern mehr einen ökonomischen Ansatz bietet das Konzept des kreativen Kapitalismus. Dabei werden jene Menschen, die in der „Bottom of the Pyramid“ leben, als aufstrebende Verbrauchermärkte erkannt. Kreativer Kapitalismus versucht die Interessen der Wirtschaft und der Sozialen Arbeit so miteinander zu verquicken, dass möglichst alle Menschen von der Globalisierung profitieren können. Durch eine Demokratisierung des Handels sollen arme Menschen die Möglichkeit bekommen, sich unternehmerisch zu versuchen. Soziale Arbeit kann dabei durch NGOs Einfluss auf die Umsetzung dieser Ziele nehmen; dieser Prozess erfordert eine wechselseitige Kompromissbereitschaft der Interkulturellen Sozialen Arbeit und der Wirtschaft.


4. Kurzzusammenfassung
Zum Abschluss sind die Ergebnisse der Arbeit (hinsichtlich der zentralen Forschungsfrage: Was sind die hauptsächlichen Erfahrungen und Prognosen in der ausgewählten Fachliteratur zu zukünftigen Handlungsfeldern der Interkulturellen Sozialen Arbeit im Globalisierungskontext?) noch einmal in sechs Merksätzen kategorienübergreifend zusammengefasst:

  1. Bei der rechtlichen Verankerung der Menschenrechte und der damit impliziten Stärkung der Zivilgesellschaft bedarf es einer breiten Verankerung von Sozialrecht auf möglichst vielen Ebenen der Gesetzgebung.
  2. Durch die Perspektive einer internationalen Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Organisationen können sowohl menschenrechtliche Diskurse angeregt als auch mehr Mitspracherecht auf internationaler Ebene eingefordert werden.
  3. Um die Wirtschaft in soziale Transformationsprozesse miteinzubeziehen, bedarf es einer Vielzahl verschiedener freiwilliger und verpflichtender Instrumente, die sowohl eine Stärkung der Menschenrechte als auch ein neugewonnenes BürgerInnenbewusstsein stimulieren.
  4. Um diese Instrumente zur Etablierung der Menschenrechte und Stärkung der Zivilgesellschaft zu erlangen, sollten in Zukunft rechtliche Kompetenzen ebenso Eingang in die Ausbildung der Interkulturellen Sozialen Arbeit finden wie ein tiefergehendes Verständnis über die Einsetzbarkeit der Menschenrechte, konkrete Maßnahmen zivilgesellschaftlicher Aktivierung sowie sozialwirtschaftliche und -management orientierte Kompetenzen.
  5. Denn eine Reform globaler und lokaler Denkweisen beginnt in den Köpfen jener, die sich bereits in der Ausbildung eingehend mit den negativen Auswirkungen und den daraus resultierenden Maßnahmen der Globalisierung auseinandersetzen und daher flexibel auf diese eingehen werden können.
  6. Wer die Menschenrechtsentwicklung als Teil der Globalisierung begreift, erkennt, dass Menschenrechte ein zentrales Instrument darstellen, mit dem die Zivilgesellschaft proaktiv auf negative Auswirkungen der Globalisierung wird reagieren können.


Literatur

Beck, U. (1997): Was ist Globalisierung? Frankfurt a. M.

George V. / Page, R. M. (2004): Global Social Problems. Cambridge: Polity.

Eppenstein, T. / Kiesel, D. (2008): Soziale Arbeit Interkulturell. Theorien – Spannungsfelder - Reflexive Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

Fisher, W.F. / Ponniah, T. (2005): Another World is Possible: Popular Alternatives to Globalization at the World Social Forum. London: Zed Books.

Freise, J. (2005): Politik, Religion und Geschlecht – biografisch buchstabiert: Themen bei internationalen Begegnungen heute. In: Friesenhahn, G. / Thimmel, A. (Hg.): Schlüsseltexte. Engagement und Kompetenz in der internationalen Jugendarbeit. Schwalbach: TS, S. 98-104.

Freise, J. (2007): Interkulturelle Soziale Arbeit. Theoretische Grundlagen- Handlungsansätze – Übungen zum Erwerb Interkultureller Kompetenz. 2. Auflage, Schwalbach: Wochenschau Verlag.

Freise, J. (2008): Respekt, Empathie, Konfliktfähigkeit, Unsicherheit aushalten können: Haltungen in der Interkulturellen Sozialen Arbeit. In: Forum Sozial, Heft 02, S. 1-4.

Mayring, P. (2003): Einführung in die Qualitative Sozialforschung. 5. Auflage, Weinheim/Basel: Beltz Verlag.

Nieke, W. (2001): Interkulturelle Arbeit. In: Otto, H.U. / Thiersch, H. (Hg.): Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied: Luchterhand, S. 811-815.


Über den Autor

Mag. Florian Rieder, M.A.

Momentaner, fachlicher Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit ist die interkulturelle Soziale Arbeit. Neben seiner sozialwissenschaftlichen Tätigkeit unterrichtet er Sport und Bewegung im österreichischen Sekundarbereich. Internationale Lehrerfahrung im sozialpädagogischen Bereich sammelte er in Europa, Asien und dem Pazifischen Raum.