soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 11 (2014) / Rubrik "Rezensionen lang" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/318/533.pdf
235 Seiten / EUR 27,99
Ende der 1970er-Jahre ging Paul Parin der Frage nach, „warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen“. Die Apathie der Fachleute gegenüber – damals wie heute noch – aktuellen Fragen, wie Terror, Folter, Drogen, Elektroschocktherapie, therapeutische Sekten, Frauenbewegung und Sexualität, wurde in Parins Analyse historisch begründet: Mit der fortschreitenden Institutionalisierung gewann die psychoanalytische Bewegung zwar an wissenschaftlichem Profil, ihr gesellschaftskritisches Potential ging aber dabei verloren. (vgl Parin 1978) Nun ist es freilich zweifelhaft, ob die wissenschaftliche – in Abgrenzung zur außeruniversitär entstandenen Psychoanalyse – akademische Psychologie von ihren Anfängen her je so etwas Ähnliches wie ein gesellschaftskritisches Potential besessen hat. Die Kritik, die sie sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder gefallen lassen musste, ging und geht bei ihr daher mehr ins Grundsätzliche: Überblickt man nämlich die Geschichte der akademischen Psychologie, so fällt sofort ins Auge, dass es ihr an so etwas wie einem „Anwendungsbezug“, einer auf praktische Probleme außerhalb der Mauern der Universität gerichteten Orientierung, über lange Zeit hinweg überhaupt fehlte. Im deutschen Sprachraum war die Psychologie zunächst nichts anderes, als ein kleines und dort nicht einmal wohlgelittenes Teilgebiet der philosophischen Erkenntnistheorie. Eine praktische Ausrichtung wurde ihr gleichsam erst durch die Geschichte aufgezwungen: Im Ersten Weltkrieg „bewährte“ sie sich als „Psychotechnik“ bei der Auswahl von Spezialisten im Militär; in der Vorbereitung zum Zweiten Weltkrieg dann im Rahmen der Offiziersauslese der Deutschen Wehrmacht. Während die Psychotechnik ihre Entstehung dem Umstand verdankte, dass Psychologen sich im Felde nützlich machten, indem sie ihre experimentelle Wahrnehmungspsychologie für Sinnesprüfungen bei Kraftfahrern, Richtungshörern, Flugzeugpiloten etc. zu nutzen begannen, konnte man bei der Führungskräfteauswahl in der Reichswehr und später dann Wehrmacht auf keine gleicherweise universitär etablierte Wissensbestände zurückgreifen. Alle die Methoden zur Prüfung von Willensstärke und sonstigen Führungsqualitäten mussten gleichsam aus der Praxis selbst heraus erfunden und entwickelt werden. Giovanni Jervis, ein früher Mitarbeiter Franco Basaglias in der italienischen Psychiatriereform, hat völlig zu Recht von der Existenz zweier verschiedener Psychologien gesprochen: einer experimentell (d. h. letztlich an der Arbeitsweise der Naturwissenschaften) ausgerichteten „Grundlagenforschung“ und einem eher pragmatisch orientierten Bereich der „angewandten Psychologie“. (vgl. Jervis 1999)
Dass das eine mit dem anderen nur wenig zu tun hat, bekommen AbsolventInnen eines Psychologiestudiums in aller Deutlichkeit zumeist erst beim Eintritt in die Berufswelt zu spüren. Mit „Praxisschock“ ist eben dies gemeint: dass studierte PsychologInnen nach dem Abgang von der Universität über ein Wissen verfügen, dass ihnen bei der Orientierung in der psychologischen Berufspraxis wenig hilfreich ist. Die Psychologie-Kritik der siebziger Jahre wusste den Grund dafür genau zu benennen: In der Methodologie der nomologischen Psychologie muss jedes konkrete Individuum, d. h. der/die Einzelne in seinen/ihren wirklichen Lebensbezügen, hinter der gesichtslosen Maske der Versuchsperson verschwinden. Die statistischen Gesetzesaussagen, die diese Psychologie anstrebt, adressieren das Verhalten von Gruppen; über den Einzelfall selbst weiß sie daher beim besten Willen nichts zu sagen.
Die Methoden, derer sich eine Wissenschaft bedient, sind nicht etwas völlig Beliebiges, sie sind an eine bestimmte Auffassung des Gegenstandes, auf den sie sich beziehen, gebunden. Seit der „behavioristischen Revolution“ – die „kognitive Wende“ hat daran wenig geändert – fasst die Mainstream-Psychologie ihren Gegenstand als das Verhalten auf: Verhalten ist im orthodoxen Behaviorismus einfach das, was aus der Perspektive der dritten Person an Lebensvollzügen an einem Organismus beobachtet werden kann. Aus der streng szientistischen Perspektive des Behaviorismus ist Verhalten ein Naturvorgang wie andere Naturvorgänge auch. Und weil Naturvorgänge prinzipiell keinen Sinn haben, ist es völlig sinnlos, dem Verhalten Sinn zuzuschreiben. Dies läuft nun aber unserem eigenen Selbstverständnis völlig zuwider. Wir begreifen unser eigenes Tun und Lassen im Alltag zumeist als sinnstrukturiert. „Sinnstrukturiert“ meint in diesem Zusammenhang, dass einem Verhalten einer Person ein Sinn zugrunde liegt, den die Person selbst ihm zuschreibt. Solch ein Verhalten, das dem Behaviorismus – aber nicht nur ihm, sondern auch der in der Auffassung ihrer psychologischen Gegenstände ihm sehr eng verwandten neurowissenschaftlichen Forschung – ein Unding ist, heißt man in der nicht-behavioristischen Psychologie Handeln. Eine Psychologie des Handelns – die Handlungspsychologie – befasst sich eben damit: die mit dem Verhalten von Personen verbundene subjektive Sinngebung zu interpretieren. Den Vorgang der Interpretation selbst bezeichnet man – in Anlehnung an die von Dilthey ausgehende Tradition – als „Verstehen“.
Heinz Jürgen Kaiser und Hans Werbik haben in ihrem in der UTB-Reihe erschienenen Lehrbuch die verschiedenen Ansätze zu einer Handlungspsychologie, wie sie in den letzten vierzig Jahren weitgehend außerhalb der Mainstream-Psychologie entstanden sind, zusammengetragen und zu einer konsistenten und vor allem auch konsensfähigen Grundkonzeption verarbeitet. Der Band besteht aus zwei Teilen: In einem ersten Teil werden die begrifflichen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen dargelegt. Und das auf durchwegs sehr anspruchsvollem Niveau: Die vielen Verweise, die in diesen Abschnitten präsentiert werden, sind, weit über den Charakter einer Einführung hinausgehend, von allgemeinem sozialwissenschaftlichem Interesse. Werbiks Ergänzung der Alternative zwischen einer Psychologie aus der Perspektive der ersten oder dritten Person durch eine Psychologie aus der Perspektive der zweiten Person z. B. ist vor allem in forschungsmethodischer Hinsicht bedeutsam: Ein Beobachter und eine beobachtete Person gleichen in einer dialogischen Beziehung die Ergebnisse der Fremd- und der Selbstbeobachtung aneinander ab. Das Konzept erinnert an Siegfried Bernfeld, der den Prozess der psychoanalytischen Erkenntnisgewinnung als eine Art doppelte Selbstbeobachtung bezeichnet hat, die sich, füreinander jeweils wiederum als Fremdbeobachtung, gleichsam wechselseitig kontrolliert. (vgl. Benetka 1992) Damit ist auch schon die Frage der Anschlussfähigkeit der Handlungspsychologie an den Diskurs der Psychoanalyse angesprochen. Der Zugang der beiden Autoren ist dabei angenehm pragmatisch: Zielt nicht gerade die Psychoanalyse darauf ab, die dem Einzelnen oft verborgenen, somit „unbewusst“ bleibenden Gründe seines Verhaltens aufzudecken, „blindes“ Verhalten (im Sinne der Wirkung des „Wiederholungszwangs“) somit durch Handeln (im Sinne eines bewussten Entscheidens) zu ersetzen? Was ist Therapie anderes als die Wiederherstellung bzw. Erweiterung der Handlungsfähigkeit einer Person?
Hervorzuheben wäre an diesem Abschnitt noch vieles: der Hinweis auf Heinrich Gomperz so grundlegendes Buch (vgl. Gomperz 1907) über die Geschichte der philosophischen Thematisierung des Problems der Willensfreiheit (wie viel an Begriffsverwirrung hätten sich die Neurowissenschaften damit ersparen können!); der kurze Exkurs über die Arbeiten von Jochen Brandtstädter (1982 u. 1987) zur Frage, ob in vielen empirischen Veröffentlichungen der Mainstream-Psychologie nicht im Eigentlichen analytische anstatt synthetische Sätze – unsinnigerweise – „empirisch geprüft“ werden; der Nachweis, dass jede Handlungspsychologie – weil „Sinn“ und „Bedeutung“ nicht außerhalb von „Kultur“ existieren – sich logisch zwingend zu einer Kulturpsychologie erweitern muss, etc.
Als Überleitung zum zweiten, zum praktischen Teil stellen die beiden Autoren zunächst ein neues, aus den Prinzipien der Handlungstheorie abgeleitetes Forschungsparadigma vor. In Analogie zu einem Beratungsprozess, in dem ein Berater im Dialog gemeinsam mit seinen Klienten neues Wissen hervorbringt, soll sozialwissenschaftliche Forschung im Dialog zwischen Forscher und Beforschten und mit dem Ziel, einen Konsens zwischen ihnen herzustellen, neue Erkenntnisse über die soziale Praxis der Beforschten generieren. Die Pointe einer solchen „Beratungsforschung“ ist, dass in diesem Fall der Entstehungs- und der Anwendungszusammenhang des wissenschaftlichen Wissens gleichartig sind. Diese Art Forschung vermag, indem sie selbst Teil der Praxis wird, die sie beforscht, bestehende schlechte soziale Praxis tatsächlich zu korrigieren. Kapitel für Kapitel werden in der Folge mögliche Anwendungsfelder beispielhaft umrissen: Konfliktberatung, Verkehrspsychologie, Gerontologie, Umgang mit aggressivem Verhalten in Konfliktsituationen und Terrorismus. Als Anhang ist dem Buch noch eine Übersicht über Arbeiten zum aktuellen Stellenwert der Kulturpsychologie beigegeben.
In den vergangenen vierzig Jahren hat die Mainstream-Psychologie sich weniger durch Praxisrelevanz als durch konsequente Änderungsresistenz ausgezeichnet. Bei ständig wachsender Nachfrage nach psychologischem Wissen, z. B. gerade auch von noch jungen Berufsgruppen im Prozess ihrer eigenen Professionalisierung wie die Sozialarbeiter und ihre Sozialarbeitswissenschaft, droht sich die akademische Psychologie selbst zu marginalisieren. Lehrende, die praxisrelevante Psychologie unterrichten, Forschende, die konkrete soziale Praxis erfassen wollen, erhalten durch das Lehrbuch von Kaiser und Werbik brauchbare Alternativen aufgezeigt. Und eben auch jene sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die aufgrund ihres engen Praxisbezugs Schwierigkeiten haben, sich an rein akademischen Forschungsdiskursen zu orientieren: Das Paradigma einer „dialogischen Beratungsforschung“ könnte für eine um ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen ringende emanzipatorische Sozialarbeitswissenschaft jedenfalls von großer Bedeutung sein.
Gerhard Benetka / gerhard.benetka@fh-joanneum.at
Literatur
Benetka, Gerhard (1992): Psychoanalyse und Psychologie. In: Fallend, Karl / Reichmayr, Johannes (Hg.): Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse. Frankfurt: Stroemfeld, S. 222-263.
Brandtstädter, Jochen (1982): Apriorische Elemente in psychologischen Forschungsprogrammen. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 13, S. 267-277.
Brandtstädter, Jochen (1987): „A rose has no teeth“ – Zum Problem der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden in der Psychologie. In: ders. (Hg.): Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung. Berlin: de Gruyter, S. 1-12.
Gomperz, Heinrich (1907): Das Problem der Willensfreiheit. Jena: Diederichs.
Jervis, Giovanni (1999): Grundfragen der Psychologie. Berlin: Wagenbach.
Parin, Paul (1978): Warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen. In: Psyche, 32 (5-6), S. 385-399.