soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 11 (2014) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/322/565.pdf


Hubert Höllmüller:

Modell Graz1


Organisationstheoretische und entscheidungstheoretische Aspekte einer top-down Reform des Jugendamtes Graz


Kurzversion ohne Einleitung, Analyse der Selbstevaluation und Teile der Clusterung bzw. Interviewpassagen. Die Langversion ist beim Autor unter http://www.fh-kaernten.at/gesundheit-soziales/team/hoellmueller zum downloaden.


„Die Frage war und ist, wie versucht werden kann, in der Jugendwohlfahrt besser und punktgenauer zu steuern, und zwar sowohl fachlich als auch finanziell.“ (Krammer 2011: 33)


1.
In der Sozialen Arbeit, ob jetzt in Disziplin, Profession oder Praxis, scheint die Ansicht üblich, dass Hilfen2 das zentrale Geschehen darstellen. Die Frage, wie diese Hilfsprozesse organisiert sind, spiele dabei nur im Hintergrund eine Rolle. Auch das Modell Graz deklariert sich als innovatives Fachkonzept, dem die Organisationsstrukturen untergeordnet sind. Damit wird meines Erachtens jedoch der Blick darauf verstellt, dass die Art der Organisation sehr wohl auf die Beschaffenheit, oder modern geschrieben, auf die Qualität der Hilfen Einfluss hat. Um professionell zu helfen, muss organisiert werden. Das bestimmende Element von Organisationen sind Entscheidungen. Das „Was“ der organisationalen Tätigkeit hängt so unauflöslich mit dem „Wie“ und „Wer“ der diesbezüglichen Entscheidungen zusammen.3 In der Sozialen Arbeit wird zuallererst nicht geholfen, sondern entschieden, ob und wem wie geholfen wird. Werden die daran anknüpfenden Hilfen mit öffentlichen Geldern finanziert, so ist es im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe die Organisation Jugendamt, die die entsprechenden Entscheidungen trifft. Genauso trifft es auch die Entscheidungen, wann eine Hilfe abgebrochen, verlängert oder beendet wird. Mein Fokus auf das Grazer Modell, das seit 2010 in Projektform die Kinder- und Jugendhilfe grundlegend verändert hat, ist die Frage, wie sich die Entscheidungsstrukturen geändert haben und welche Effekte diese Änderungen zeigen.

Die Entscheiderinnen4 darüber, was als Fall gilt und was als Nicht-Fall, sind Sozialarbeiterinnen des Jugendamtes, die über Gebietsdefinitionen („Sprengel“) Zuständigkeiten besitzen und im Fall von Graz vor der Einführung der Sozialraumteams in kleinen Teams, in der Regel zwei Sozialarbeiterinnen, eine Psychologin und einer Vertreterin der Bürokratie, entschieden haben.5 Für die Organisation Jugendamt Graz bedeutete dies, dass bei vierzig bis fünfzig Sprengelsozialarbeiterinnen wöchentlich durchschnittlich 20 Teams unabhängig voneinander und von der Leitung diese Eingangsentscheidungen trafen. In dieser Struktur ist Steuerung kaum möglich6. Damit ist auch kaum möglich, verlässliche Budgets zu planen. Die generelle Tendenz der Ausgaben in diesem Bereich ist seit Jahrzehnten in Österreich, wie in anderen Ländern der EU, steigend. Hierzu das Jugendamt in der Begründung für das Projekt zu Situation und Alternative:

„Derzeitiges Verfahren:

Entsprechend dem Jugendwohlfahrtsgesetz wird ein Leistungsbedarf festgestellt, der von den am Hilfeplanverfahren beteiligten ProfessionalistInnen eingeschätzt und diagnostiziert wird. Auf dieser Grundlage übernimmt die öffentliche Hand die Finanzierung des ‚Falls’. Dies bedeutet:

1. Die öffentliche Hand finanziert genau das, was verhindert werden soll – nämlich die Entstehung und Bearbeitung von ‚Fällen’.

2. Es gibt keinerlei Steuerungsmöglichkeit bezüglich Fallmenge und Falldauer. (...)

Die Alternative:

Die Leistungserbringer (freie Träger, die derzeit pro ‚anfallenden Fall’ finanziert werden) erhalten jährlich ein fixes Budget, mit dem sie möglichst alle in einem bestimmten Gebiet (Sozialraum) entstehenden Jugendwohlfahrtsaufgaben bearbeiten müssen. (…) Die Steuerung vom bisherigen Verfahren hin zur oben beschriebenen alternativen Vorgehensweise erfolgt über eine Veränderung der Finanzierungsformen.“7

Seit 2010 werden Entscheidungen über Fall und Nicht-Fall, Über Hilfe und Nicht-Hilfe nun ausschließlich in den Sozialraumteams getroffen, wobei diese strukturell keine Teamentscheidungen sind – also das Ergebnis einer Mehrheitsmeinung der Beteiligten – sondern Entscheidungen der jeweiligen Leitung. (Auch wenn die Entscheidungsanfragen weiterhin von den Sozialarbeiterinnen eingebracht werden, kann die Leitung in jedem Fall etwas anderes festlegen, als besprochen wird.) Damit wurde top-down ein Steuerungsmechanismus geschaffen, der es der Leitungsgruppe (Jugendamtsleitung und die vier Sozialraumleitungen) ermöglicht, jeden einzelnen Fall- und Hilfeentscheidungsprozess zu kontrollieren und wenn nötig zu ändern.

„Die Stadt Graz ist heute in vier Sozialräume aufgeteilt (…) wobei diese Sozialräume die Funktion von Steuerungseinheiten haben. Dies äußert sich vor allem darin, dass in jedem dieser vier Sozialräume eine Sozialraumleitung in der Funktion einer Jugendamtsleitung tätig ist, also eine Führungskraft (…).“ (Krammer 2011: 34)

Beobachtet man die Budgetzahlen des Jugendamtes, liegt der Schluss nahe, dass die dahinterliegende Absicht ist zu sparen. Dies wird von den Protagonistinnen bestritten. Die niedrigeren Kosten seien nur ein „Nebeneffekt“ eines innovativen fachlichen Konzeptes. Wie aber lässt sich fachlich eine Budgetdeckelung begründen? Graz ist eine in allen Altersgruppen wachsende Stadt – wie lässt sich da mit Sicherheit auf fünf Jahre sagen, dass es zu keiner Ausgabensteigerung kommt? Und wie lässt sich eine Budgetunterschreitung fachlich begründen? Welche Studien begründen, dass alle Stadtteile bereits die nötige Infrastruktur für fallunspezifische oder fallübergreifende Arbeit8 besitzen, weshalb es fachlich begründet wäre, vorhandene Geldmittel lieber dem allgemeinen Stadtbudget zurückzugeben?

Der massive Umbau der Entscheidungsstrukturen sowie der Trägerstrukturen lässt meines Erachtens den Schluss zu, dass es sich um ein top-down eingeführtes Steuerungsmodell handelt, in dem es darum geht, Kosten zu sparen. Dazu ein Zitat aus einem Vertrag der Stadt Graz mit einem assoziierten Träger:

„Das derzeitige Finanzierungssystem soll durch ein neues auf Fallverkürzung und Fallbeendigung abzielendes (…) ersetzt werden (...).“

Welche Effekte bringt dieses Sparen mit sich? Auch hier sind die Zahlen deutlich: der Spareffekt war und ist eine massive Reduktion der Fallzahlen. (Von 2009 zu 2011 wurden die Unterstützung der Erziehung von ca. 4400 auf ca. 1900 reduziert, also mehr als eine Halbierung.)

Und wie wird diese Reduktion erreicht?

Erstens durch die Einführung von verpflichtenden Abläufen, die alleine durch ihre Aufwändigkeit die Quantität der Fälle beschränkt. Nachdem alle Beschlüsse für Hilfen im Sozialraumteam getroffen werden müssen, und dieses nur einmal pro Woche in der Form von Gruppenbesprechungen mit 15-20 Teilnehmenden tagt, ist hier ein effektiver Flaschenhals installiert. (Nochmals zum Vergleich: vor 2010 waren es rund 20 Teams pro Woche mit durchschnittlich vier Teilnehmenden.)

Zweitens durch geänderte Strukturen in Bezug auf die Auftragsvergabe an die Hilfe ausführenden privaten Betriebe, „freie Träger“ genannt, durch die Einsetzung von „Schwerpunktträgern“, die nicht mehr für konkrete einzelne Hilfen, sondern pauschal finanziert werden. Damit wird die Interessenlage der beauftragten freien Träger umgekehrt: war es vor 2010 so, dass ein expansionsorientierter „freier Träger“ daran interessiert war, möglichst viele und möglichst langfristig angelegte konkrete Hilfsaufträge zu bekommen9, kann er als pauschal finanzierter Schwerpunktträger10 zumindest indifferent gegenüber Quantität, Qualität und Dauer von zu leistenden Hilfen sein. In der Tendenz wird er aber ein Interesse daran entwickeln, eher weniger Hilfen mit geringerer Arbeitsintensität und kürzerer Dauer beauftragt zu bekommen. Wenn er in die Auftragserteilung einbezogen ist, wird er tendenziell Entscheidungen in diese Richtung bewirken wollen.

Und drittens durch eine massive Veränderung der Entscheidungsgrundlagen und die garantierte Umsetzung dieser Veränderung durch die neuen Entscheidungsstrukturen. Wie aus Dokumenten und den Interviewpassagen herauszulesen ist11, bedeutet „auf Fallverkürzung und Fallbeendigung abzielend“ eine Zurückdrängung einer der wesentlichen Methoden der modernen Sozialen Arbeit, der Beziehungsarbeit12 sowie des Präventionsgedankens in der Fallarbeit (früh helfen um Negativspiralen zu stoppen). Die per Gesetz erst vor kurzem im österreichischen ABGB festgelegte Definition von „Kindeswohlgefährdung“ wird tendenziell reduziert auf ein enges Verständnis von Gefahr im Verzug, das dann das einzig gültige Kriterium für den „Gefährdungsbereich“ im Grazer Modell darstellt13. Gesetzliche Sachverhalte wie Verwahrlosung werden in den „Freiwilligenbereich“ verschoben, wo als zentrales Kriterium der „Wille“ gilt – wo also Eltern ihre Kinder „nur“ verwahrlosen und sie keinen entsprechenden, nach bestimmten Formulierungen ausgerichteten „Willen“14 zeigen, entsteht kein Fall. Systemgemäß entscheiden nicht alle vier Sozialraumgruppen gleich. Es gibt orthodoxere und weniger orthodoxe. Dies führt zum Phänomen der sozialraumspezifischen Hilfen: Je nach Sozialraum kommt ein unterschiedliches Hilfespektrum zum Einsatz. Mit der rhetorischen Formel der „Passgenauigkeit“ lässt sich das nicht begründen. Wurde am alten System die „Versäulung“ kritisiert, „versäulen“ jetzt die einzelnen Sozialräume.

Entscheidungsstrukturen verändern, Entscheidungsgrundlagen verändern, etc. das mag gute oder schlechte Gründe und gute oder schlechte Effekte haben. Bei den Interviews war für mich interessant, inwieweit dies zu einer höheren oder geringeren Wahrscheinlichkeit für Fehlentscheidungen führt.15


2. Die Interviews
2.1 Die Methodik
Die Interviews wurden als narrative Interviews geführt, wobei die Eingangsfrage lautete: Was sind Ihre Erfahrungen mit der Neuorganisation der Grazer Jugendwohlfahrt? Wie sehen Sie das? Klärende Nachfragen wurden je nach Gesprächsverlauf gestellt. Anschließend wurden sie 1:1 transkribiert und eine Vorauswahl an Passagen zur Freigabe übermittelt. Bei einigen Gesprächspartnerinnen waren mehrere Rückschleifen notwendig. Dabei wurden auch sprachliche Veränderungen bzw. Umformulierungen durchgeführt. Das Endprodukt ist ein Dokument, wo diese freigegeben überarbeiteten Kurzfassungen aneinandergereiht sind.


2.2 Anonymisierung
Alle Interviewten wünschen, mit ihren Aussagen nicht erkannt zu werden, weil sie negative Konsequenzen fürchten. Damit keine Einzelperson rekonstruierbar ist, führe ich bei den Zitaten keinen Verweis wie Interview1 oder Interview2 an und damit auch keine Zeilenangaben. Selbstverständlich sind die Transkripte für interessierte Kolleginnen einsehbar.


2.3 Die Clusterung
Die Clusterung habe ich entlang der von mir zusammengefassten Items für Group-think und Entscheidungskorridore durchgeführt16, die von ihren Inhalten her auf emotionale Dimensionen (Abwertung, Überschätzung etc.) fokussieren. Die Items lauten wie folgt:

  1. Änderungsresistente Anfangspräferenz und hohe Bestätigungserwartung
  2. Abschottung nach Außen
  3. Direktive Führung
  4. Fehlen standardisierter Entscheidungsprozeduren
  5. Mangelnde bzw. beschönigende Erfolgskontrolle
  6. Selektive Informationsannahme
  7. Abwertung von kritischen Personen und Inhalten
  8. Selbstaufwertung
  9. Homogenität der Gruppe
  10. Abwertung von Entscheidungsfolgen

Die englischsprachigen Zitate, die in den Items verwendet werden, stammen alle von Psychologists for Social Responsibility (o. J.), ich habe sie zum Teil sinngemäß übersetzt.

Ergänzend habe ich meine eigenen Beobachtungen und Dokumentenanalysen eingefügt. Zahlreiche Passagen würden zu mehr als nur einem Item passen, ich habe mich aber dagegen entschieden, Wiederholungen zu machen.

Trotz der kritischen Haltung gibt es bei allen Interviewten kein Schwarz-Weißdenken. Es findet keine Umkehrung der Argumentation statt: Spricht die Projektleitung davon, dass vor dem Projekt alles falsch gemacht wurde, so meinen die Interviewten nicht, dass vorher alles schön und richtig war. Vielmehr wird die Grundproblematik des Modells so formuliert, dass fachlich interessante Überlegungen von einer top-down Steuerung konterkariert werden.


2.4 Item 1-10
2.4.1 Änderungsresistente Anfangspräferenz und hohe Bestätigungserwartung
„Self-censorship – Doubts and deviations from the perceived group consensus are not expressed.“ (Psychologists for Social Responsibility o. J.) – Selbstzensur: Zweifel und Abweichungen werden nicht in die Selbstdarstellung mit aufgenommen.

„Und wenn man gefragt hat, dann waren die Fragemöglichkeiten so eng und auch suggestiv, dass es auch keinen Spielraum für Diskussionen gab. Praxiserfahrung wurde nicht einbezogen. Es war als ob einer eine tolle Idee hatte und das stimmt ja auch grundsätzlich, aber es war auch so, als ob sie dafür ausschließlich gefeiert werden wollten und auch heute noch wollen und wenn einer Fragen stellte, dann wurde einfach nur autoritär geantwortet, dass es jetzt einfach so sei.“

„Das einzige was das Management bis heute dazu sagt ‚ihr könnt das noch immer nicht ihr Deppen’. Auch da geschieht keine Eigenreflexion, weil erst wenn etwas passiert, hingeschaut wird. Aber auch da verhält es sich so, dass das System schon so aufgebaut ist, dass man nicht das System hinterfragt, sondern wieder nur die einzelnen handelnden Personen im Feld.“

„Das haßt, was i glab, des spür i bei der Sozialraumorientierung, was vorgegeben wird und was dahinter steckt, dass san zwei ganz unterschiedliche Sachen. Und das wird nie offen kommuniziert, was könnt schwierig sein, wo könnt's Kritikpunkte geben. Es wird ein tolles Bild vorgeben, aber das is wie a Glaubensfrage. (…) Und wenn ich’s nicht diskutieren darf, stimmt was net. Und des is es glaub i, es darf nicht diskutiert werden und da stimmt was net, wenn man net hin schauen darf.“


2.4.2 Abschottung nach Außen statt Hinzuziehung externer ExpertInnen
„Stereotyped views of out-groups – Negative views of ‘enemy’ make effective responses to conflict seem unnecessary.“ (Psychologists for Social Responsibility o. J.)

„Abwertung des professionellen Kontexts: Andere Einrichtungen/Akteure/KollegInnen werden abgewertet. Man entwickelt die Ansicht, das eigene berufliche Handeln würde von anderen nicht verstanden. Man entwickelt die Ansicht, anderen sagen zu können, wie sie professionell handeln sollten. Andere theoretische Zugänge werden ohne entsprechende Argumentation abgelehnt.“ (Höllmüller 2009)

Der „Mentor“ des Projekts spricht diesbezüglich klare Worte und bestätigt dabei die Erläuterungen zu diesem Item:

„Wahrhaft abenteuerlich ist es, für welche Fehlinterpretationen die Konzeptvokabel ‚Sozialraumorientierung’ in den letzten Jahren – auch in österreichischer Fachliteratur – herhalten musste. Da kommt es zu aus der Luft gegriffenen Behauptungen, unbelegten Phantasien sowie wüsten Attacken (…). Solche Mythen werden landauf landab produziert und reproduziert und zwar interessanterweise von solchen Akteuren, die (…) ziemlich weit weg sind von der Praxis beruflicher Sozialarbeit und vornehmlich aus karrieristischem Kalkül ihre Publikationsliste erweitern wollen, damit sie anschließend profilkompatibel für eine Professur werden.“ (Hinte 2012: 4)

Meine Einladung in eines der Sozialraumteams war so gesehen durchaus ein mutiger Schritt in Richtung Öffnung, allerdings getragen vom ersten Item, also einer änderungsresistenten Anfangspräferenz mit hoher Bestätigungserwartung. Mein Hinweis im abschließenden Gespräch, sich zumindest für einzelne Falldiskussionen eine Außenperspektive zu holen, wurde mit dem Hinweis auf Datenschutz für undurchführbar erklärt. Mein weiterer Hinweis, dass ich ja auch soeben eine Falldiskussion beobachten konnte, wurde nicht gehört. Mein Vorschlag, das Verhältnis des Jugendamtes zur Kinder- und Jugendpsychiatrie zu klären, wurde an die Kinder- und Jugendpsychiatrie zurückgespielt.

Das wesentliche Indiz für eine Abschottung ist meines Erachtens der Druck auf die Akteurinnen, keine kritischen Äußerungen nach außen zu tragen. Die Angst vor Disziplinierungen ist auf Grund von entsprechenden Hinweisen und Vorfällen nicht unbegründet.


2.4.3 Direktive Führung versus demokratische Führung
Ein top-down Projekt ohne partizipative Elemente bei Verlagerung der Entscheidungskompetenz von unten nach oben.


2.4.4 Fehlen standardisierter Entscheidungsprozeduren statt Verwendung diskursiver Entscheidungsprozeduren
„Verengung des Diagnoseprozesses: Informationen zur Entscheidungshilfe werden unzureichend eingeholt. Eingeholte Informationen werden den eigenen Argumenten untergeordnet. Informationen, die die eigenen Argumente unterstützen, werden bevorzugt. Mögliche Risiken werden verharmlost. Es herrschen Denkverbote.“ (Höllmüller 2009)


2.4.5 Mangelnde bzw. beschönigende Erfolgskontrolle
Ausschließliche Selbstbewertung statt externer Perspektiven.

„Heute scheint diese Grundidee, nämlich Partizipation zwar propagiert zu werden, aber sie wird in der engen Struktur der Sozialraumteams völlig abgewertet. (…) Da werden Hilfen beschlossen, die niemals passgenau sind. Sie sind für das Management passgenau, aber nicht für die KlientInnen.“

„Das System darf niemals in Frage gestellt werden. Speziell die jungen KollegInnen werden nicht mehr zur Eigenreflexion aufgefordert und überströmen sich mit Vorurteilen gegen Kinder, Jugendliche und Eltern.“

„Bis jetzt hat’s einmal eine Erhebung gegeben, wie weit so zu sagen, die Ziele auch erreicht worden sind. Das war ja diese berühmte Evaluierung, die ja in Auftrag gegeben worden ist, dann wieder abblasen worden ist, das war im Dezember, genau im Dezember bin ich dazu aufgefordert worden, also per Mail diese Evaluierung vor zu nehmen. Und ich musste eine Einschätzung vorgeben, in wie fern die Ziele erreicht worden sind. Ganz, teilweise oder gar nicht, also diese drei Kategorien hat’s gegeben. Ich hätte dann auch Fälle, die ich scho über ein Jahr abgeschlossen hab‘ so zu sagen, mit dieser Familie hätt ich noch einmal Kontakt aufnehmen müssen und mit denen no amal gemeinsam so zu sagen, die Zielerreichung besprechen. Was natürlich kein Mensch gemacht hat, und das is wirklich eine inoffizielle Auskunft, sondern es hat ja jeder selbst eingeschätzt und (…) ja die SozialarbeiterInnen haben das auch so eingeschätzt und ja. Was mit diesen Daten dann passiert ist (...).“

„Fallunspezifische Arbeit heißt, du hast da Projekte. Im Team wird dann g‘sagt ihr müsst's mit eure Klienten, ihr müsst die motivieren, dass die dorthin gehen. Weil die Statistik wichtig ist – möglichst viele Teilnehmer. Da hab i amal an Fall ghobt, da war das Mädl eh schon die ganze Woche aktiv. I bin jedes Mal wieder g‘fragt worden: ‚Wieso kommt die net zum Projekt?’“

„Da haben die dann wirklich solche Blüten getragen, dass man nur noch fokussiert war auf das eine Ziel, dass auch Geld bringt, nämlich um achte in der Früh aufstehen. Ma hat außen vor g‘lassen, dass es inzwischen weitere Katastrophen geben hat, ja net hinschauen, wal des kennt ja meine Zielerreichung jetzt gefährden.“

„(…) Aber es wird alles so darg‘stellt, dass ois so wunderbar is und eigentlich wird die Qualität weniger. Net dass es net funktioniert oder Schwächen hat, das is okay, jedes neue System hat Schwächen, muss diskutiert werden, muss neu adaptiert werden. Aber so zu tun, als ob alles wunderbar ist und dabei müsste man viel genauer nachschauen, was da eigentlich passiert. I waß net woher des kommt, dass im Sozialbereich net mehr diskutiert wird. Alle, die nicht an das neue Modell glauben sind die Ketzer. Und die Dreieinigkeit diskutiert ma a net, weil da glaubt ma oder glaubt ma net. Im Sozialraum diskutiert ma nicht, kritisiert man nicht, sondern glaubt oder glaubt nicht.“

„Also (nehmen) wir einen Jugendlichen, der hat hat a schweres Drogenproblem. Erfolg kann sein, er is (betreut), aber in Wahrheit, mit seinem Einverständnis mit 18 entlassen, aber des is als Objektivierung Erfolg auf allen Linien (…).“

„Also i hab so das Gefühl, sie schauen a net hin. Weil dann müssten sie sich selbst a Stück weit oder ihre Arbeit a Stück weit in Frage stellen oder sich überlegen, was könnten sie anders machen.“

„Entscheidungen zu Hilfen dauern in Graz länger als in anderen steirischen Bezirken, meist ist dann schon eine massivere Hilfe notwendig. Wir haben da den direkten Vergleich. Es dauert länger, weil es bürokratischer geworden ist, bis so ein Fall durch das Sozialraumteam durch ist. Wir haben das rückgemeldet. Die Antwort war, dass alles seine Richtigkeit hat.“ (Höllmüller 2013)


2.4.6 Selektive Informationsannahme statt kontrafaktisches Denken
„Collective rationalization – Members discount warnings and do not reconsider their assumptions.“ (Psychologists for Social Responsibility o. J.)

„Self-appointed ‘mindguards’ – Members protect the group and the leader from information that is problematic or contradictory to the group’s cohesiveness, view, and/or decisions.“ (ebd.) – Selbsternannte „Gedankenwächter“ halten problematische und widersprüchliche Informationen von der Gruppe und der Leitung fern. Warnungen werden ignoriert.

„Die SRO ist eine reine Strukturveränderung und wurde jedoch als fachliche Veränderung verkauft. (…) Mit einem Wort jegliche Information ist eigentlich nicht als Information angekommen, sondern wurde als Beleidigung empfunden.“

„(…) für mi ist Sozialraumorientierung in Graz nur eine Umetikettierung, eine sprachliche Umetikettierung von der Jugendwohlfahrt und sozialräumliche Konzepterstellung, keine Ahnung was die Herrschaften bei der Herstellung 2008 gedacht haben, ich weiß nicht wo da die sozialräumliche Konzepterstellung sein soll. Ich hab mich viel damit beschäftigt mit diesem Wort Sozialraumorientierung, meiner, also meiner Einschätzung nach ist es ein Missbrauch dieses Worts. Ja. Und jetzt muss ich aufpassen, dass ich net zu politisch werd‘. Da wünsch ich mir afach auch mehr Ehrlichkeit und mehr Engagement, wenn ma Graz scho tauft, in den Sozialraum Graz, dann soll man sich bitte auch an die Fachliteratur halten und mal schaun, was bedeutet Sozialraumorientierung tatsächlich, wenn man es umsetzt und net nur, Jugendwohlfahrt einfach einen neuen Titel geben.“

„(…) i glaub es gibt da a (nennt einen Sozialraum) da werden Jugendliche a mit eingeladen. I waß net (…) ob sie es sonst tun, weils natürlich des is dann, da brichts dann. Sozialraum heißt ja vom Willen des Klienten ausgehen, wenn die KlientIn drin sitzt, können’s net na sagen. Und um des zu verhindern glaub i werden bestimmte a net eingladen, schätz ich jetzt amal.“

„Des is aner der Gründe, (…) wo i wirklich Kritik an den Trägern üben muss (…) Von am Tag auf den andern sogen, wir machen das alles und wir können das alles. Die behaupten das ja heit noch. Die Realität sagt wirklich was anderes. Das da net mehr Verantwortung den Klienten gegenüber da is. Das ma zumindest sagt in der Anfangsphase, das was wir können müssen, müss ma jetzt lernen und zieh ma die anderen noch herbei, und schau ma wie ma halt den Lernprozess gut überstehen ohne den Klienten großartig zu schaden. Aber sofort die Haltung einnehmen, ‚Wir sind die Schwerpunktträger, wir machen alles’, is mir ein Rätsel.“

„(…) Es heißt ja, der Fall soll lösungsorientiert, ressourcenorientiert geschildert werden, was kann die Familie schon alles, was ist eigentlich positiv dran. Und wenn das dann passiert, heißt es, die hat so viele Ressourcen, die braucht nix. (...) Die Sozialarbeiterinnen kommen in die Position für ihre Klienten zu feilschen (...).“

„(…) dass es ein Einsparungsmodell ist, das ist irgendwie klar, es geht einfach um nachbarschaftliche Ressourcen im Bezirk die möglichst ehrenamtlich oder kostenlos sind. Da gibt’s ja auch viel Gutes, aber Graz ist zu klein (…) um es in vier Sozialräume einzuteilen. Und dann denkt man die Leute halten sich an die Sozialräume. Das sind künstliche Konstrukte (...) I glaub das man die Leute eher abschreckt, aktivieren tut man sie nicht dadurch, dass man ihnen keine Hilfe zur Verfügung stellt. Also des is glaub ich der Punkt, das ma glaubt, wenn ma so zu sagen kurzzeitig eine Hilfe in die Familie gibt, ihnen Tipps gibt, mit ihnen ein paar Sachen erarbeitet, dass des dann umsetzbar ist. Das is bei einer gewissen Bevölkerungsschicht umsetzbar, und bei anderen is des net umsetzbar (…) diese Umstrukturierung hat eigentlich dazu geführt, dass es totale Zerwürfnisse gibt (...).“

„Die Kinder- und Jugendpsychiatrie darf keinerlei Empfehlungen zu Jugendlichen abgeben, obwohl diese sie teilweise monatelang kennt, sie darf nur diagnostizieren, sonst pocht das Jugendamt auf seiner Autonomie und Expertenschaft. Es gibt 2mal pro Jahr ein Treffen mit den Sozialraumleitern, wo über schwierige Fälle gesprochen wird, dort wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass keine Empfehlungen abgeben werden sollen, weil dadurch auch Bedürfnisse bei den KlientInnen und deren Eltern hervorrufen, die vom Jugendamt nicht gewollt sind.“ (Höllmüller 2013)


2.4.7 Abwertung von kritischen Personen und Inhalten statt Konflikt- und Fehlerkultur („At least one articulate and knowledgeable member should be given the role of devil's advocate (to question assumptions and plans)“ (Psychologists for Social Responsibility o. J.).)
„Direct pressure on dissenters – Members are under pressure not to express arguments against any of the group’s views.“ (ebd.) – Direkter Druck auf Andersdenkende. Mitglieder werden unter Druck gesetzt, keine Gegenargumente zu äußern.

„Und man wird ja a im Sozialraumteam immer wieder bloß gestellt. ‚Und jetzt hab ich das schon so oft gesagt und jetzt machst du das noch immer nicht und jetzt ist es noch immer nicht richtig und des des.’ Des is ja total arg, da vorm Träger und man stellt die falsche Frag (…) Also des is a ganz a ganz a schirche Stimmung.“

„(…)I man i waß i net, man muss si des irgendwie vurstellen, als wie wann ma im Schwimmbad schwimmt und plötzlich san do Reißnägel drinnen, also irgendwas was überhaupt net einipasst. (…) du schwimmst und es san Reißnägel drinnen und es passt überhaupt net dazua und du bist in einer Stimmung, wo’s dich eigentlich öffnen sollst und dann wirst aber total verletzt dabei. Genau so is es, also genau so is. (…) Und des soll so ein Kreativraum sein, für die Lösungen und des is aber so, dass alle nur gelähmt san drinnen (...).“

„Es wurde freundlichst gesagt, dass das was bisher von Sozialarbeiterinnen geleistet wurde, schlicht Scheiße war.“

„Keine Diskussionen sind erlaubt, keine Hypothesenbildung. Diskussionen sind nur über Lösungen erlaubt, nicht jedoch über die fachliche Auseinandersetzung. Ich gewann den Eindruck, dass die Meinung der SozialarbeiterIn nicht mehr gefragt ist. Im Gegenteil. Ein System der Prüfung wird zwar nach wie vor bestritten, es wird so erlebt! Die Schuld für diese Wahrnehmung jedoch wieder den handelnden Personen zurückgeworfen. Die Sozialarbeiterin berichtet also die erhobenen facts, die Meinungen über diese facts dürfen sich nur die anderen bilden und die schlagen dann Hilfen vor aufgrund dieser Meinungen, die nicht diskutiert werden dürfen.“

„Wenn Sozialarbeit aber als multiprofessionelle Berufspraxis ständig öffentlich abgewertet wird, was soll da dann dabei rauskommen?“

„‚Fachlichkeit’ ist ein in der Sozialen Arbeit arg tabuisiertes Thema, das allenfalls leerformelhaft abgehandelt wird.“ (Hinte 2012: 4)

„Auf der Ebene der Schreiber/innen gibt es immer mal wieder eine Veröffentlichung zu diesem Thema, von der man nicht weiß, ob sie überhaupt und – wenn ja – von wem gelesen wird.“ (ebd.)

„Geradezu gebetsmühlenartig meinen Kritiker dennoch, dass diese Neuausrichtung der Sozialen Arbeit ausschließlich von Spargedanken getragen sei, was ein aufmerksamer Blick in die Budgets sehr rasch entkräften würde. Richtig ist nämlich vielmehr, dass heute natürlich kein einziger Euro weniger für diesen Bereich eingesetzt wird, das Gegenteil ist der Fall. Die Dynamik der Budgetentwicklung – bis zu 20 Prozent und mehr Steigerung pro Jahr – konnte jedoch deutlich abgeflacht werden.“ (Eisel-Eiselsberg 2012: 10)

„(…) also (haben) schon bei den Fortbildungen der SozialarbeiterInnen mehrere g‘ sagt sie haben das G‘ fühl, das ois was sie bis jetzt g‘ macht hoben, als wertlos angesehen wird, also voll komplett, das war ois Scheiße, ja tschuldigung, das is net ganz einfach. Das is bei ihnen so ankommen. Und die große Enttäuschung und der große Frust (...).“

„(…) Das war a net in Ordnung, was da teilweise g‘macht worden is und wie sehr Sozialarbeiter dann a ihren Ärger, ihre Meinung net sagen haben dürfen und wie sehr sie auch stigmatisiert worden san, als die bösen Sozialarbeiter, die da jetzt immer quer schießen, weil da so was Neues Superes gmacht wird. Dann san a fachliche Argumente eigentlich abgeprallt (...).“

„Die Globalfinanzierung entbindet freie Träger davon, auf ‚Fallsuche’ zu gehen, um finanziell überleben zu können, sondern bietet ihnen eine finanzielle Sicherheit, die eine fachliche Praxis erlaubt, die auf Fallbeendigung zielt, also auf Verselbständigung der KlientInnen anstelle von zum Teil jahrelangen Hilfeverhältnissen, die zwar ‚irgendwie’ argumentiert wurden, aber mitunter doch auf sehr merkwürdigen Begründungen beruhten.“ (Krammer 2011: 36)

„Früher wurde das direkt mit den SozialarbeiterInnen ausgehandelt, jetzt heißt es, ich nehme das mit ins Sozialraumteam, aber ich weiß nicht, was da beschlossen wird. Die Sozialarbeiterinnen erleben sich jetzt selber weniger wirkmächtig.“ (Höllmüller 2013)


2.4.8 Selbstaufwertung
„Belief in inherent morality – Members believe in the rightness of their cause and therefore ignore the ethical or moral consequences of their decisions.“ (Psychologists for Social Responsibility o. J.)

„Abwertung des professionellen Kontexts: (…) Man entwickelt die Ansicht, anderen sagen zu können, wie sie professionell handeln sollten. Man vertritt die Ansicht, besonders hohe moralische Positionen zu vertreten.“ (Höllmüller 2009)


2.4.9 Homogenität der Gruppe statt heterogene Gruppen und Dissensförderung
„Illusion of unanimity – The majority view and judgments are assumed to be unanimous.“ (Psychologists for Social Responsibility o. J.)


2.4.10 Abwertung von Entscheidungsfolgen
„Illusion of invulnerability –Creates excessive optimism that encourages taking extreme risks.“ (ebd.)

„Mögliche Betroffene von Entscheidungsfolgen werden abgewertet. Die (möglichen) Entscheidungsfolgen werden präventiv ausgeblendet. Die (möglichen) Entscheidungsfolgen werden verharmlost. Es herrscht die Illusion, mögliche Fehlentscheidungen können keine negativen Auswirkungen haben.“ (Höllmüller 2009)

„Die absoluten Verlierer, san, kann ma sagen die ausländischen Mitbürger, weil praktisch diese ganzen Integrationshilfen weg g’foll‘n san. Also diese, de des war jo wirklich guat, die Betreuung. Des war net umsonst die Hilfe die ma leisten. Weil das hat total guat g‘holfen, des hot wirklich für Integration vü bracht. (…) i glaub die benachteiligten Kinder zahlen a drauf. Weil ja dieser ganze Graubereich praktisch ka Unterstützung mehr kriagt. Wannst die Eltern net dazu bringen kannst, dass die Ziele erarbeiten, dann fallen die alle durch den Rost, net. Und deswegen san a so wenig, damit erklär i mir, dass es so wenig Hüfen san, wal de olle durch den Rost foin. Und da g‘winnt ja eher die Mittelschicht, mit dieser Freiwilligkeit, de sich‘s wahrscheinlich eh leisten könnten.“

„Seit August 2010 haben 28 Mitarbeiter, also 28 Sozialarbeiter das Jugendamt verlassen, wobei wahrscheinlich drei oder vier Pensionierungen dabei waren.“

„Ob es rechtlich zusammenpasst macht scheinbar auch niemandem etwas aus.“

„Es wird ihnen (den KlientInnen) allerhand zugeschrieben, jedoch kaum zugehört. Sie haben es bisher ausgehalten, heißt es, das sind normale Pubertätskonflikte, es gebe eine Resilienz usw. Es scheint nicht darum zu gehen was wirklich ist, sondern um die Zuschreibung, dass SozialarbeiterInnen, die sich engagiert für Jugendliche einsetzen vorab einmal ein Retterdenken und Retterverhalten (haben).“

„Zielarbeit ist schon Hilfe, aber das fühlen KlientInnen oft anders. Sie sehen oft nur, dass ein Haufen Termine auf sie zukommt, zusätzlich zu dem Alltagsstress. Das fühlt sich nicht entlastend an. Das erhöht den Druck. Das kann einem Kinderschutz nicht dienlich sein, auch keiner Abwendung einer drohenden Gefährdung. (…) In der SRO wird Hilfe jedoch bereits im Vorfeld abgewürgt. Wenn es keine Ziele gibt, dann gibt es ein Warten auf eine Krisensituation und fertig.“

„Genau da steht ja durch ein neues auf Fallverkürzung und Beendigung, abzielendes Finanzierungsmodell. Also dieses Modell Sozialraumorientierung Graz, soll auf Fallverkürzung und Fallbeendigung abzielen. Besteht natürlich schon die Gefahr des Missbrauchs, seh ich absolut, also das könnte man sicher ausnutzen, wenn man wollte.“

„Ich glaub viele werden, viele Familien mit diesen Problemlagen werden nicht mehr berücksichtigt, (…) in Prävention wird sicher kein Euro verschwendet, a net verwendet. Nix fertig, weil das hat man doch absehen können. So viel G‘spiar kriegt man doch in der Arbeit, wenn Kind fünf, Kind vier und Kind drei Jahre alt, starke Entwicklungsverzögerungen haben, wird Kinder Nummero waß i net vier oder fünf a net mit so viel besseren Start haben. Und da war das früher völlig normal und es war halt a des, i glaub da könnt ma a Statistik führen. Kinder die sich ganz gut entwickelt haben, die haben von Geburt weg Betreuung g‘hobt, weil des war ja a zu sehen, dass des wo auch die Eltern tatsächlich an Kompetenz gewonnen haben.“

„Immer wenn jemand a Problem hat, (...) dann muaß das über viele, viele, viele Stellen laufen, die Problematik wird abstrahiert und bis dann irgendwann amal a Unterstützung kommt haben die entweder selber gut überstanden oder gehen grad unter. Das ist wie a Schulmädchen Rechnung – So, schau ma mal, wer‘s schafft. (…) und was wird aus denen, die des net schaffen mit den vier Monaten, des wär zum Beispiel a interessante Interview-Frage. Hat schon mal wer diese Frage g‘stellt?“

„(…) aber des, dass des die Überschrift für alles is ‚Passgenauigkeit’. Es war no nie so weit weg vom wahren Bedürfnis des Kunden wie jetzt. Weil anfach die Entscheidungen, die getroffen werden, welche Unterstützungsmaßnahme eingeführt werden kann, net die Menschen entscheiden dürfen, die nah dran sin, am Fall. Sondern ganz abgehoben(…).“

„Ein 15-jähriges Mädchen lebt seit einigen Monaten auf der Straße und würde, nach großen Bemühungen der Mutter, das Angebot der Mobilen Wohnbetreuung in Anspruch nehmen. Das Jugendwohlfahrtsteam hat sich dagegen entschieden und Angebote gemacht, die für die Mutter und die Tochter in der aktuellen Situation keine Hilfe waren. So sollte z. B. der psychisch belastete Vater aus dem Ausland zurückkommen und mit Hilfe seiner geschiedenen Frau seine väterlichen Kompetenzen aufbauen. Weiter sollte das Mädchen über Psychotherapie stabilisiert werden, was vom Mädchen weder gewünscht noch verstanden wurde. Das Mädchen blieb unversorgt, die Mutter alleingelassen in ihrer Problematik.“

„(…) i glaub dass es zu einer wirklichen Verwahrlosung kommt in unserer Gesellschaft, a Stück weit. Dass es da wirklich zu einer Verschlechterung der Situation kommt. Und wie damals in Berlin, es werden gravierende, auffallende Fälle passieren, wo doch irgendwer, irgendwann hinschauen muss, weil a Kind stirbt, oder wal’s afach Gewalt gibt und diese Dinge, die dann einfach in die Schlagzeilen kommen. Diese Dinge werden passieren, oder san schon passiert.“

„(…) Also diese Familien, die chronisch gefährdet sind, weil sie einfach die Kompetenzen net haben, Kinder zu fördern und entsprechend zu versorgen oder ganz grenzwertig versorgen. Wo man immer g‘sagt hat, das ist eine chronische Vernachlässigung. Die sind jetzt im Freiwilligenbereich. (…) Es geht immer darum, ob die Eltern das Kind gefährden. (…) Net ob des Kind gefährdet is, weil es net folgt oder weil es net nach Hause kommt. Es geht immer davon aus, ob die Eltern das Kind gefährden. (…) Früher wurde mit dem Kinderschutzbogen gearbeitet, der ist wirklich detailliert, diese ganzen Faktoren wurden ang‘schaut, und dann hat man überlegt, wie stark die Gefährdung ist. (...) Des hat sich jetzt schon verändert (…) das muss jetzt schon wirklich extrem sein (…).“

„Weil es in Graz so lange dauert, bleiben Klientinnen auch länger im Krankenhaus bzw. – müssen öfter hier sein. (Eine konkrete Person wird genannt.)“ (Höllmüller 2013)


3. Abschluss
Ich sehe auf Grund der Interviewpassagen die Hypothese bestätigt, dass sich im Modell Graz eine deutliche Groupthink-Dynamik und damit verbundene Entscheidungskorridore herausgebildet haben. Damit ist die Wahrscheinlichkeit für Fehlentscheidungen sowohl auf fachlicher als auch auf organisatorischer Ebene hoch. Im Unterschied zur Jugendamtsleitung, die ja meine Hypothese bereitwillig bestätigt hat, bin ich nicht der Ansicht, dass sich diese Tendenz durch interne Bemühungen reduzieren lässt. Eine unerlässliche Außenperspektive müsste einerseits die Erfahrungen der Sozialarbeiterinnen aktivieren und andererseits die Selbstbeschreibungen der zentralen Akteurinnen kritisch hinterfragen.

Generell ist das Modell Graz eindeutig ein Einsparungsmodell, wo durch Deckelung der Budgets, Änderung der Entscheidungsstrukturen, Änderung der Entscheidungsgrundlagen und Änderung der Zusammenarbeit mit den hilfedurchführenden Firmen Einsparungen top-down gesteuert werden können.

Weiters geht es um die Frage nach der politischen Verantwortung dafür, dass dieses Modell installiert wurde, das einen Teil der im Gesetz definierten Zielgruppe tendenziell ausschließt. Wenn dies weiter der politische Wille ist, erübrigt sich jegliche Bemühung, Entscheidungsstrukturen und Fachlichkeit weiter zu entwickeln.


Verweise
1 Die Selbstbeschreibung der Projektverantwortlichen lautet „Sozialraumorientierung“, ich verwende diese Bezeichnung nicht, weil es meines Erachtens in erster Linie um ein top-down Organisationsentwicklungsprojekt geht und erst in zweiter Linie um fachliche Entwicklung.
2 Es ist immer noch dieser recht traditionelle Begriff „Hilfe“, der den rechtlichen Rahmen bestimmt.
3 Wer also eine Organisation – zu welchem Zweck auch immer – steuern möchte, muss in diese Entscheidungsstrukturen eingreifen.
4 Ich verwende stellvertretend die weibliche Form.
5 „(…) hat’s diese Jugendwohlfahrtsteams geben, das waren damals schon zwei Sozialarbeiter, eine Psychologin, die Jugendhilfereferentin in Vertretung für die Jugendamtsleitung. Und im Grunde genommen san alle Entscheidungen in diesem Team getroffen worden (...).“
6 „(...) i glaub der Donnerstag war immer der Teamtag und zwanzig waren des schon locker. Des war net steuerbar.“

Wie auch in vielen anderen Jugendämtern lässt sich bei Abschätzung der Jahresausgaben finanziell steuern, indem interne Vorgaben ausgegeben werden, statt „teurer“ „billige“ Hilfen einzusetzen und Ähnliches.
7 „Die öffentliche Hand finanziert genau das, was verhindert werden soll – nämlich die Entstehung und Bearbeitung von ‚Fällen’“. So einfach lässt sich das darstellen.
8 Wofür es genügend Konzepte gibt, deren Umsetzung vielerorts nur an fehlenden Geldmitteln scheitert.
9 Ein nicht-expansionsorientierter Betrieb war und ist an einer Auslastung seiner MitarbeiterInnen interessiert.
10 Die Stadt Graz wurde wegen der Einsetzung von vier Schwerpunktträgern ohne Ausschreibung wegen Verstoß gegen das Vergaberecht erstinstanzlich verurteilt. (In zweiter Instanz wegen Formfehlern freigesprochen.)
11 Es handelt sich hierbei um Ableitungen, denen meines Erachtens dringend nachzugehen ist und die nicht mit einer kaum nachvollziehbaren Selbstevaluation widerlegt werden können.
12 Beziehungsarbeit verlangt Personaleinsatz und ist damit kostenintensiv. Somit lässt sich hier auch sehr einfach sparen.

„Beziehung als solche wird pauschal abgewertet, im nächsten Augenblick der Qualitätskatalog zitiert wo Beziehung an sich wertgeschätzt wird.“

„Es is bei informellen Gesprächen, auch beim Dachverband der Jugendwohlfahrtsträger, davon gesprochen worden, dass de facto Beziehungsarbeit gar nicht erwünscht ist. Es steht die Fallverkürzung, die Fallbeendigung, die rasche Fallbeendigung steht im Vordergrund. Mein Zugang und ich sprech jetzt auch für meine Kollegen und Kolleginnen, unser Zugang ist da ein Anderer.“

„Hochprofessionell ist, du musst dich abgrenzen, du musst jederzeit ersetzbar sein, es muss jeder andere a dort eine gehen kennen. Und das Wort Beziehungsarbeit war ganz schlimm, also ein ‚No Go’ - das Wort. (…) Des war vom Geschäftsführer im Schwerpunktträger. Der selber lang Betreuer war. (…) I glaub irgendwann in einem Team hat amal wer g‘sagt, das derf ma bitte net sagen. (…) Und der Geschäftsführer hat sowieso immer sofort g‘sagt (…) ‚So schnell wie möglich aufhören’. Das war immer sei Ding was er ein‘brocht hot, bei den Ideensammlungen (…)“
13 „Also eine Gefährdung is nach’m, nach Zitat (nennt eine Sozialraumleitung), ‚Eine Gefährdung ist nur dann gegeben, wenn Handlungen oder Unterlassungen eine Gefahr für Leib und Leben für ein Kind besteht’. (…) es is a sehr enger Gefährdungsbegriff. Des, wobei es in der Praxis wieder ganz anders ausschaut, des is dann wieder dieses Beliebige an diesem Modell. Des is halt dann, wenn a Sozialraumleiter glaubt, des is sehr wohl eine Gefährdung, dann is es eine Gefährdung. Das is ganz schwierig, also des mit der Bereichseinordnung (...). Aber von der Definition her is es amal so.“

„Im Freiwilligenbereich bist du dann, als Eltern wenn du dein Kind net durch Handlungen oder Unterlassungen gefährdest. Bei Leib und Leben, also wirklich schwer gefährden.“
14 Die Definition im Grundsatzpapier des Jugendamtes 2009: Wille = eigene Motivation für Veränderung.
15 Irving Janis formuliert etwas moderater: „Decisions shaped by groupthink have low probability of achieving successful outcomes.“
16 Group-think und Entscheidungskorridore: vgl. Janis 1972, Janis 1982, Schulz-Hardt 1997 und Höllmüller 2009.


Literatur

Eisel-Eiselsberg, Detlev (2012): Neue Herausforderungen – neue Instrumente. In: SiO (Sozialarbeit in Österreich), Sondernummer 1/12, S. 10.

Hinte, Wolfgang (2012): Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. Grundlage und Herausforderung für professionelles Handeln. In: SiO (Sozialarbeit in Österreich), Sondernummer 1/12, S. 4-9.

Höllmüller, Hubert (2008): Entscheidungsprozesse und Erwartungserwartungen: Zur Genese von Entscheidungsprozessen auf Grundlage der Theorie selbstorganisierender Systeme. Saarbrücken: VDM Verlag.

Höllmüller, Hubert (2009): Entscheidungskorridore in der Fallarbeit. Unveröffentlichte Seminarunterlage.

Höllmüller, Hubert (2013): Gedächtnisprotokoll eines Gespräches an der Kinder- und Jugendpsychiatrie Graz

Janis, Irving (1972): Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-Policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton Mifflin.

Janis, Irving (1982): Groupthink: Psychological Studies of Policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton Mifflin.

Krammer, Ingrid (2007): Der Grazer Weg zur Sozialraumorientierung in der Jugendwohlfahrt. In: Haller, Dieter / Hinte, Wolfgang / Kummer, Bernhard (Hg): Jenseits von Tradition und Postmoderne: Sozialraumorientierung in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Weinheim/München: Juventa Verlag, S. 151-160.

Krammer, Ingrid / Riegler, Günter (2011): Jugend- und Familienhilfe. Qualität trotz knapper Kassen? In: Sozial Extra, 35(1/2), S. 32-36.

Krammer, Ingrid (2012): Sozialraumorientierung – ein Fachkonzept für ein ganzes Amt. In: SiO (Sozialarbeit in Österreich), Sondernummer 1/12, S. 11-13.

Psychologists for Social Responsibility (o. J.): What is Groupthink? http://www.psysr.org/about/pubs_resources/groupthink%20overview.htm (22.11.2013).

Sandner-Koller, Edith (2012): Inhalt, Form und Struktur: Hilfeplanung im Rahmen sozialräumlicher Arbeit. In: SiO (Sozialarbeit in Österreich), Sondernummer 1/12, S. 17-19.

Schulz-Hardt, Stefan (1997): Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen. Vom Groupthink zum Entscheidungsautismus. Bern: Hans Huber Verlag.

Sixt, Helmut (2012): Sozialraumorientierte Jugendwohlfahrt – Eine Herausforderung für die Sozialarbeit. In: SiO (Sozialarbeit in Österreich), Sondernummer 1/12, S. 14-16.

Wirnsberger, Sabine (2012): Der „Wille“ und die „richtige Maßnahme“ – passgenaue Hilfen statt Versäulung. In: SiO (Sozialarbeit in Österreich), Sondernummer 1/12, S. 25-26.


Dokumente des Jugendamtes Graz

Positionspapier der Amtsleitung des Amtes für Jugend und Familie zur Grazer Sozialraumorientierung.

Sozialraumorientierung in der Stadt Graz im Bereich Jugendwohlfahrt – Einführung eines Sozialraumbudgets, Fachlich–konzeptionelle, organisatorisch-strukturelle und budgetäre Grundlagen (Grundlagenkonzept) Mai 2009

„Häufig gestellte Fragen zur Sozialraumorientierung“

6. Zwischenbericht für das Jahr 2011

Geschäftsbericht 2012

Hilfeplanverfahren, Erste überarbeitete Version – Stand Mai 2012


Über den Autor

FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller, Jg. 1962
h.hoellmueller@fh-kaernten.at

14 Jahre Berufserfahrung in der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Drogenhilfe

Seit 10 Jahren an der FH Kärnten, Studiengang Soziale Arbeit

Mitbegründer und Leiter der Jugendnotschlafstelle in Klagenfurt