soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 12 (2014) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/331/1451.pdf
Mihajlo Grbavac-Palmisano & Bernd Leidl:
1. Einleitung
Frauen sind in der Migrationsforschung ein Randphänomen, genauso wie innerhalb der Soziologie und der Sozialwissenschaften. Das Selbe gilt für Migrantinnen ganz allgemein in der öffentlichen Wahrnehmung sowie für die mediale Berichterstattung und populärwissenschaftliche Literatur. Die Vielfalt der sprachlichen, kulturellen, religiösen, sozio-ökonomischen Herkünfte gerät dabei in den Hintergrund (vgl. Korun 2004: 69).
Obwohl innerhalb der Migrationsforschung schon seit den 1980er-Jahren das Handlungsinteresse und die Motive von Frauen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt sind, findet in der Öffentlichkeit nach wie vor eine Verzerrung und Vereinseitigung darüber statt. Auch in der gegenwärtigen Transmigrationsforschung hat die differenzierte Untersuchung von unterschiedlichen Migrantinnengruppen gerade erst begonnen (vgl. Treibel 2010: 155).
1.1 Erkenntnisinteresse
Aus diesem Mangel an fundierten Forschungsergebnissen erklärt sich das Interesse der Autoren, eine Nachzeichnung und Gegenüberstellung der Biografien von zwei Migrantinnen mit besonderem Fokus auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit deren Erwerbstätigkeit in Österreich durchzuführen. Das zentrale Erkenntnisinteresse besteht darin, die subjektiven Erfahrungswerte und Sichtweisen der ausgewählten Zielgruppe mittels biografisch-narrativen Interviews sichtbar zu machen. Dadurch soll eine differenzierte Sichtweise auf Frauen, Migrantinnen bzw. Fremde als handelnde Subjekte ermöglicht werden. Zudem untersuchen die Autoren inwieweit die (fremden-)rechtlichen Entwicklungen einen Einfluss auf den Migrationsverlauf der betroffenen Frauen hatten.
Der konkrete Untersuchungsgegenstand ist der Vergleich der Biografien von zwei Frauen, die aus derselben Region aus Bosnien und Herzegowina (BiH) stammen, gleicher ethnischer und soziökonomischer Herkunft sind und ihre berufliche Tätigkeit im Hilfsarbeitssektor verrichten. Eine Interviewpartnerin ist in den 1970er-Jahren im Zuge der Gastarbeiterbewegung im Alter von 17 Jahren als jugoslawische Staatsangehörige immigriert, die Andere in den 2000er-Jahren nach der ersten ÖVP/FPÖ Koalition bzw. unter der Schüssel-I-Regierung in ihrem 40. Lebensjahr und als bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige. Somit ergeben sich die wesentlichen Unterschiede aus dem Zeitpunkt der Migration und dem Alter der Frauen.
Dahingehend wurde folgende Forschungsfrage formuliert: „Worin unterscheiden sich die persönlichen Strategien zweier Arbeitsmigrantinnen aus Bosnien und Herzegowina, die zu verschiedenen Zeitpunkten immigriert sind, im Umgang mit den Herausforderungen am österreichischen Arbeitsmarkt?“
Die Autoren untersuchen in diesem Kontext auch die Selbstverortung der befragten Frauen hinsichtlich der Trias Klasse, Ethnie und Geschlecht, da Fremdheit als übergeordnete Begrifflichkeit, wie auch die wissenschaftlich fragwürdige Großkategorie Frau zu vage sind, um die komplexen Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse in soziotechnischen Systemen erfassen zu können.
1.2 Vorannahmen Eine konkrete Vorannahme ist, dass besonders im Verlauf der Erwerbsbiografie und der Arbeitsmigration bei den befragten Frauen verschiedenste Unsicherheiten erlebt wurden. Darunter verstehen die Autoren mögliche diskriminierende Erfahrungen im Alltag und am Arbeitsplatz, Bildungsarmut, sprachliche Barrieren und die Zuweisung zu niedrig entlohnten und körperlich beanspruchenden Tätigkeiten, die im weiteren Verlauf zum Phänomen der Ethnisierung im Alltag geführt haben könnten:
„Diese Zuweisung von Tätigkeiten mit niedrigem Prestige und schlechtem Image an eingewanderte Frauen schreibt ihnen einen sozial niedrigen Status zu. Denn wem welche Arbeit gesellschaftlich zugeschrieben wird, ist ein Ausdruck von seinem/ihrem gesellschaftlichen Status und bedeutet die (Re-)Produktion von gesellschaftlichen Machtstrukturen und sozialen Beziehungen – nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den ‚Ethnien’.“ (Korun 2004: 75)
2. Biografische Forschung
Da eine Vielzahl unterschiedlicher und komplex zusammenwirkender Faktoren im Zusammenhang mit Migration und den damit einhergehenden Phänomenen vorausgesetzt werden muss, eignet sich qualitative Forschung hervorragend zur Untersuchung dieses Forschungsgegenstandes. Biografische Forschung im Speziellen widmet sich ganz klar dem Individuum. Dabei akzeptiert sie, dass die Biografie des bzw. der Einzelnen immer auch ein soziales Konstrukt ist, verlagert den Schwerpunkt ihrer Betrachtung aber darauf, individuelle Formen der Verarbeitung gesellschaftlicher und milieuspezifischer Erfahrungen zu studieren. Qualitative Forschung allgemein und biografische Forschung im Besonderen, stellen sich also der Komplexität des Einzelfalls (vgl. Fuchs-Heinritz 2009: 9-13, Lamnek 1995: 92, Marotzki 2005: 176-179).
2.1 Argumentationen der Methodenwahl
Im Mittelpunkt der sozialarbeiterischen Intervention steht zuallermeist ein konkreter Mensch. Ausgehend vom Individuum gewinnen die umgebenden sozialen Verbände, Milieus und gesellschaftlichen Strukturen, mit denen das Individuum handelnd in Beziehung steht, für SozialarbeiterInnen erst an Relevanz. Gerade die Ich-Perspektive, die in den Ergebnissen von biografischer Forschung ersichtlich wird, kann für Soziale Arbeit also von großer Bedeutung sein. Was die Erhebungsmethoden betrifft, so bestehen einige offenkundige Parallelen zwischen biografischer Forschung und der sozialen Diagnostik.
Biografische Forschung ist ein gut geeignetes Instrument, um der subjektiven bzw. individuellen Sicht von einzelnen Menschen Raum zu verschaffen. Dies erscheint vor dem Hintergrund der Fülle an quantitativem und fremdbestimmten Material zur Lebensgeschichte eines Menschen durchaus angebracht zu sein, dreht es sich hierbei doch immer auch um die Frage nach der Identität. Gerade im Umgang mit Menschen in krisenhaften Episoden, müssen Fragestellungen bzgl. der Selbstverortung und der Identität besonders umsichtig behandelt werden. Dies ist ein weiterer Grund für die Methodenwahl, da im Zusammenhang mit Migration jedenfalls von einem Phänomen ausgegangen werden muss, das einen erheblichen Einfluss auf die Erzeugung der subjektiven Sinnzusammenhänge haben kann. Letztlich dient die Veröffentlichung von Lebensgeschichten aus stigmatisierten oder kaum beachteten Milieus der Weitung des öffentlichen Verständnisses für die Sinnhorizonte und Lebensentwürfe dieser Personen (vgl. Fuchs-Heinritz 2009: 131-137).
2.2 Reichweite des Materials
Eine Verallgemeinerung von Ergebnissen der Untersuchung eines Einzelfalls ist durchaus möglich, wenn es sich dabei um charakteristische VertreterInnen des jeweiligen Sozialmilieus handelt. Diese Grundannahme bzgl. der Reichweite subjektiver Lebensberichte, deren zugleich individuelle und kollektive Bedeutsamkeit, rücken die Problematik Einzelfall-Verallgemeinerung in ein für diese Studie bedeutsames Licht: Durch das gezielte Herausgreifen nämlich bestimmter Fälle aus durch klare Merkmale begrenzte Sozialmilieus, kann durchaus ein für die Interpretation verallgemeinerungsfähiges Material gewonnen werden (vgl. Fuchs-Heinritz 2009: 156-161).
Vor diesen Überlegungen wurde die Wahl der Interviewpartnerinnen getroffen. Die Autoren achteten auf eine Übereinstimmung der beiden Befragten hinsichtlich ihrer personenbezogenen und der milieuspezifisch charakteristischen Merkmale, um einerseits einen sinnvollen Vergleich zu ermöglichen und andererseits Ergebnisse erzielen zu können, die sich durch ihre Relevanz für eine größerer Personengruppe auszeichnen würden.
3. Forschungskontext
Hinsichtlich Personen mit bosnisch-herzegowinischen Migrationshintergrund in Österreich gibt es keine detaillierten statistischen Daten, da von der Statistik Austria nur die Staatsangehörigkeit und/oder das Geburtsland erhoben werden, nicht aber die ethnische Zugehörigkeit: „Das bedeutet, dass konkrete Aussagen über die Zahl der Bosniaken (bosnische Muslime) ebenso nicht möglich sind wie jene über bosnische KroatInnen bzw. bosnische SerbInnen. Die Bosniaken stellen jedenfalls nach den TürkInnen die zweitstärkste Gruppe der Muslime in Österreich.“ (Verein Medien-Servicestelle Neue Österreicher/innen 2014) Zurzeit leben in Österreich ca. 206.500 Menschen mit bosnisch-herzegowinischem Migrationshintergrund. Davon sind 148.200 in BiH geboren und 89.925 sind bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige. Dabei handelt es sich um die viertgrößte MigrantInnengruppe in Österreich (vgl. ebd.).
Die österreichische Migrationspolitik sowie die dementsprechende rechtliche Reglementierung lässt sich laut Weigl (2009) in vier Phasen gliedern: Zunächst regelten die Alliierten in der Besatzungszeit die Ein- und Ausreisebestimmungen von und nach Österreich. Danach, in einer zweiten Phase wurde die Migrationspolitik bis Ende der 1980er-Jahre durch die Sozialpartnerschaft bestimmt. In den 1990er-Jahren übernahm das Innenministerium die Rolle der zentralen Schaltstelle bezüglich der Einwanderungsbestimmungen nach Österreich, um in der vierten Phase auf der supranationalen Ebene mit dem Beitritt Österreichs zur EU von dieser abgelöst zu werden. Trotz EU-weit geltender Abkommen, kann bis dato von keiner einheitlichen EU-Migrationspolitik gesprochen werden. Auch Österreich verfolgt nationale Einreisebestimmungen (vgl. Weigl 2009).
Die österreichische Migrationspolitik war immer auch eine symbolische Politik, weil mit der Unterscheidung zwischen Bürgern und Fremden eine personale Außengrenze der politischen Gemeinschaft definiert wurde, in der bestimmte Gruppen (die Fremden) entweder vom Zugang zum Territorium oder den Bürgerrechten ausgeschlossen werden, damit sich die anonyme Großgemeinschaft der Nation miteinander verbunden fühlt (vgl. Bauböck/Perchinig 2006: 726-727).
Auch der Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt war und ist aufgrund des komplexen bundesweiten Fremdenrechtsystems immer mit enormen Herausforderungen für MigrantInnen verbunden. Drittstaatsangehörige müssen sich heute zunächst rechtmäßig im Bundesland aufhalten und nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit berechtigt sein. Dafür benötigen sie eine Beschäftigungsbewilligung, die von dem bzw. der ArbeitgeberIn beim Arbeitsmarktservice (AMS) beantragt werden muss. Zu beachten ist, dass die ArbeitsmigrantInnen bei Erhalt der Bewilligung ihre Arbeitstätigkeit aber nur in jenem Betrieb ausüben dürfen, von dem die entsprechende Beschäftigungsbewilligung beim AMS angefordert wurde. Dadurch werden sie aber von ihren jeweiligen ArbeitgeberInnen abhängig gemacht (vgl. Faber 2014).
4. Ergebnisse
Hier werden die beiden Interviewpartnerinnen vorgestellt sowie der wesentliche Erkenntnisgewinn des Auswertungsverfahrens in aller Kürze präsentiert. Zur Wahrung der Anonymität der Interviewpersonen wurden die Pseudonyme Frau Radmila und Frau Gordana gewählt. Für die Textanalyse im Rahmen des Auswertungsverfahrens nutzten die Autoren die Methode des theoretischen Kodierens nach Glaser und Strauss bzw. Strauss und Corbin (vgl. Böhm 2005: 475-485).
4.1 Frau Radmila
Frau Radmila wurde 1956 in einem kleinen Dorf im nordwestlichen Teil von BiH geboren. Seit 1974 lebt sie durchgängig in Österreich. Sie ist Mutter von zwei Söhnen und lebt seit ihrer Scheidung im Jahr 1995 allein. Frau Radmila war als Hausbesorgerin und Reinigungskraft in mehreren Wohnanlagen und verschiedenen Unternehmen tätig. Seit dem Jahr 2010 nutzt Frau Radmila die Möglichkeit der Altersteilzeit. In wenigen Monaten tritt sie ihre Pension an.
Als zentrales Phänomen wurde im Zuge der Auswertung der Begriff Leistung gebildet. Dieser Terminus umspannt alle wesentlichen Themen und Inhalte aus Frau Radmilas Lebensbericht. Darüber hinaus gelingt es ihm alle weiteren Kategorien zu ordnen und im Sinne der berichtenden Person zu gewichten. Leistung ist das zentrale Thema in Frau Radmilas retrospektiver Betrachtung ihrer Lebensgeschichte. Die Kernkategorie verweist also ganz konkret auf Frau Radmila als Akteurin, negiert aber dennoch nicht die Lebensphasen, in denen ihre Handlungen und Strategien eher passiver Natur waren.
Frau Radmila gelang es, so die Interpretation der Autoren, durch Bezugnahme auf ihre vielfachen Leistungen und der damit einhergehenden Selbstvergewisserung, sich in einem Ausmaß zu emanzipieren, das sämtliche Lebensbereiche erfasste. Die in Frau Radmilas Lebensbericht behandelten Leidensgeschichten und krisenhaften Phasen verwiesen in ihrer Darstellung allesamt v. a. auf den Umstand, dass es ihr gelungen war, diese zu bewältigen. Dieser Prozess der Bewältigung äußerer Umstände sowie der Überwindung innerer Dispositionen nahm so viel Raum in Frau Radmilas Erzählung ein, dass sich alle anderen Inhalte rund um dieses Thema versammelten und für weitere Zugänge zu ihrer Biografie kein Platz blieb. Die meisten der vom Autor gestellten Fragen zu den Themenkreisen Migration, Fremdheit, Identität und Erwerbstätigkeit, wurden von der Gesprächspartnerin kaum aufgegriffen, und wenn, dann wurden diese entweder vor dem eben skizzierten Hintergrund interpretiert, oder aber nur sehr allgemein beantwortet.
4.2 Frau Gordana
Frau Gordana wurde 1963 in einem kleinen Dorf im nordwestlichen Teil von BiH geboren. Sie heiratete im Alter von 16 Jahren einen Mann aus ihrem Heimatdorf und brachte zwei Söhne zur Welt. Ihr Mann ließ sich während des Bürgerkrieges von ihr scheiden. Kurz vor Ende des Krieges wurde ihr Heimatdorf okkupiert, weswegen sie mit ihren Söhnen in die benachbarte Stadt fliehen musste. Frau Gordana heiratete erneut und gelangte im Dezember 2003 nach Österreich.
Im Zuge der Auswertung wurde der Begriff der Existenzsicherung als Kernkategorie gebildet. Das dominierende Thema des Interviews, sowohl im Kontext der Arbeitserfahrungen im Herkunftsland, wie auch in Österreich, war die elementaren Grundvoraussetzungen für den Aufbau einer gesicherten Lebensgrundlage. Die zentrale Bedeutung der Existenzsicherung äußerte sich also darin, dass die permanente Konfrontation mit einem Dasein am Rande des Existenzminimums und die nach wie vor chancenlose Situation am Arbeitsmarkt in BiH sowie die ständige Suche nach einer gesicherten Vollzeitarbeitsstelle in der Diaspora, zur Deckung der zukünftigen finanziellen und materiellen Absicherung während der Pension, den wesentlichen Inhalt des Lebensberichtes ausmachen.
Sowohl in BiH als auch in Österreich bildete die Netzwerkmobilisierung für Frau Gordana die grundlegende Verfahrensweise, um überleben und ihre Existenzgrundlagen sichern zu können. Im Zuge ihrer Arbeitsmigration nach Österreich begab sie sich dadurch allerdings in Abhängigkeitsverhältnisse. Einerseits zu ihrem Ehemann und andererseits zu dessen Bekanntenkreis. So wurde ihre Emanzipierung, die in BiH seit der Trennung von ihrem ersten Ehemann und dem Beginn ihres Erwerbslebens begonnen hatte, unterbunden.
5. Vergleich der Biografien
Besonders auffällig ist, dass der faktische Zeitpunkt der Migration, also das jeweilige Jahr, für die weitere Entwicklung der Gesprächspartnerinnen kaum von Bedeutung ist. Hingegen können die Autoren vor dem Hintergrund der beiden Analysen davon ausgehen, dass die für die jeweilige Biografie besonders bedeutsamen Faktoren im Alter der Befragten zum Zeitpunkt ihrer Migration begründet sind. Frau Radmila kam als sehr junge Frau nach Wien, mit der Intention eine Familie zu gründen, wohingegen Frau Gordana in einer Lebensphase nach Wien migrierte, in der sie sich schon Gedanken über ihre Pension machte und ihre beiden Söhne bereits erwachsen waren.
Das sehr junge Alter von Frau Radmila zum Zeitpunkt ihrer Migration könnte auch erklären, warum ebendiese in ihrem Lebensbericht nur marginal thematisiert wurde. Der Begriff der Fremdheit hängt in ihrem Fall am ehesten mit der sozialen Isolation zusammen, der sie aufgrund ihrer Eheverhältnisse über lange Zeiträume hinweg ausgesetzt gewesen war. Die zentrale Stellung, welche die Arbeit in ihrer Schilderung einnimmt, kann ebenso über diese Verhältnisse erklärt werden. Frau Radmila begann sehr früh, sehr viel und sehr hart zu arbeiten, musste sich darüber hinaus der Betreuung der Kinder widmen und hatte deshalb keine zeitlichen Ressourcen, um andere Themen in ihrem Leben zu etablieren. Bei Frau Gordana haben wir es mit einer gänzlich anderen Situation zu tun. Ihre aktuelle Ehegemeinschaft ist das Ergebnis praktischer Überlegungen einer mündigen Frau und von ihr selbst als Zweckgemeinschaft bezeichnet. Im Gegensatz zur damals sehr jungen Frau Radmila kam sie im Erwachsenenalter, mit konkreten Zielen und aufgrund einer persönlichen Entscheidung nach Wien. Diese war pragmatischer Natur und einer wirtschaftlichen Notsituation geschuldet.
Hier wollen wir uns den beiden Biografien vor dem Hintergrund der Forschungsfrage widmen. Die in diesem Zusammenhang zentralen Kategorien sind der Umgang mit Herausforderungen sowie der österreichische Arbeitsmarkt, welcher von beiden Gesprächspartnerinnen kaum thematisiert wurde. Überhaupt spottet der Begriff Arbeitsmarkt den faktischen Gegebenheiten, wie sie von den Befragten vorgefunden wurden, da dieser Begriff Vielfalt, Möglichkeiten und Austausch suggeriert. Wenngleich der Einstieg ins Erwerbsleben in Wien in sehr verschiedenen Lebensphasen stattgefunden hatte, lässt sich ganz klar eine Übereinstimmung nennen. Beide Frauen erhielten ihre ersten Arbeitsstellen aufgrund der Vermittlung ihres Ehemannes und waren bzw. sind auch danach auf ihren Bekanntenkreis angewiesen, wenn es um die Vermittlung einer Arbeitsstelle ging bzw. geht. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Befragten besteht in der Bewertung ihrer Tätigkeit als Reinigungskraft bzw. im Billiglohnsektor. Arbeit an sich wird von beiden positiv konnotiert und ist darüber hinaus eine Quelle persönlicher Wertschätzung.
Unterschiede zwischen den Strategien der Befragten und den damit verbundenen Konsequenzen für die persönliche Entwicklung lassen sich v. a. im Zusammenhang mit dem Spracherwerb aufzeigen. Frau Radmila hat ihre Deutschkenntnisse selbst erworben. Dies geschah im Zuge ihrer Tätigkeit als Hausbesorgerin und während der Schulzeit ihrer Kinder. Frau Gordana hat ihr Möglichstes versucht, doch mittlerweile aufgegeben. Die Sprachkurse bieten ihren Ausführungen zur Folge einen wenig geeigneten Rahmen, um tatsächlich Deutsch zu erlernen. Dazu kommt wiederum Frau Gordanas aktuelle Lebensphase. Sie sieht sich außerstande in ihrem Alter effektiv eine weitere Sprache zu erlernen, was der damals jungen Frau Radmila ohne Unterstützung gelungen war. Während sich Frau Radmila, aufbauend auf ihren Sprachkenntnissen, weitere Handlungsspielräume erschließen und sich dadurch von ihrem Mann zunehmend distanzieren konnte, ist Frau Gordana, ob des Mangels an Kommunikationsmöglichkeiten, in den meisten Belangen auf ihre muttersprachliche Community angewiesen, allen voran auf ihren Mann. Das von ihr mobilisierbare Netzwerk bleibt deshalb sehr klein, homogen und in sich geschlossen. Das damit einhergehende Akzeptieren von Gegebenheiten sowie die damit verbundene Resignation entsprechen einer ihrer Lebensphase nicht untypischen Tendenz. Das hier angesprochene Phänomen meint u. a. das Bedürfnis nach überschaubaren und stabilen Strukturen, welches seinen Ausdruck schließlich im zentralen Phänomen gefunden hat, der Existenzsicherung.
Während Frau Gordana Parallelen zu ihrer Heimat zieht, verzichtet Frau Radmila gänzlich auf Vergleiche zwischen Wien und BiH. Allein im Zusammenhang mit der Darstellung der ursächlichen Bedingungen für ihren persönlichen Entwicklungsprozess, verweist sie auf ihre Erziehung und die damit verbundene Mentalität. Demgegenüber ist Frau Gordana der Kultur ihrer Heimat durchaus verbunden und steht in ihrem Rollenverständnis den dort gängigen patriarchalen Orientierungsmustern positiv gegenüber, wenngleich sie aufgrund ihrer frühen Scheidung ein sehr abgeklärtes Verhältnis zum Thema Ehe entwickelt hat. Gemeinsam ist den hier besprochenen Biografien jedenfalls, dass es zu keiner Weiterbildung bzw. zu keinen beruflichen Entwicklungen im Sinne einer Karriere gekommen ist. Die Leistungen der beiden Frauen können vor dem erfolgsorientierten Raster österreichischer Erwerbsbiografien nur schwer dargestellt werden. Dies ist insofern von Bedeutung, weil keine der beiden Frauen dem medial verbreiteten Bild einer Migrantin entspricht. Die hier verglichenen Biografien haben v. a. die Leistungen der beiden Akteurinnen zum Thema, die sich in einem nicht unerheblichen Kontrast zur gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Zielgruppe befinden.
6. Ausblick
Abschließend wollen die Autoren mögliche Konsequenzen für die Soziale Arbeit aus dem Erkenntnisgewinn ableiten. Der Vergleich der beiden Biografien verweist ganz klar auf die besondere Bedeutung der Erwerbstätigkeit, des Spracherwerbs sowie der zentralen Stellung des Ehemannes als vermittelnde Instanz. Von Interesse sind die hier aufbereiteten Ergebnisse für die Handlungsfelder Sozialer Arbeit in Migration, Arbeit und Gesundheit.
Die mangelhaften den Spracherwerb betreffenden Angebote, wurden oben bereits kurz thematisiert. Hier soll auf den Bedarf an zielgruppenspezifischeren Sprachkursen hingewiesen werden. Die Autoren denken dabei z. B. an Kleingruppen im Zusammenhang mit den Sprachkursen, die sich aus TeilnehmerInnen mit derselben Muttersprache zusammensetzen. Der positive Effekt bestünde nicht nur in der effektiveren Vermittlung der Sprachkenntnisse, sondern auch in der Erweiterung der sozialen Netzwerke der TeilnehmerInnen, was v. a. für Frauen, vor dem Hintergrund der zentralen Funktion des Ehemannes, von großer Bedeutung sein kann. Dass die Sprachkurse von NativespeakerInnen abgehalten werden sollten, sei an dieser Stelle deshalb erwähnt, weil dies im Rahmen der bestehenden Angebote nicht selbstverständlich ist.
Erkrankungen aufgrund der beruflichen Tätigkeit und Arbeitsunfälle sowie damit einhergehende Krankenhausaufenthalte wurden v. a. von Frau Radmila thematisiert. Die damit verbundenen Krankenstände hatten die Vermittlung zu einer Psychologin der AK, im Rahmen des Angebotes Arbeit & Gesundheit, zur Folge. In diesem Rahmen war es Frau Radmila erstmals möglich den Druck, dem sie am Arbeitsplatz ausgesetzt war, zu thematisieren. Die Psychologin unterstützte Frau Radmila und half ihr auch beim Beantragen der Altersteilzeit. Von sich aus hätte Frau Radmila keinen Kontakt zu einer psycho-sozialen Einrichtung gesucht, da sie diverse Benachteiligungen am Arbeitsplatz aus Angst vor dem Verlust ihrer Einkommensquelle erduldete und die gesundheitsschädigenden Begleiterscheinungen ihrer beruflichen Tätigkeit akzeptierte. Die Autoren verweisen deshalb auf Defizite bei besagter Zielgruppe, welche u. a. die Einschätzung ihrer persönlichen Vulnerabilität bzw. ihren rechtlichen Status betreffen. Ein stark begrenzter Wissensstand und die Uninformiertheit dieser Zielgruppe in Bezug auf Hilfsangebote erschwert es dieser zusätzlich, selbst aktiv zu werden. Ein erster Schritt wäre also, konkrete Überlegungen anzustellen, auf welchen Wegen die Zielgruppe über bestehende Angebotsformen informiert werden kann.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach weiteren Bedarfslagen der Zielgruppe, was zeitgleich auf einen mangelhaften Wissensstand in Bezug auf Lebensbedingungen und Bedürfnisse verweist. Die Situation der MigrantInnen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens in Österreich erscheint als wenig aufbereitet. Es gibt kaum genaue Kennzahlen, die zwischen den Ethnien, der religiösen Zugehörigkeit und dem Zeitpunkt der Migration unterscheiden. Es besteht also ein an die Sozialwissenschaften adressierter Auftrag, einen differenzierteren Zugang zu der hier behandelten Thematik in Form von qualitativen wie auch faktenbasierten Studien zu eröffnen.
Abschließend möchten die Autoren drauf hinwiesen, dass die von Korun im Zusammenhang mit den Vorannahmen angeführte Position bzgl. der Auswirkungen von Tätigkeiten mit niedrigem Prestige und schlechtem Image, im Zuge der Auswertung der Ergebnisse dieser Studie nicht an Gültigkeit in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Machtstrukturen eingebüßt hat. Die Autoren wollen dieser Betrachtungsweise bewusst die positive Selbstverortung der Gesprächspartnerinnen im Kontext ihrer Tätigkeiten im Billiglohnsektor gegenüberstellen. Beide Frauen waren sich ihrer Leistungen bewusst und sprachen mit Stolz über ihre Arbeit.
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Weigl, Andreas (2009): Migration und Integration. Eine widersprüchliche Geschichte. 1. Auflage. Wien.
Über die Autoren
Mihajlo Grbavac-Palmisano, BA, Jg. 1977
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Bernd Leidl, Jg. 1981
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