soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 12 (2014) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/333/573.pdf
Christian Reutlinger1:
Unter Mitarbeit von Christina Vellacott
Festvortrag im Rahmen der Tagung „Sozialarbeit – falsch verbunden? Zukunft von Praxis und Forschung, Profession und Wissenschaft“ am 25. April 2014 an der FH JOANNEUM Graz.
„Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet.“ (Kay 1989)
1. Einstieg: Mögliche Zugangsweisen zur Zukunft
Ich (alleine) weiß, wie die Zukunft der Sozialen Arbeit sein wird. Vertrauen Sie mir! Ich werde Sie gleich in die verborgenen Geheimnisse einweihen und Sie und Ihre Einrichtung im Anschluss auch gerne fachlich beraten. Kaufen Sie meine Rezepte, denn sie lösen all Ihre Probleme. Mit meinem Wissen und meinen Leitsätzen haben Sie die Garantie, dass Sie und Ihre Arbeit auch morgen und übermorgen noch gebraucht werden. Wir werden zusammen die Gesellschaft verändern. Gemeinsam bauen wir eine bessere Welt auf der Basis der besten Bestandteile unserer Profession. Folgen Sie mir in die Zukunft, denn nur ich vertrete die Wahrheit!
Hätte ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solche Vision von Sozialer Arbeit, könnte ich zu Ihnen heute als Heilsbringer und Prophet sprechen. Ich würde in ähnlichem Duktus weiterreden und Sie in den folgenden 45 Minuten von meiner Zukunftsvision für die Soziale Arbeit überzeugen, Sie mitreißen – man könnte auch sagen, Sie bekehren.
Besonders erfolgversprechend für ein solches Unterfangen wäre es aufzuzeigen, wie schlecht sich in den vergangen Jahren alles entwickelt hat: Ökonomisierung, sozialstaatlicher Abbau, Bürokratisierung, Entfremdung, Entpolitisierung oder Entprofessionalisierung wären wichtige Schlagworte. Ausgehend von der Analyse des Vergangenen, welche zu einem negativen Ist-Zustand führte, würde ich der Sozialen Arbeit eine düstere, ja schwarze Entwicklung prognostizieren. Meine Zukunftsvision wäre hingegen hell, gut und vor allem einfach verständlich.
Wäre die Welt so einfach, dann hätte ich mich bei den Vorbereitungen des heutigen Referates nicht so schwer tun müssen. Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich kann Ihnen heute keine einfache Vision der Sozialen Arbeit und ihrer Zukunft mitbringen, geschweige denn ein klares Zukunftsbild der Sozialen Arbeit zeichnen. Denn die soziale Realität ist dermaßen komplex, dass ich lediglich versuchen kann, Ihnen anhand möglichst differenzierter und vielfältiger Farbtöne einige Gedanken zu skizzieren. Das Ziel ist für mich erreicht, wenn wir im Anschluss über zentrale Fragen ins Gespräch kommen. Dieser vielleicht ernüchternde Anspruch hat letztlich damit zu tun, dass ich mich persönlich nicht als Hellseher und Heilsbringer verstehe. Gleichzeitig stecke ich in folgendem Dilemma: Ich kenne die Zukunft nicht, kann sie nicht vorhersehen. Trotzdem bin ich kein Fatalist und will nicht alles dem Zufall überlassen, vielmehr habe ich den Anspruch im Hier und Jetzt bewusst zu agieren.
„Wir dürfen nie vergessen, daß die Zukunft zwar gewiß nicht in unsere Hand gegeben ist, daß sie aber ebenso gewiß doch auch nicht ganz außerhalb unserer Macht steht.“ (Epikur/Laskowsky 1988: 42)
Als Konsequenz daraus bleibt mir die Möglichkeit, Anhaltspunkte oder Hinweise zu skizzieren, die verschiedenste Interpretationen zulassen. Wählt man diesen Weg, so ergeben sich mindestens zwei mögliche Figuren. Einmal wäre es möglich, Hinweise oder Zeichen von mir zu geben, die gegenwärtige oder zukünftige Entwicklungen zwar ansprechen, letztlich aber vage bleiben. Diese Variante kennen wir von den alten Griechen, die nach Delphi pilgerten und dort das Orakel Pythia befragten und darüber Kontakt mit Apollon, dem Gott der Weissagung, aufnahmen. Da Pythia sich kompliziert und abstrakt ausdrückte, benötigten die Griechen weitere Figuren, wie bspw. die Priesterin, die das Orakel interpretierte. Hinter beiden Figuren liegen verschiedene Schwierigkeiten. In der Rolle des Orakels müsste ich eine direkte Verbindung nach ganz oben haben, sonst wären die Zeichen aus der Luft gegriffen und ich könnte kaum glaubhaft was zum heutigen Thema sagen. Die Rolle des Interpreten benötigt wiederum eine nachvollziehbare Datenbasis, denn nicht jede eignet sich für stichhaltige Zukunftsvisionen.
Diese Schwierigkeiten sind all denjenigen bekannt, die einmal im Jahr an Silvester Bleigießen. Auch wenn das Vorhersagen von Entwicklungen fürs kommende Jahr in zentralen Lebensbereichen wie der Liebe, dem Beruf oder der Gesundheit ein schönes Familienevent darstellt und die gemeinsame Zeit mit Kindern und Freunden bis zum Feuerwerk verkürzt, so ist die Aussagekraft doch ziemlich zweifelhaft. Auch ein gut sortiertes Deutungsbüchlein für Bleiguss vermag diese Zweifel nicht zu zerstreuen. Hier sind also sowohl Datenlage wie Interpretation problematisch. Da Orakeln für mich wegen mangelnden Verbindungen zu höheren Mächten nicht in Frage kommt, bleibt für mich als Wissenschaftler lediglich das Interpretieren. Hierfür benötige ich eine Datenbasis, der ich einigermaßen vertrauen kann.
Schließlich müssen wir auch mit folgender Tatsache umgehen: Auch wenn wir eine Datenbasis haben, der wir vertrauen können und mir eine nachvollziehbare Interpretation gelingt, können bei der Ausgestaltung des Lebens und damit der Zukunft viele unberechenbare Faktoren hinein spielen. Der französische Schriftsteller Marcel Proust schrieb hierzu:
„(…) wir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum projizierten Reflex der Gegenwart vor, während sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist, die uns zum größten Teil entgehen“ (Proust 2000)
Die Konsequenz aus Prousts Überlegung ist, dass immer mehrere, nicht in Stein gemeißelte Möglichkeiten existieren. Denn es geht nie genau gleich weiter wie geplant oder wie das Sprichwort besagt: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Deshalb spreche ich nicht von der Zukunft, sondern angesichts mehrerer Möglichkeiten von Zukünften.
In diesem Sinne werde ich in meinen Ausführungen eine Auslegeordnung unterschiedlicher Anhaltspunkte zukünftiger Entwicklungen von Sozialer Arbeit anbieten. Ich werde mich dabei auf meine Rolle als Sozial- und Erziehungswissenschaftler beziehen, der sich seit Jahren forschend sozialen und genauer sozialräumlichen Zusammenhängen nähert und versucht, diese zu verstehen. Meine Schlussfolgerungen sollen jedoch für mehrere Interpretationsmöglichkeiten offen bleiben. Ihre Aufgabe ist heute, selber eigene Schlüsse zu ziehen und sich dadurch die Zukünfte zu eigen machen. Dieses Vorgehen sollte durchaus auch einen spielerischen Charakter haben. Wie beim Bleigießen lässt die Datenbasis vielfältige Spielräume für Interpretationen zu.
2. Zukunftsforschung: Was dürfen wir hoffen? (Platon)
Bei den vorbereitenden Überlegungen zu meinem Referatsthema, welches bei der Anfrage „Die Zukunft der Sozialen Arbeit“ lautete und sich dadurch überfordernd mächtig anhörte, ist mir als erstes folgendes aufgefallen: In unserem Alltag berufen wir uns ständig auf Zukunftsszenarien; die Wettervorhersage ist beispielsweise für viele unglaublich wichtig für ihre Freizeit- oder auch Arbeitsplanung. Andere stützen sich auf Horoskope in Tageszeitungen oder von astrologischen Gutachtern und verhalten sich entsprechend. Umso vager eine Zukunftsvorhersage formuliert wird, desto weniger anfällig ist sie für eindeutige Fehler und daraus resultierende Enttäuschungen. Aber weshalb sind wir überhaupt angewiesen auf Prognosen der Zukunft? Um diesem Sachverhalt systematischer nachzugehen, konsultierte ich Literatur zur so genannten Zukunftsforschung.
Zweck der Zukunftsforschung: Zukunftsforschung soll laut dem Physiker und Zukunftsforscher Rolf Kreibich Zukunftsmodelle entwickeln, Entwicklungen und Dynamiken transparent machen, Optionen eröffnen und aufzeigen, wie es weiter gehen sollte oder könnte und dabei handlungsleitend sein, ohne direkte Handlungsanweisungen zu geben (vgl. Kreibich et al. 1997). Der Zukunftsforscher Matthias Horx, einer der profiliertesten und einflussreichsten Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum, meint in seinem 2013 erschienen Buch „Zukunft wagen“:
„Es geht nicht in erster Linie darum, nach vorne zu schauen. Es geht darum, wie wir auf uns zurück blicken, wenn wir nach vorne blicken. Wir wollen uns mit der Zukunft beschäftigen, damit wir uns besser kennenlernen.“ (Horx 2013: 12)
Methoden der Zukunftsforschung: Aktuelle Zukunftsforschung arbeitet mit einem Mix aus komplexen Berechnungen und Prospektionen, mit Visionen und Szenarien: Zukunftsforscher schaffen damit Entwürfe, an denen sich Wünschenswertes diskutieren lässt. Hierzu nehmen sie zuerst eine historische Auswertung vor (Vergangenheitsfundierung), überlegen dann, wohin die Entwicklung daraus folgernd weitergehen könnte heute (Gegenwart) und morgen (Zukunft). (vgl. Albert 2003: 64f)
Diese drei Schritte bedeuten konkret:
2.1 Schritt 1: Vergangenheitsfundierung
Durch Vergangenheitsfundierung soll herausgearbeitet werden, was war und wie sich die Entwicklung folglich fortsetzen könnte. Aber, auch die Vergangenheit ist nicht als bare Münze zu nehmen:
„(…) selbst das, was wir für das „sicher Vergangene“ halten – Erinnerungen – fälschen wir. Es ist also ein Irrtum, zu glauben, dass die Vergangenheit, anders als die Zukunft, sicher ist, weil sie ja schon passiert ist. Die Vergangenheit ist genauso ein Vermutungs- und Interpretationsraum wie die Zukunft.“ (Horx 2013: 14)
2.2 Schritt 2: Gegenwartsanalyse
In einem zweiten Schritt gilt es, mit qualitativen Methoden herauszuarbeiten, was an Entwicklung denkbar und wünschenswert ist (vgl. Albert 2003: 66). Dies tun wir aus unserer Gegenwart heraus, mit unseren aktuellen Bedürfnissen und Wünschen, aus unserem jeweiligen Kontext.
2.3 Schritt 3: Megatrendanalyse
In einem dritten Schritt gilt es herauszufinden, wie wünschbare Entwicklungen mit den zu erwartenden vereinbar sind. Beachtet werden müssen eintretende Störungen, die durch den historischen Blick nicht zu erfassen waren und auf die reagiert werden muss (vgl. ebd.). Bei den „zu erwartenden Entwicklungen“ handelt es sich um so genannte Mega-Trends. Hierzu Horx:
„Megatrends markieren die großen Veränderungen der Gesellschaft, sie wirken global, langfristig, tiefgreifend: die Globalisierung etwa, die Verschiebung der Altersstruktur, Individualisierung oder die immer wichtigere Rolle der Frauen.“ (Horx 2011)
Abbildung 1: Megatrend-Map2
Die Megatrend-Map wird als U-Bahn-Karte mit klaren Stationen dargestellt, dies ist zwar sehr übersichtlich, grafisch attraktiv. Obwohl darauf hingewiesen wird, dass Megatrends nicht linear sind, suggeriert die Anordnung auf der Karte aber genau dies – als wären die Trends in einer unabänderlichen Reihenfolge angeordnet.
3. Wie wird Zukunftsforschung in der Sozialen Arbeit betrieben?
Mit diesen Überlegungen der Zukunftsforschung im Kopf suchte ich nach einer geeigneten Datengrundlage, anhand derer ich verstehen kann, wie in der Sozialen Arbeit über Zukunft nachgedacht wird. Für geeignet hielt ich folgende zwei ganz unterschiedliche Korpora: Einerseits das Themenheft der Zeitschrift Sozialmagazin von Anfang 2013 mit dem Titel „Zukunft der Sozialen Arbeit“. Darin kommen Kolleginnen und Kollegen zu Wort mit unterschiedlichsten zukunftsrelevanten Themen. Als Ergänzung zu diesem Korpus, welcher aus fachpolitischen und wissenschaftlichen Einschätzungen besteht, beziehe ich mich auf Forschungsprojekte, die wir am Institut für Soziale Arbeit der FHS St. Gallen durchführten (http://www.fhsg.ch/fhs.nsf/de/ifsa-fhs-forschungsschwerpunkte-abgeschlossene-projekte). Die Befunde beider Korpora werde ich ihnen nacheinander darlegen und abschließend einige übergreifende Überlegungen anstellen. Vorwegnehmen kann ich jetzt schon: Ich werde nicht alle Themen anschneiden, welche Sie in den vergangenen zwei Tagen in den vielen Workshops diskutiert haben – hierzu ist das Spektrum einfach zu groß. Beim Abgleich zwischen meiner Referatsstruktur und dem Tagungsprogramm fiel mir jedoch auf, dass viele Aspekte in beiden auftauchen. Insofern werden hoffentlich etliche Querbezüge und einige übergreifende Zugänge möglich.
4. Korpus 1: Sozialmagazin
Bereits das Titelbild, ein schlaffes, beinahe herunterfallendes Transparent mit der Aufschrift „Bildung“ – und dahinter weitere unleserliche Worte oder Zeichen –, enthält eine kritische Botschaft der Zukunft Sozialer Arbeit.
Abbildung 2: Cover Sozialmagazin „Zukunft der Sozialen Arbeit“
Betrachtet man dann die Beiträge genauer, so enthalten alle die drei von der Zukunftsforschung propagierten Schritte Vergangenheitsfundierung, Gegenwartsanalyse, Trendaussage. Die Gegenwartsanalyse geschieht auf der Basis einer Vergangenheitsfundierung. Die Vergangenheit wird dabei stets positiver dargestellt als die Gegenwart, welche praktisch durchgehend kritisch betrachtet wird. Durch eine zunehmende Verschlechterung von der Vergangenheit zur Gegenwart wird darauf geschlossen, dass sich der Trend fortsetzen wird: auch die Zukunft sieht düster oder noch düsterer aus. Auffallend ist, dass der Krisendiskurs bzw. die Gegenwartsanalyse jenseits sauberer analytischer Verfahren geführt wird, sondern eher anhand einer Beschreibung negativer Großwetterlagen. Von den AutorInnen werden vor allem Risiken aufgezeigt und weniger die Chancen und Potentiale. Keiner lobt die Gegenwart, utopische Elemente sind insgesamt kaum zu finden. Vielmehr beziehen sich die AutorInnen auf einen spezifischen Teilaspekt oder Einzelelemente – also ihre Lieblingsthemen oder die jeweiligen Arbeitsgebiete – und entwickeln daraus kleine und kleinste Trends. Keiner wagt also den großen Wurf für die Zukunft, indem beispielsweise eine Perspektive Sozialer Arbeit jenseits des bisherigen aufgezeigt würde.
Die meisten AutorInnen enden mit Forderungen, jedoch ist unklar, an wen sie sich richten: an die Profession, die Politik, die Gesellschaft? Durchgehend dominiert die Vorstellung, dass die negativen Entwicklungen rückgängig gemacht oder aufgehalten werden können, indem andere, bessere Wege eingeschlagen werden. Diese werden von den AutorInnen gleich in Form von eher simplen Lösungsvorschlägen mitgeliefert. Um die Argumentationslinie dieser sozialarbeiterischen „Rede von der Zukunft“ genauer aufzuzeigen, habe ich versucht, den ersten Korpus entlang einer leitenden These aufzuschließen und darauf aufbauend Unterthesen zu formulieren.
4.1 These 1: Der entgrenzte Kapitalismus verändert alle bisher geltenden Vorzeichen!
Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer betonen in ihrem Beitrag, dass die Welt uns zunehmend „entbettet“ und entgrenzt gegenüber tritt. Aufgrund von Globalisierungstendenzen würde die heutige kapitalistische Logik keine Rücksicht mehr auf lokale Traditionen und soziale Verhältnisse nehmen. Unternehmen sind immer weniger auf national verfügbare Arbeitskräfte angewiesen. Arbeit kann vielmehr weltweit ausgelagert und durch neue Produktionstechnologien ersetzt werden.
„Prekäre Arbeitsverhältnisse werden normal, Berufssicherheit schwindet und die soziale Hintergrundsicherheit, die der Sozialstaat lange garantierte, ist für viele Menschen auch in Europa immer weniger spürbar.“ (Böhnisch/Schröer 2013: 84)
Eine entgrenzte Gesellschaft scheint immer weniger sozial oder durch Soziale Arbeit gestaltbar. Dies hat laut Bönisch und Schröer damit zu tun, dass sich im kapitalistischen Verdrängungskampf Kräfte durchgesetzt haben, die sich dem Sozialstaat und seiner Sozialen Arbeit nicht nur entziehen, aber trotzdem auf ihre Struktur und Entwicklungsmöglichkeiten zurückwirken. Angesichts dieser Entwicklungen gelten AdressatInnen der Sozialen Arbeit nun schnell als selbstverschuldete Verlierer in diesem Wettbewerb, die auf keine Hilfe hoffen können. Diese radikalen Veränderungen führen laut Böhnisch und Schröer dazu, dass sämtliche Vorzeichen der industriekapitalistischen Moderne, auf die Soziale Arbeit baut, hinterfragt werden müssen. (vgl. ebd.) Und: Soziale Arbeit ist neu zu denken. Im konsultierten Sozialmagazin-Themenheft vertiefen nun einzelne Autorinnen und Autoren einige Aspekte dieser Analyse. Daraus lassen sich folgende Unterthesen formulieren:
4.1.1 Vielfältige Standards der Sozialen Arbeit sind anderen, fremden Logiken geopfert worden!
Im Editorial mit der Überschrift „wohin die Reise geht...“ konstatieren Michael Böwer und Jochem Kotthaus, dass in der Entwicklung der Sozialen Arbeit der jüngsten Vergangenheit vieles schief gelaufen sei:
„Im rapiden Fortschritt der Post-Moderne und des Post-Wohlfahrtsstaats sind vielfältig Standards guten fachlichen Werdens, Reifens und Helfens auf dem Altar gesellschaftlicher, sozialtechnologischer und organisationaler Entscheidungen geopfert worden.“ (Böwer/Kotthaus 2013: 3)
Ein Hauptproblem scheint die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit zu sein, welches gleich mehrere AutorInnen ansprechen. Hierauf verweist auch die nächste Unterthese:
4.1.2 Das Sozial- und Gesundheitswesen wird kaputtgespart!
Und zwar durch folgende Sparmaßnahmen:
4.1.3 All diese Sparmaßnahmen führen nicht zur Effizienzsteigerung, sondern zur Entprofessionalisierung Sozialer Arbeit!
Die folgenden Unterthesen zeigen die Inhalte dieser Entprofessionalisierung auf, gehen auf die Folgen der Sparpolitik in der Sozialen Arbeit ein:
4.1.3.1 Die Ausbildung verliert an Qualität!
Die Ausbildung wird als Schlüssel zur strukturellen und inhaltlichen Veränderung der Profession (und somit Beeinflussung der Zukunft) gesehen. Da aber das heutige BA-Studium weniger lange dauert, seien die AbgängerInnen zu jung, hätten ungenügende praktische Vorbereitung auf die Berufspraxis und würden nur eine mangelnde disziplinäre Identität entwickeln. Auch wird Studienabgängern von den Vorgesetzten in der Praxis oft erklärt, die Theorie des Studiums zähle hier nicht, da die Praxis nach eigenen Regeln funktioniere. (vgl. Kotthaus 2013: 44ff) Darüber hinaus würde die Debatte über die Unterschiede Universität/Fachhochschule der Profession schaden, denn sie wäre wesentlich dadurch kontaminiert, dass das Berufsprofil des Sozialarbeiters weiterhin (vielleicht notwendigerweise) unscharf bleibt und somit nicht nur berufspolitisch engagierte AkteurInnen mitdiskutieren, sondern auch diejenigen mit akademischen Eitelkeiten und sonstigen dunklen Interessen, wie Wolfgang Hinte vermutet. (vgl. Hinte 2013: 38)
4.1.3.2 Beschäftigungsverhältnisse in sozialen Berufen werden immer prekärer!
In der Sozialen Arbeit nehmen atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse quantitativ zu. Dies zeigt sich in den unterschiedlichen Erscheinungsformen, wie Teilzeitarbeit, befristeter Arbeit, Mini-Jobs, Midi-Jobs, Ein-Euro-Jobs, unbezahlte Praktika usw., wie die Analyse von Karin Beher und Kirsten Fuchs-Rechlin aufzeigt. Die Heterogenität von Beschäftigungsformen wird größer und Erwerbsbiografien entsprechen immer weniger einem Standard. Ein Arbeitsplatz ist heute nicht mehr automatisch mit materieller Sicherheit und sozialer Teilhabe verbunden. Besonders betroffen sind Frauen, unter 25-Jährige und allgemein gibt es mehr Betroffene in der Sozialen Arbeit als in anderen Berufen. (vgl. Beher/Fuchs-Rechlin 2013: 53ff)
4.1.3.3 Arbeitsbedingungen machen Sozialarbeitende krank!
Seithe (2013: 25) warnt in ihrem Beitrag vor der Gefahr physischer und psychischer Schäden, wie bspw. dem Burnout.
Aufbauend auf dieser Gegenwartsanalyse der Profession Sozialer Arbeit werden im Sozialmagazin konkrete Forderungen benannt, um dem negativen Trend entgegen zu wirken. In dem Zusammenhang heißt es bspw.:
Die Sozialarbeitswissenschaften sollen eigenständig im Kanon anderer Sozialwissenschaften positioniert und die Forschung besser gefördert werden. Die Qualität der Ausbildung ist zu steigern. Oder: Sozialarbeitende sollen besser bezahlt, die Profession besser anerkannt werden. (vgl. Kotthaus 2013: 44ff)
An verschiedenen Stellen wird gefordert, dass sich Sozialarbeitende gegen die Vorschriften der Politik wehren sollen (Case Management, betriebswirtschaftliche Erfolgsdefinitionen, Zeitbegrenzungen usw.). Sie sollen sich für soziale Gerechtigkeit und gegen neoliberale Absichten einsetzen. Seihte (2013: 28f) fordert strategische Ansätze, damit Sozialarbeitende aus ihrer Ohnmacht erwachen:
Nach den Überlegungen von Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer geht es „um nichts anderes als eine Neuformierung der Politisierung Sozialer Arbeit, die angesichts der Entpolitisierung des Sozialstaats und des Rückzugs bisher sympathisierender Bürger dringend ansteht.“ (Böhnisch/Schröer 2013: 87) Jedoch können Probleme nicht mehr nur nationalstaatlich oder innereuropäisch gelöst werden, sondern es bedarf laut Bönisch/Schröer inter- und transnationaler Allianzen (ebd.: 88).
Neben diesen professionspolitischen Forderungen werden auch spezifische Forderungen für die Arbeit mit AdressatInnen formuliert:
Soziale Hilfestellungen sollten zukünftig weniger von der Frage der Verwertbarkeit und Nützlichkeit, sondern wieder mehr von den Menschen ausgehen (vgl. Neuffer 2013:13). Sozialpädagogische Lösungen sollten deshalb lebensweltbezogen und sich zugleich in einem sozialökologischen Kontext vollziehen. Zudem gilt es, AdressatInnen zu beteiligen und ihre Rechtsansprüche zu stärken. (vgl. Bestmann 2013: 20ff)
Nach der Konsultation des ersten Korpus liegt also ein Bild vor, welches geprägt ist von einer negativen Gegenwartsanalyse mit eindeutig negativ geprägten Szenarien für die Zukunft.
Abbildung 3: Übersicht Korpus 1
Auch wenn mit ähnlichen konzeptionellen Grundlagen gearbeitet wird, so ist die Ankündigung zur heutigen Tagung übrigens um ein vielfaches offener, indem es bspw. im ersten Satz heißt:
„Aus der Vielzahl von Herausforderungen, denen sich Sozialarbeit gegenwärtig stellen muss, stehen die Folgen des globalisierten Neoliberalismus und die Entgrenzung von Lebensverhältnissen im Vordergrund.“
Die Ergebnisse der Workshops zeichnen meiner Meinung nach ein viel differenzierteres Bild, als dies in den aufgezeigten Forderungen des ersten Korpus der Fall ist. Dies ist ein Anhaltspunkt, dass sich das Gespräch unterschiedlicher AkteurInnen aus der „Praxis und Forschung, Profession und Wissenschaft“ (siehe Tagungskonzeption) lohnt.
5. Korpus 2: Angewandte Forschungs- und Entwicklungsprojekte am IFSA-FHS
In einem zweiten Zugang zur Frage der Zukünfte der Sozialen Arbeit möchte ich mich auf einen ganz anderen Korpus stützen. Hintergrund bildet meine Forschungstätigkeit am Institut für Soziale Arbeit der FHS St. Gallen, welches ich leite und in welchem der ebenfalls von mir verantwortete interdisziplinäre Forschungsschwerpunkt „Soziale Räume“ angesiedelt ist. Exemplarisch möchte ich einige Projektbeispiele heranziehen, um aufzuzeigen, wie Sozialarbeitende implizit oder explizit eine Vorstellung der Zukunft haben, auf welche sie durch professionelles Tun gestaltend wirken. Meistens geht es darum, das Handeln Einzelner oder von Gruppen zu verändern. Platt könnte man zusammenfassen, dass es bisher eher darum ging, einen neuen (pädagogischen) Lebensort zu kreieren, also für jemanden einen Heimaufenthalt oder das Leben in einer Wohngruppe zu ermöglichen, oder aber ein Sondersetting zu schaffen. Vieles deutet darauf hin, dass es heute vermehrt darum geht, ausgehend von der Lebenswelt vor Ort ein für den Klienten geeignetes familiäres, familienergänzendes oder soziales Umfeld zu schaffen – der Nahraum wird deshalb immer bedeutsamer (vgl. Kessl/Reutlinger 2010, Reutlinger 2008). Wiederum anhand einer leitenden These und darauf aufbauenden Unterthesen möchte ich diese Beobachtung konkretisieren und unterschiedliche Aspekte möglicher Zukunftsgestaltungen aufzeigen.
5.1 These 2: Die globale Welt ist (zu) groß und unübersichtlich, gestaltbar ist hingegen der lokale Nahraum!
Durch verschiedenste technologische Veränderungen und komplexe globale Verflechtungen wird im Alltag vermehrt der ganze Globus („die Welt“) zum Referenzrahmen. Viele Zusammenhänge erscheinen uns jedoch abstrakt, unübersichtlich und es droht der Verlust von Handlungsfähigkeit. Schon Anfang der 1990er-Jahre beschrieb der britische Soziologe Anthony Giddens das Phänomen, dass globalisierte soziale Beziehungen zu einer Verstärkung von lokalen Autonomiebewegungen und Regionalisierungstendenzen führen. Es kommt, so Giddens, zur „Neuschaffung von relativ kleinen und frei gestaltbaren Örtlichkeiten“ (Giddens 1995: 177). Deshalb rückt der lokale Nahraum vermehrt in den Fokus – auch in sozialpolitischen Bemühungen und sozialarbeiterischem Handeln. Gleich mehrere Projekte, welche wir in den vergangenen Jahren am Institut für Soziale Arbeit der FHS St. Gallen bearbeitet haben, folgen dieser Logik. Was für implizite Zukunftsvorstellungen lassen sich herausarbeiten?
5.1.1 Bestimmte Personengruppen sind in besonderem Masse auf diesen Nahraum und somit auf gestärkte lokale Unterstützungsnetzwerke angewiesen!
5.1.1.1 Alte Menschen sollen möglichst lange möglichst selbständig zu Hause leben können!
Gesellschaftliche Entwicklungen, wie Individualisierungstendenzen, führen zu veränderten Werten und zur Auflösung von Solidargemeinschaften wie Familie, Freundschaft oder Nachbarschaft. Berücksichtigt man die demographische Entwicklung, so werden wir in Zukunft immer älter. In einer älter werdenden und überalterten Gesellschaft ist das Gesundheits- und Pflegesystem auf Dauer nicht finanzierbar und der drohende Kollaps steht bevor. Es droht die Einsamkeit und Isolation, insbesondere im Alter. Vor diesem Zukunftsszenario besteht eine der Herausforderungen darin, wie Menschen möglichst lange und möglichst selbständig zu Hause wohnen bleiben können. Stichworte hierfür sind „ambulant vor stationär“, Wohnen im Alter, Generationenwohnen etc. Von uns begleitete und untersuchte Projekte in diesem Bereich versuchen, den sozialen Kitt wieder anzurühren, die lokal vorhandenen Menschen und Gruppen zu aktivieren, Menschen unterschiedlicher Lebensalter zusammen zu bringen, Unterstützungsnetzwerke zu schaffen und neue Wohnformen auszuprobieren. (vgl. bspw. Beck/Otto 2012 Reutlinger 2013)
5.1.1.2 Menschen mit Beeinträchtigung oder Behinderung sollen selbstbestimmter leben können!
Nicht nur Menschen im Alter sind vermehrt auf den Nahraum und die dort vorhandenen Unterstützungspotentiale angewiesen, sondern auch Menschen mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung. Ausgangspunkt der Projekte „benabita“ oder „Personenzentrierte Zukunftsplanung“ ist der Mensch, sein lebensweltlicher Blick und Fragen wie: „Was ist mir im Leben besonders wichtig, damit es mir gut geht? Wie sieht eine wünschenswerte Zukunft für mich aus? Was sind die nächsten Schritte und wer kann wie helfen?“3 Eine Personenzentrierte Zukunftsplanung will das familiäre ebenso wie das soziale und nahräumliche Umfeld, aber auch das professionelle Hilfesystem in den Hilfeprozess und die Zukunftsgestaltung mit einzubeziehen. Die Frage der Inklusion hat auch Auswirkungen darauf, wie Häuser, Wohnungen und Straßen und Plätze im Stadtteil gebaut werden. (vgl. Reutlinger/Lingg 2012)
5.1.1.3 Kinder sind unsere Zukunft! Deshalb gilt es die Kinder zu fördern und ihnen ein anregungsreiches nahräumliches Umfeld bereit zu stellen, welches sie sich selbständig aneignen können.
Vollständig losgelöst und überraschend analog zur Alten- oder Behinderten-Diskussionen wird besonders seit dem PISA-Schock auch in der Sozialen Arbeit über Kinder gesprochen. Jedes Kind soll/müsse von Geburt auf speziell gefördert werden mit dem Ziel, dass kein Kind zurück gelassen wird bzw. vom Weg abkommt. Deshalb schließen sich die verschiedensten Akteurinnen der frühkindlichen Bildung und Betreuung zusammen mit dem Kindergarten, der Schule, den schulergänzenden Diensten, den Freizeitangeboten, Sportvereinen, den Einrichtungen des Jugendamtes oder speziellen sozialpädagogischen Angeboten. Sie alle bilden so genannte lokale Bildungslandschaften (vgl. Reutlinger 2009). Dadurch ist das Kind umgeben vom Unterstützungs- und Hilfesystem, welches sich nahräumlich im Wohnquartier aufspannt. Darüber hinaus werden spezielle Lernwelten geschaffen mit dem Ziel, dass sich das Kind spielend, lernend, manchmal alleine, aber immer öfter begleitet den Nahraum aneignen kann.
5.1.1.4 Nur ein jugendfreier öffentlicher Raum ist ein guter Raum. Jugend als verlorene Generation?
Betrachtet man den medialen Diskurs, so hören bei Jugendlichen die lebensweltliche Zentrierung, das Verständnis und der Schutzgedanke plötzlich auf. Jugend stört – insbesondere im öffentlichen Raum. Hier werden Jugendliche durch ihre Aneignungsformen sichtbar. Gewalttätig, apolitisch, konsumorientiert – so zeichnen die Medien das Bild der Jugend. Jugendliche geraten im öffentlichen Raum in den allgemeinen Sicherheits- und Kontrolldiskurs. Aufsuchende und mobile Jugendarbeit orientiert sich an neuen Paradigmen wie der Allparteilichkeit oder der Aktivierung. Neu entstandene Teams sind in vielen Städten dazu angehalten, in enger Kooperation mit der Polizei und Sicherheitsdiensten Jugendliche aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Die dominante Vorstellung lautet: Sauberkeit bringt Sicherheit und Sicherheit ist wichtig für das Image eines Stadtteils. Denn, wie ich aufzuzeigen versuchte, ist der Nahraum die neue Basis sozialarbeiterischen Handelns. (vgl. Fritsche/Reutlinger 2012)
Angesichts der Zahlen arbeitsloser Jugendlicher in vielen europäischen Ländern fragt man sich, was durch diese Verdeckungs-Logik alles an Bewältigungsherausforderungen in der Unsichtbarkeit versinkt – eine Frage, die ich in meinen spanischen Forschungsprojekten ins Zentrum stellte (Reutlinger 2003 Kniffki/Reutlinger 2013). Hat Jugend überhaupt noch eine Zukunft? Oder kann man von einer „überflüssigen“ oder verlorenen Generation reden, wie dies bspw. Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer tun?
5.1.2 Die Lösung lautet: neue professionelle Kooperationsformen über den Nahraum!
Angesichts der aufgezeigten Bedeutung des Nahraums für die verschiedensten NutzerInnengruppen, wird vielerorts eine nahraumbezogene Kooperation quer zu den bisherigen Disziplinen und Ressorts gefordert. Beispielhaft kann man dies anhand des Projekts Spielraum illustrieren, welches in Österreich, Deutschland und der Schweiz durchgeführt wurde. Ziel dieses von der deutschen Kinder- und Jugendstiftung verantworteten Projekts lag in der Umgestaltung von Spiel- und Sportplätzen unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – fokussiert wurden neue Formen der nahräumlichen Kooperation. (vgl. Kessl/Reutlinger 2013)
„Das Programm hilft, Zuständigkeitsgrenzen zu überwinden und Verantwortungsgemeinschaften zu bilden. Unterschiedliche Akteure wie Träger der Jugendarbeit, Eltern, Jugendamt, Schulen oder Sportvereine helfen dabei, dass mit SPIELRAUM aus einer unattraktiven Fläche ein sichtbarer, bekannter Ort und wichtiger Anlaufpunkt für junge Menschen aus der Nachbarschaft wird.“4
Dieser neue Anspruch an nahraumbezogener Kooperation führt zur Hinterfragung der bisherigen Selbstverständnisse von Einrichtungen und klar definierten Handlungsfeldern. Einrichtungen müssen sich öffnen und sich bewusst werden, wo sie sich verorten, wofür sie stehen. Sie müssen sich neu in den nahräumlichen Zusammenhang denken.
5.1.3 Nahraumorientierung ist nicht per se nur gut!
Angesichts der diffusen und willkürlichen Diskussion von Nahraumorientierung, besteht jedoch die Gefahr, dass diese fachlich begründbaren Paradigmenwechsel ins Fahrwasser von Umbau- und Sparplänen kommunaler Verwaltungen geraten. Denn in der verwaltungslogischen Diskussion wird der Nahraum ebenfalls als geeignete Größe für neue Steuerungsmodelle gesehen (vgl. Reutlinger/Zychlinski 2013). Mit den daraus resultierenden Spannungen und Widersprüchen befassten wir uns in den vergangenen Jahren in mehreren Entwicklungs- und Consultingprojekten von Gemeinden und Städten. Bestimmte Selbstverständnisse von einst klar umrissenen Handlungsfeldern geraten hier an ihre Grenzen, wie Projekte im Bereich der Schulsozialarbeit, der offenen Jugendarbeit oder der Gemeinwesenarbeit zeigen. Wichtig wäre es, dass die Chance der Öffnung genutzt wird, um den Kernfragen auf den Grund zu gehen. Wofür stehen wir? Was bedeutet es, eine Kinderperspektive einzunehmen? Welchen Wert hat die Jugend? Welche Form von Gemeinschaft verfolgen wir, ohne dass die romantisierend und unerreichbar ist? Ist es nicht widersprüchlich, wenn in einer Kommune unabhängig der Alten-, Behinderten-, und Jugendhilfebereich nahräumlich umgestaltet wird – man dies gegenseitig gar nicht wahrnimmt? Was ist der Gewinn einer nahräumlichen Umstrukturierung?
Abbildung 4: Übersicht Korpus 2
5.1.4 Das Reden über den (Nah-)Raum ermöglicht Handlungsfähigkeit und Gestaltung!
Deutlich wird der Gewinn in einem aktuell laufenden EU-Projekt mit dem Namen RELETRAN (Red Latinoamerica-Europea de trabajo social transnacional). In diesem länderübergreifenden Projekt müssen jeweils eine Praxisorganisation zusammen mit einer Verwaltung und einer Hochschule ein für das jeweilige Land oder die Region passendes Aus- und Weiterbildungsangebot zum Thema Gemeinwesen konzipieren und gemeinsam durchführen. Der Austausch und Dialog zwischen Theorie, Verwaltung und Praxis, aber auch zwischen den 12 Projektpartnern aus Lateinamerika und Europa soll über den Begriff „comunidad“ bzw. „trabajo social comunitario“ des Gemeinwesens bzw. Gemeinwesenarbeit geschehen (Kniffki/Reutlinger 2013, 2014). Aktuelle Auswertungen zeigen erstens, dass auch international der Nahraum als die Einheit gesehen wird, um auf die Komplexität der globalen Veränderungsprozesse zu reagieren. Auch hier reden die unterschiedlichen Akteure aus den verschiedenen Ländern über den (Nah-)Raum, haben aber kein gemeinsames Verständnis davon, sondern bleiben bei sich und ihren Interessen: In Brasilien werden Mädchen aus mehrfach belasteten Verhältnissen in Ausdruck und Tanz geschult, die Angebote in Kolumbien sind geprägt von der Gewalterfahrung des schon 50 Jahre dauernden Bürgerkriegs oder Spanien fokussiert die Projekte auf die Herausforderungen von massiver Jugendarbeitslosigkeit und den Sparmaßnahmen im Sozialbereich, welche die EU einfordert. Zweitens – und das ist die für mich neue Erkenntnis – scheinen die verschiedenen Akteure, indem sie über Comunidad bzw. den Nahraum reden, ihre Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen – auch wenn sie keine gemeinsame Definition der Bedeutung von Nahraum haben. Durch den Austausch mit anderen – also „der Praxis“, der Verwaltung, oder Teilnehmenden anderer Länder – ist ein Ausbruch aus der Alltagsroutine möglich. Das Reden über Comunidad mit anderen scheint dazu zu führen, dass Veränderungen der eigenen Praxis möglich werden – die Akteure beginnen, die eigene Zukunft mit zu gestalten.
6. Soziale Arbeit – falsch verbunden? Abschließende Überlegungen
Das Ziel der laufenden Tagung ist es, „aus der Analyse der Vergangenheit (…) einen Blick in die Zukunft zu richten und gemeinsame Wege im Berufsfeld der Sozialen Arbeit zu entdecken“ – so der Ausschreibungstext. Übergeordnet steht die Frage „Soziale Arbeit – falsch verbunden?“
Wie ich zu Beginn meiner Ausführungen verdeutlichte, will ich heute keine einfachen Lösungen, Heilsversprechungen oder Visionen kund tun, da dies weder adäquat wäre, noch fühle ich mich hierzu in der Lage. Auf der Basis der beiden Korpora liegt zum Ende meiner Ausführungen eine Auslegeordnung vor, die wir gemeinsam interpretieren und diskutieren können, ja müssen. Persönlich stimmt mich die Datenbasis doch ziemlich nachdenklich. Soziale Arbeit scheint sich verstrickt zu haben – wirklich attraktive Szenarien für die Zukunft liegen keine vor. Wenn es positive Entwicklungen gibt, so scheinen diese klein, rückbezogen auf den Nahraum und angesichts der Weltlage unbedeutend. Die Tagungsfrage aufgreifend könnte dies bildlich bedeuten, dass die Verkabelungen innerhalb der Sozialen Arbeit, wie auch außerhalb unserer Profession dermaßen verdreht sind, dass die direkten Drähte und Verbindungen nicht mehr ersichtlich sind. Schlimmer noch, der Kabelsalat zu Störungen führt oder zum Abbruch bzw. Nicht-Aufbau von Kontakten und der Kommunikation. Falsch verbunden für AdressatInnen, die mit hilfestellenden Fachkräften in Kontakt treten wollen. Falsch verbunden, weil vieles noch analog funktioniert in einer digitalen und ortlosen Welt. Falsch verbunden mit unseren Wurzeln und Traditionen – und damit mit unserem gesellschaftlichen Auftrag. Falsch verbunden für andere Professionen, die gemeinsam das Soziale gestalten wollen. Falsch verbunden mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung und damit falsch verbunden für die Zukunft?
Dieser negative Blick muss jedoch gar nicht sein. Denn meiner Meinung nach gibt es vielfältige Spielräume, anhand derer man die vorliegenden Daten anders lesen kann. Hilfreich wären saubere Analysen des Vergangenen, das Ausloten von wünschbaren Entwicklungen aus der Gegenwart heraus und die Suche nach orientierungsgebenden Trends. Dies ist nicht Aufgabe von Forschung oder Politik, sondern kann vielmehr durch gemeinsame Reflexionen zwischen Praxis und Forschung, Profession und Wissenschaft gelingen.
Ihre Aufgabe war es, sich selber ein Bild zu machen und wie beim Blei-Orakel ein (oder auch mehrere) Szenarien auszuwählen, die Ihnen am plausibelsten erscheinen. Genau durch das Auswählen wird konkretes Handeln ermöglicht, so kann aus Visionen ein echtes Ziel entstehen. Abschließen möchte ich mit dem anfangs des Textes stehenden Zukunfts-Zitat, welches einen zentralen Aspekt anspricht; die Zukunft ist sofort und proaktiv anzupacken, oder um es mit Matthias Horx zu sagen „Zukunft (ist zu) wagen“ (Horx 2013). Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Verweise
1 An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Kollegin Christina Vellacott vielmals bedanken. Sie unterstützte mich bei der Vorbereitung auf das Thema „Zukünfte der Sozialen Arbeit“ in vielfältiger Art und Weise. Die vorliegende Fassung entstand in einem länger dauernden Prozess, in dem wir uns beide neue Themenstränge, wie den der Zukunftsforschung, durch gemeinsame Diskussionen erschlossen.
2 http://www.zukunftsinstitut.de/verlag/studien_detail.php?nr=106
3 http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/gegenwart/materialien/persoenliche-zukunftsplanung-inklusion-als-menschenrecht/zukunftsplanung-personenzentriertes-denken-und-persoenliche-zukunftsplanung/?tx_ttnews%5Bcat%5D=47&cHash=46e1919e77a89f87d9371c067f391282 (07.05.2014)
4 http://www.dkjs.de/unsere-arbeit/verantwortung-wagen/spielraum.html
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Über den Autor
Prof. Dr. phil. Habil., Dipl. Geogr. Christian Reutlinger, Jg. 1971
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