soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 12 (2014) / Rubrik "Thema" / Standort Linz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/336/569.pdf
Kalin Trifonov:
1. Einleitung
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) müssen ihr Haus, ihre Familie und ihre Freunde sehr früh verlassen. Diese Kinder und Jugendlichen flüchten unter anderem vor Krieg, Hunger, Armut, Kinderarbeit, Misshandlung, Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung oder Missbrauch als Kindersoldaten (Fronek 2010: 34). Sie nehmen Risiken und Gefahren auf sich, bewältigen tausende von Kilometern in fremden Ländern, durch Wüsten und Meere. Die Flucht dauert Wochen, Monate und für manche sogar Jahre (ebd.: 42). Dem Entschluss, die Heimat zu verlassen, liegen Verzweiflung und Not zugrunde und auch große Hoffnung. Die Situation in den Herkunftsländern und die gefährliche Flucht stellen große psychische Herausforderungen für umF dar (Oppedal/Idsoe 2012: 684).
Nach der langen und belastenden Reise erreichen manche Österreich, wo sie mit einer restriktiven Asylpolitik konfrontiert werden. Diese basiert auf der Annahme, dass die meisten der Neuankömmlinge keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention seien. Die Asylpolitik spricht von „Wirtschaftsflüchtlingen“, „Ankerkindern“, vom Missbrauch des Sozialsystems. Der Kontakt mit der österreichischen Asylpraxis und -politik ist daher häufig ein traumatisches Erlebnis. Das Trauma führt zu Krankheit: umF leiden oft an Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Essstörungen, Müdigkeit, und Konzentrationsstörungen (Epima 2013). Sie vermissen ihre Verwandten, ihre Freunde und das gewohnte Umfeld.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Österreich zu verdeutlichen. Um die Herausforderungen, denen umF gegenüber gestellt sind, zu veranschaulichen, wird zunächst der Ablauf des Asylverfahrens in Österreich dargestellt. Danach wird vertiefend auf die rechtliche Situation von umF in Österreich eingegangen. Aspekte der Asylpolitik und -praxis und deren Folgen für umF werden untersucht, um abschließend daraus Empfehlungen abzuleiten.
2. Asylantrag und Asylverfahren
Ein Asylantrag (Rechtliche Grundlage: §2 Abs. 1 Z 13, § 17, §§ 43-45 AsylG) gilt als gestellt, wenn ein Flüchtling gegenüber einem Sicherheitsorgan bzw. einer Sicherheitsbehörde oder bei einer Erstaufnahmestelle auf welche Weise auch immer das Wort Asyl oder den Bedarf nach Schutz in Österreich äußert (Schumacher/Peyrl/Neugschwendtner 2012: 242). Der Flüchtling wird dann von dem Sicherheitsorgan bzw. der Behörde in eine Erstaufnahmestelle (EASt) überführt. In Österreich gibt es zurzeit drei EASt: die EASt Ost in Traiskirchen in Niederösterreich, die EASt West in Thalham in Oberösterreich und die EASt Flughafen in Schwechat in Niederösterreich. Ab dem Moment der Antragstellung ist die Person vor Abschiebung geschützt. In der Erstaufnahmestelle wird vom Flüchtling persönlich ein Asylantrag gestellt.
Nach der erfolgreichen Asylantragsstellung beginnt das Zulassungsverfahren, das auch „Dublinverfahren“ nach der gleichnamigen Verordnung genannt wird. Die rechtliche Grundlage des Zulassungsverfahrens beruht auf der Dublin III-Verordnung 604/2013 vom 26.06.2013 [Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (Abl. L 38/1 vom 08.02.2014); Asylgesetz]. Bei einem Zulassungsverfahren wird geklärt, ob Österreich für das Asylverfahren überhaupt zuständig ist (Schumacher/Peyrl/Neugschwendtner 2012: 245). Die Behörde kann dabei zu dem Schluss kommen, dass der Antrag nicht inhaltlich, also die Fluchtgründe betreffend, von Österreich geprüft werden muss. Gemäß der Dublin III Verordnung, die seit Juli 2013 in Kraft ist, kann der Antrag zurückgewiesen werden, da ein anderer Staat (also ein EU-Mitgliedsland, die Schweiz, Norwegen oder Liechtenstein) zuständig ist, ein Folgeantrag gestellt wurde oder Drittstaatssicherheit besteht. Diese Verordnung hat für Asylverfahren in Österreich hohe Relevanz, da die Einreise nach Österreich über den Landweg nur über Dublin III Staaten erfolgen kann (ebd.: 246). Basierend auf dieser Verordnung wird in diesem Fall dann ein Ausweisungsverfahren eingeleitet. Ein Bescheid wird durch Polizeiorgane zugestellt, die den AsylwerberInnen auch sofort in Schubhaft nehmen können. Dies erfolgt jedoch nur, wenn Hinweise vorliegen, dass der/die AsylwerberIn sich der verhängten Maßnahme zu entziehen beabsichtigt (ebd.: 251).
Das Zulassungsverfahren ist auf zwanzig Tage befristet, wobei diese Frist verlängert werden kann, wenn im Rahmen des Dublinverfahrens Konsultationen geführt werden, was relativ häufig vorkommt. (ebd.: 252)
Es bestehen fünf Möglichkeiten, wie ein Zulassungsverfahren enden kann:
Wenn der Asylantrag nicht zurückgewiesen worden ist, jedoch auch noch keine Entscheidung über den Status des/der Asylsuchenden vorliegt, wird das eigentliche Asylverfahren eingeleitet. Die rechtlichen Grundlagen dieses Verfahrens bilden das Asylgesetz, die Grundversorgungsvereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern sowie das Grundversorgungsgesetz. Im Folgenden wird das Asylverfahren selbst genauer dargestellt.
Gleichzeitig mit der Zulassungsentscheidung (siehe oben Punkt 3) sind die AsylwerberInnen für die Grundversorgung (GV) bezugsberechtigt. Mit der Zulassung zum Verfahren in Österreich wird der Fall vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl inhaltlich geprüft. In jedem Bundesland gibt es eine Regionaldirektion, welche die Einvernahmen mit der Hilfe von DolmetscherInnen durchführt. In diesem Verfahren stehen die Fluchtgründe im Mittelpunkt und die AsylwerberInnen können bei der Einvernahme vorbringen, warum sie ihr Land verlassen mussten und nun Schutz in Österreich suchen. Nach den abgeschlossenen Ermittlungen durch die zuständige Regionaldirektion des jeweiligen Bundeslandes wird mit Bescheid über die Flüchtlingseigenschaft entschieden.
Das Asylverfahren kann auch an dieser Stelle mit einer Zurückweisung bzw. Abweisung des Antrages enden (siehe oben Punkt 1 und 2 oberhalb). Eine sogenannte „positive“ Entscheidung stellt die Asylzuerkennung dar. Eine subsidiäre Schutzberechtigung kann auch hier erlassen werden. Abbildung 1 ermöglicht einen Überblick über die Stationen im Asylverfahren und ihre theoretische Dauer.
Abbildung 1: Dauer und Instanzen im Asylverfahren
Bei einem negativen Bescheid (siehe Punkt 1 und 2 oben) besteht die Möglichkeit, eine Beschwerde bei einer höheren Instanz (2. Instanz), dem Bundesverwaltungsgericht, zu erheben. Das Bundesverwaltungsgericht kann in zweiter Instanz in seiner Erkenntnis den Bescheid bestätigen, vollinhaltlich abändern oder den Bescheid aufheben und zur neuerlichen Entscheidung an die erste Instanz zurückverweisen.
Seit 01.01.2014 gibt es danach noch die Möglichkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof (VwGH), wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, welcher grundsätzliche Bedeutung zukommt. Auf dem außerordentlichen Rechtsweg ist es außerdem weiterhin möglich, den Verfassungsgerichtshof (VfGH) anzurufen. Dieser ist jedoch grundsätzlich nur dann zuständig, wenn der/die BeschwerdeführerIn behauptet, durch die Erkenntnis in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen/ihren Rechten verletzt worden zu sein.
3. Besonderheiten bei Asylantrag und Asylverfahren für umF
Mündige Kinder stellen den Antrag selbst, für unmündige Kinder wird gleich nach Ankunft ein/e Rechtsberater/in mit der Vertretung beauftragt, der/die dann einen Asylantrag stellt.
Beim Zulassungsverfahren für umF gelten folgende Regelungen: Zuständig für das Asylverfahren ist Österreich, auch wenn nachgewiesen werden kann, dass die Einreise über einen anderen EU-Staat stattgefunden hat. Die Zuständigkeit richtet sich danach, wo der/die Minderjährige den Asylantrag gestellt hat. Für einen umF ist nur dann ein anderer Mitgliedstaat zuständig, wenn sich ein/e Angehörige/r der Familie dort rechtmäßig aufhält und wenn dies im Interesse des/der Minderjährigen ist.
Da die österreichische Asylpolitik sehr restriktiv ist, wird oft sofort angenommen, dass falsche Altersangaben gemacht werden. So wird in der Praxis das Zulassungsverfahren durch eine Altersfeststellung „ersetzt“. Die Altersfeststellung hat das Ziel, die Volljährigkeit zu beweisen. Sie besteht aus einem Handwurzelröntgen, einer Zahnbegutachtung und einer Ganzkörperuntersuchung (Fronek 2010: 69). Aus den Befunden dieser Untersuchungen wird das Alter errechnet. Das Verfahren ist jedoch nicht verlässlich und oft fehlerhaft. Die Altersfeststellung wird deshalb vielfach kritisiert. Trotzdem wird sie weiter angewandt. Die Altersfeststellungen sind nicht nur eine österreichische, sondern eine in ganz Europa geläufige Praxis, die durchgeführt wird, wenn ein Identitätsnachweis fehlt, der das Alter zweifelsfrei belegt. Eine Altersfeststellung darf nur dann durchgeführt werden, wen es “begründete“ Zweifel am angegebenen Alter gibt. Oft reicht im Zulassungsverfahren aber schon das Misstrauen des/der Einvernehmenden für die Anordnung einer Altersfeststellung.
Eine weitere Auswirkung der restriktiven Asylpolitik ist das Eintragen des Geburtsdatums mit dem 1. Jänner. Der 1. Jänner wird bei jenen Jugendlichen als Geburtsdatum eingetragen, die ihre wahres Geburtsdatum nicht kennen oder nur eine Jahresangabe machen1. Auch kulturelle Unterschiede werden nicht berücksichtigt: So gibt es unterschiedliche Jahreswechsel (z. B. das persische Neujahr) oder auch Zählformen2. Dadurch wird die Volljährigkeit so schnell wie möglich erreicht. Gesetzlich sollte im Interesse der Jugendlichen gehandelt werden, sodass in den letzten Jahren die Magistratsabteilung 11 der Stadt Wien, das Wiener Amt für Kinder und Jugend, das fiktive Geburtsdatum einiger Jugendlicher infolge eines Antrages mit unterschiedlichem Erfolg sogar auf den 31. Dezember ändern konnte. Nach welchen Kriterien seitens der Asylbehörden diese Entscheidungen getroffen werden, ist nicht nachvollziehbar.
Im Jahr 2012 wurden in Österreich 1.871 Asylanträge von umF gestellt, was einer Verdreifachung der Zahl von 2007 entspricht (siehe Abbildung 2). Aus der Abbildung 2 ist auch ersichtlich, dass die Zahl der Volljährigkeitserklärungen relativ konstant geblieben ist. Von den im Jahr 2012 gestellten Anträgen wurden bis März 2013 207 der AntragstellerInnen für volljährig erklärt. Weiters ist ersichtlich, dass immer mehr unmündige Minderjährige einen Antrag stellen. Im Jahr 2012 waren es 84. Dieser Trend hängt offenbar mit der restriktiven Asylpolitik zusammen. Es kann vermutet werden, dass in Zukunft immer mehr Kinder auf die Flucht geschickt werden, weil sie bessere Chancen auf einen positiven Bescheid haben und ihnen ihr Alter geglaubt wird.
Im 2013 wurden 1.187 Anträge von umF registriert, was eine Verringerung gegenüber 2012 darstellt. Diese Abnahme dürfte einerseits mit Restriktionen zusammenhängen, andererseits mit den Möglichkeiten, in andere Länder zu reisen, wo die Asylpolitik flexibler ist (UNCHCR 2014: 21). Von den im Jahr 2013 gestellten Anträgen wurden bis Jänner 2014 bereits 188 der AntragstellerInnen für volljährig erklärt. Wie erwartet stellten immer mehr unmündige Minderjährige einen Antrag. Im Jahr 2013 waren es 67.
Abbildung 2: Trends bei Asylanträgen von umF zwischen 2007 und Juni 2014 (entnommen aus BM.I 2014)
Nach der Zulassung zur Prüfung des Asylverfahrens übernimmt die rechtliche Vertretung das Amt für Kinder und Jugend. Bei der Vertretung sind große Qualitätsunterschiede zu verzeichnen und oft ist es fragwürdig, ob diese Vertretung von Vorteil ist (Fronek 2010: 95, UNCHCR 2014). Eine Besonderheit des fremdenpolizeilichen Verfahrens ist, dass minderjährige Fremde schon mit Vollendung des sechzehnten Lebensjahres als handlungsfähig gelten. Daher können sie in Schubhaft genommen werden und bekommen bei fremdenpolizeilichen Angelegenheiten keine rechtliche Unterstützung (Schumacher/Peyrl/Neugschwendtner 2012: 270).
Bei der Einvernahme werden umF von BeamtInnen ohne psychologische Ausbildung befragt. Sensible Themen werden direkt angesprochen, die Haltung dabei ist oft von Misstrauen geprägt. Die Folgen sind Retraumatisierungen und Missverständnisse (Fronek 2010).
Zeitgleich mit der Zulassung zur Prüfung des Asylverfahrens hat ein umF Anrecht auf Grundversorgung. Die Betreuung in der GV für umF ist intensiver als im Erwachsenenbereich, wobei auch hier große Unterschiede sowohl bei den Unterbringungsplätzen (Ausstattung und Infrastruktur) als auch bei der Betreuung (Qualität, Intensität) zu verzeichnen sind (Fronek 2010: 118).
Die Steiermark betreut mit ca. 250 Plätzen die meisten unbegleiteten minderjährigen AsylwerberInnen in Österreich, wobei die Betreuung in den privaten Beherbergungsbetrieben oft kritisiert wird. Wien betreut ca. 120 Minderjährige, Oberösterreich liegt mit ca. 60 Betreuten im Mittelfeld. Keine bis wenige Plätze für Jugendliche bieten das Burgenland und Kärnten an.
Die Tatsache, dass die Zahl der Anträge von umF von Jahr zu Jahr Schwankungen unterworfen ist (vgl. Abbildung 2) und gleichzeitig nicht genug Grundversorgungsplätze in den Bundesländern vorhanden sind, führt dazu, dass sich die Situation für umF in Traiskirchen, der einzigen EASt mit Clearingstelle für umF in Österreich, immer wieder zuspitzt. Einige umF müssen ein halbes Jahr oder sogar länger in der Erstaufnahmestelle verbringen, weil sie nach der Zulassung zum Asylverfahren keinen Platz in der GV bekommen. Das Angebot in Traiskirchen ist jedoch keinesfalls auf eine längere Betreuung ausgerichtet. Es herrscht Platzmangel und es fehlen Angebote, Deutsch- oder Alphabetisierungskurse zu besuchen bzw. in die Schule zu gehen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die traumatischen Erlebnisse im Herkunftsland und während der Flucht, die lange Wartezeit in der EASt, die damit verbundene Unsicherheit, die noch längere Wartezeit in den Grundversorgungseinrichtungen und der nicht-kindergerecht gestaltete Asylprozess eine große psychische Belastung für umF darstellen.
4. Schlussfolgerungen
Um die oben beschriebene Situation von umF kindergerechter und weniger belastend zu gestalten, sollten folgende Punkte umgesetzt werden:
Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass Kinderrechte auch in Bezug auf umF eingehalten werden müssen. Es ist unzulässig, dass Minderjährige von der österreichischen Politik und Gesetzgebung benachteiligt werden.
Verweise
1 Ungefähre Jahresangaben werden etwa so gemacht: „Meine Mutter hat mir gesagt, ich bin 15.“ Im Jahr 2014 wird somit 1999 als Geburtsjahr berechnet, wobei dann der 1. Jänner als Geburtstag eingetragen wird.
2 In China kommt man zum Beispiel mit einem Jahr auf die Welt, da die Schwangerschaft mitgezählt wird.
Literatur
BM.I (2014): BM.I-Asylwesen-Statistik. http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Asylwesen/statistik/ (25.08.2014).
Epima (2013): Evaluation EQUAL-Projekt EPIMA. http://epima2.wuk.at/epima_5.htm (15.06.2014).
Fronek, Heinz (2010) Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich. Wien: Mandelbaum.
Oppedal, Brit / Idsoe, Thormod (2012): Conduct problems and depression among unaccompanied refugees: The association with pre-migration trauma and acculturation. In: Anales de psychologica, 28, S. 683-694.
Schumacher, Sebastian / Peyrl, Johannes / Neugschwendtner, Thomas (2012): Fremdenrecht. Wien: ÖGB Verlag.
UNHCR (2014): Unaccompanied and separated asylum-seeking and refugee children turning eighteen: What to celebrate? http://www.coe.int/t/dg4/youth/Source/Resources/Documents/2014_UNHCR_and_Council_of_Europe_Report_Transition_Adulthood.pdf (25.08.2014).
Über den Autor
Kalin Trifonov, Jg. 1972
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