soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 12 (2014) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/339/589.pdf


Barbara Zach:

Sozialraumorientierung in Graz

Eine Gegenüberstellung von Programmatik und Praxis


1. Vorbemerkung
Die spezifische Auffassung von Sozialraumorientierung, wie sie seit 2004 in der Grazer Kinder- und Jugendwohlfahrt umgesetzt wird, ist erst jüngst wieder Anlass für Auseinandersetzungen in der Fach- und Medienöffentlichkeit sowie in der Grazer Stadtpolitik geworden1. Auch die ihr zugrunde liegende, von Wolfgang Hinte entwickelte Variante von Sozialraumorientierung (im folgenden SRO) ist in der Fachwelt seit vielen Jahren umstritten: Von Vertreter_innen einer kritisch orientierten Sozialen Arbeit wird ihr u. a. eine Absage an das Politische Mandat der Sozialen Arbeit, eine Kompatibilität mit der neoliberalen Sozialpolitik der Responsibilisierung und Individualisierung sowie eine Untertheoretisierung des Begriffs „Sozialer Raum“ vorgeworfen (vgl. Bettinger 2012, Diebäcker 2008, Kessl/Reutlinger 2010, Otto/Ziegler 2008).


2. Fragestellung und Methode
Die vorliegende Arbeit nähert sich dem „Grazer Modell“ zunächst auf empirischem Weg und untersucht die Praxis der SRO anhand von Selbstrepräsentationen, die vom Amt für Jugend und Familie (im folgenden AfJuF) bzw. den Trägerorganisationen der SRO verfasst und auf der Webseite der Stadt Graz veröffentlicht wurden. Im Mittelpunkt dieser Analyse stand der Begriff der SRO entlang der Frage: „Was versteht das Amt für Jugend und Familie Graz unter Sozialraumorientierung? Welche Rückschlüsse können aus den Selbstpräsentationen über Ziele und implizite Normen gezogen werden?“ Im Anschluss werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung entlang einiger Eckpunkte anderer Theorien des Sozialen Raums diskutiert, mit dem Fokus auf Responsibilisierung und Individualisierung sowie dem Verständnis von Sozialem Raum.


2.1 Methoden: Feinstrukturanalyse und qualitativ-quantitative Inhaltsanalyse mit MAXQDA
Die Inhaltsanalyse mit MAXQDA folgt dem von Udo Kuckartz vorgeschlagenen Ablauf (vgl. Kuckartz 2014: 40ff), bestehend aus:

  1. Planungsphase:
    1. Formulierung des Forschungsinteresses (siehe oben)
    2. Initiierende Textarbeit mithilfe eines hermeneutisch-interpretativen Verfahrens: Die Feinstrukturanalyse folgt der von Froschauer/Lueger (2003) vorgeschlagenen Struktur mit Paraphrasierung, Überlegungen zu Funktion/Intention der Sätze, Analyse ihres latenten Sinns und Formulierung von Anschlussoptionen. Analysiert wurden drei Artikel des AfJuF zur Sozialraumorientierung, die auf dem Webportal der Stadt Graz, dort auf der Seite des Amts für Jugend und Familie zu finden sind und das „Grazer Modell der Sozialraumorientierung“ vorstellen (AfJuF 2014a, 2014b, 2014c). Dabei wurde nur der textliche Content der Webseiten analysiert, nicht der Stellenwert der Texte im Rahmen des Webportals sowie die Ikonographie des Webportals.
    3. Festlegung der Analyseeinheiten („Newsletter Sozialraumorientierung“ des AfJuF); Bildung einer Stichprobe (fünf zufällig ausgewählte Newsletter-Artikel).
  2. Entwicklungs- und Testphase:
    1. Kategorienbildung: Die induktive Kategorienbildung orientiert sich an der Technik der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse. Dabei wird das Analysematerial durch Zusammenfassung auf seine wesentlichen Inhalte reduziert, diese Passagen dann nach Themen gruppiert und ihnen eine oder mehrere Kategorien zugeordnet. Das so entwickelte Codesystem wurde zunächst an drei Analyseeinheiten getestet und dabei verändert und verfeinert. Die Schritte Feinstrukturanalyse – Kategorienbildung – Testen der Kategorien wurde mehrmals durchlaufen.
  3. Codierphase: Codiert wurden fünf von insgesamt elf bisher erschienen Ausgaben des seit 2010 vom Amt für Jugend und Familie herausgegebenen Newsletters zur Sozialraumorientierung, der auf der Webseite der Stadt Graz abrufbar ist. Unter Anwendung eines dafür entwickelten Codesystems wurden insgesamt 51 Artikel unter Zuhilfenahme der QDA-Software MAXQDA analysiert.
  4. Auswertungsphase: Die Auswertung erfolgt mittels einfacher statistischer Verfahren (Darstellung der Häufigkeiten der Fundstellen) in Kombination mit einer qualitativen Darstellung und Diskussion der Ergebnisse.


2.2 Anmerkung zum empirischen Material
Die der Analyse zugrunde liegenden Texte haben auch eine Werbefunktion im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des AfJuF. Es könnte daher eingewendet werden, dass sie „geschönt und geglättet“ sind und kein authentisches Bild der „Praxis vor Ort“ liefern können. Das wird stimmen, Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist jedoch die Sichtweise der Behörde und relevanter Träger, wie sie der Öffentlichkeit präsentiert wird, selbst. Die Sichtweise der Behörde ist insofern nicht irrelevant als sie die treibende Kraft hinter der Einführung der SRO war und diesen Prozess stark bestimmt und gesteuert hat (vgl. AfJuF 2009, 2013). Das Redaktionsteam des Newsletters besteht aus einer Vertreterin des Referats „Informationsmanagement und Kommunikation im Amt für Jugend und Familie“ und mehreren Vertreter_innen von Trägerorganisationen, sodass auch deren Sichtweise in die Analyse miteinfließt.


3. Ergebnis der Feinstrukturanalyse und Codesystem
Von Seiten der Stadt Graz bzw. des AfJuF wird der größte Vorteil der Sozialraumorientierung in der Möglichkeit der Individualisierung der Hilfeangebote gesehen („‚passgenaue‘ Hilfen in Form von individuellen Maßanzügen“). Da der Sozialraumorientierung eben auch die Orientierung auf den Sozialraum, definiert als „familiäres, soziales und Wohnumfeld“ (AfJuF 2014a) inhärent ist, stellt sich in weiterer Folge die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individualisierung und Sozialraumorientierung:

Als Individualisierung wird die Ausrichtung der Hilfeangebote an den Ressourcen und dem Willen der Individuen verstanden. Diese Ressourcenorientierung wird einer Defizitorientierung gegenübergestellt, die bislang die Soziale Arbeit der Jugendwohlfahrt bestimmt hätte (vgl. AfJuF 2014a).

In den Texten AfJuF (2014a, 2014b und 2014c) fällt (neben der Profilierungsrhetorik) die Gleichsetzung von Jugendamt und der Stadt Graz ins Auge: „Unser Fachkonzept“, „…geht Graz als bisher einzige Stadt in Österreich seit 2004 einen neuen Weg…“; „Der Grazer Weg“; „Graz hat sich als erste Stadt in Österreich dazu entschlossen…“. Das soll unter folgender Fragestellung untersucht werden:


Code Subcode Beschreibung der Kategorie und Ankerbeispiele
Verhältnis Individuum – Sozialraum – Gesellschaft
Angebot für Individuum/Familie Der/die Einzelne oder die Familie stehen im Vordergrund der Problemanalyse und/oder der Lösungsfindung; die Angebote richten sich an Individuen oder Familien, nicht an bestimmte Zielgruppen (Eltern, Jugendliche …) und nicht an den Sozialraum. Ankerbeispiel: „Familien in schwierigen Lebenssituationen … unterstützen.“
Angebot für Zielgruppe Das Angebot richtet sich nicht an einzelne Individuen oder Familien, sondern an Gruppen. Ankerbeispiele: „Angebot für Kinder und Jugendliche aus dem Wohngebiet Pomisgasse“, „Jugendliche in Graz“
Entpolitisierung Offensichtlich gesellschaftlich verursachte Problemlagen werden individualisiert. Der Auftrag Sozialer Arbeit wird allein in der „Hilfe/Unterstützung“ der Klient_innen gesehen; es werden keine Ideen/Vorstellungen entwickelt, was an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert werden müsste, um die individuellen Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen oder besser lösen zu können. Ankerbeispiel: bei einem Projekt für „bildungsbenachteiligte Familien“ ist es ausschließliches Ziel „innerfamiliäre Bildungsaktivitäten … zu fördern“
Gesellschaftliche/politische Verantwortung Es wird auf politische/gesellschaftliche Verantwortlichkeiten für individuelle Problemlagen hingewiesen oder diese werden eingefordert ((Sozial-)Politik, Bildungssystem, Wirtschaft, Gesetzgebung). Ankerbeispiele: „Vertreibung junger Menschen aus dem öffentlichen Raum“, „Gesellschaftspolitisch ist zu bemerken, dass das ‚Jugendproblem’ ein gesellschaftliches Problem ist…“
Defizitorientierung s werden primär „Defizite“ und „Fehler“ der Klient_innen benannt (Qualifikation, persönliches Verhalten, Lebensführung); Klient_innen werden als Problem dargestellt, als Fall; Stigmatisierungen, Abwertungen, Diskriminierungen, Rassismus. Ankerbeispiele: „die Zielgruppe gilt als schwierig …“, „Jugendlichen am Rand der Gesellschaft“
Ressourcenorientierung Es werden primär die Stärken und Fähigkeiten hervorgehoben und auch konkret beschrieben sowie zum Ausgangspunkt der Hilfeplanung, zur Korrektur derselben etc. gemacht. Denkbar wäre der Verweis auf das Vorhandensein musikalischer, kreativer Fähigkeiten, beruflicher Qualifikationen, sozialer Kompetenzen … Ankerbeispiele: „Jugendliche, die selbst LSF-Erfahrungen und/oder eine einschneidende Lebensgeschichte haben, tragen einen unschätzbaren Wert in sich.“
Wer bestimmt den Hilfebedarf, wer plant die Maßnahme?
v. a. die SOA sind aktiv Die Aktivität liegt primär oder ausschließlich bei den Professionist_innen, die Klient_innen (Individuen, Familien, Zielgruppen) werden als Hilfeempfänger_innen, d. h. in einer passiven Rolle beschrieben. Ankerbeispiele: Klient_innen werden beraten, informiert, aktiviert, gefördert …
v. a. die Klientinnen sind aktiv Die Aktivität liegt ausschließlich oder primär bei den Klient_innen: Beispielsweise: Projekt/Hilfeplan wird auf Wunsch, nach Aktivität von Klient_innen o. ä. initiiert, geändert, gestoppt. Ankerbeispiele: „Wenn nunmehr die sogenannten Klient_innen (…) als Expert_innen ihres Lebensalltags und damit auch als Expert_innen für die Ausgestaltung der notwendigen Veränderungsprozesse angesehen werden (…)“
Sozialraumverständnis
Lebens- und Wohnumfeld SR wird als (individuelles) Lebens- und Wohnumfeld definiert. Ankerbeispiele: „Lebens- und Wohnumfeld“, „Wohngebiet“, „direktes Lebensumfeld“, „Siedlung“, „Quartier“
Andere Beschreibungen SR wird anders definiert, z. B. als Aneignungsraum für Klient_innen, als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, in seinen positiven oder negativen Implikationen für das Individuum … Ankerbeispiele: “Um einer Vertreibung junger Menschen aus dem öffentlichen Raum im Zentrum unserer Stadt entgegenzuwirken, haben wir uns dazu entschlossen unseren neuen Standort bewusst sehr zentral zu platzieren.“
SR relevant Der Sozialraum wird in irgendeiner Form im Zusammenhang mit dem beschrieben Projekt, der beschriebenen Maßnahme erwähnt oder steht in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Projekt. Ankerbeispiele: „Es geht darum, diese Frauen/Familien dort abzuholen, wo sie sind, zuhause, in ihrer Lebenswelt, ihrem Wohnumfeld (auf der Straße, in Parks, Geschäften, Moscheen, Praxen von Kinderärzt_innen, Kindergärten, Schulen etc.)“
SR nicht relevant Der Sozialraum steht in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Projekt, könnte also in derselben Form in einem beliebigen anderen Sozialraum stattfinden.
Verhältnis zu Politik/Verwaltung/anderen Institutionen
Gleichsetzung Jugendamt/Stadt Graz Die Stadt Graz und das Amt für Jugend und Familie werden als Einheit präsentiert. Ankerbeispiel: „… dass Graz mit dem Prozess der Sozialraumorientierung als erste österreichische Stadt einmal mehr versucht, Wegbereiter für eine neue Form der Sozial- und Jugendarbeit zu sein.“
Verhältnis Behörden positiv Zusammenarbeit mit oder Arbeit der Behörden/Politik wird positiv oder neutral dargestellt. Ankerbeispiel: „Insgesamt stellte sich (…) die ausgezeichnete Kooperation mit Hausverwaltungen, Einrichtungen und Magistratsabteilungen als wichtiger Faktor für das Gelingen der Projekte heraus.“
Kritik an Behörden Zusammenarbeit mit oder Arbeit der Behörden/Politik wird negativ dargestellt; Kritik wird geäußert. Ankerbeispiel: „Obwohl das Team (…) rechtzeitig um Genehmigung der Veranstaltungsreihe (…) angesucht hat, konnte diese aufgrund ‚fehlenden Platzes’ im öffentlichen Raum nicht genehmigt werden.“
Tabelle 1: Aus der Feinstrukturanalyse entwickeltes Codesystem


4. Darstellung der Ergebnisse der qualitativ-quantitativen Inhaltsanalyse

Code Anzahl der Codings
Verhältnis Individuum – Sozialraum – Gesellschaft
Angebot für Zielgruppe 27
Angebot für Individuum/Familie 1
Defizitorientierung 18
Ressourcenorientierung 3
Gesellschaftliche/politische Verantwortung 5
Entpolitisierung 6
Sozialraumverständnis
SR nicht relevant 20
SR relevant 3
„Lebens- und Wohnumfeld“ 12
Andere Definitionen 1
Verhältnis SOA-Klient_innen
v. a. SOA aktiv 41
v. a. Klient_innen aktiv 2
Verhältnis SOA-Politik/Behörde
Zusammenarbeit mit Behörden positiv 7
Gleichsetzung Jugendamt-Behörde 4
Kritik an Behörden 1
Summe Codings 298
Tabelle 2: Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick


Abbildung 1: Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick


4.1 Individualisierung, Ressourcen- und Defizitorientierung
Die Individualisierung stellt im „Grazer Modell“ das wichtigste Ziel der Sozialraumorientierung dar. Gleichzeitig wird in den Newslettern lediglich ein Angebot beschrieben, das unter die Kategorie „Angebot für Individuum/Familie“ fällt. Demgegenüber richten sich 27 der präsentierten Angebote an bestimmte Zielgruppen, beispielsweise Kinder und Jugendliche in Graz, (Pflege-)Eltern, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Kinder einer bestimmten Siedlung usw. Möglicherweise wird die Darstellung von individualisierten Angeboten als nicht öffentlichkeitsrelevant gesehen oder der Schutz der Privatsphäre steht einer Berichterstattung entgegen. Der einzige Fall, der beschrieben wird, widerspricht einer solchen Deutung jedoch, denn dort wird zumindest ein Teil der Arbeit mit den Jugendlichen sehr wohl dargestellt:

„Für zwei der jungen Menschen wurde in der Folge eine passgenaue Hilfe durch einen der privaten Kinder- und Jugendhilfeträger beschlossen, die sie bei der Suche nach einer für sie bewältigbaren Arbeit unterstützt. Insgesamt zwei Jugendliche konnten vorerst in eine niederschwellige Arbeits- und Tagesstruktur eingebunden werden.“

Die geringe Aufmerksamkeit, die individualisierten Hilfeangeboten in der Berichterstattung zuteil wird, steht jedenfalls im Widerspruch zu deren Bedeutung in den programmatischen Texten. Aus der Darstellung des einzigen individualisierten Angebots lässt sich zunächst auch nicht ableiten, wieweit die „Ausrichtung am Willen der Menschen, ihren Stärken und Fähigkeiten“ im „Grazer Modell“ generell konzipiert oder verwirklicht wird. Im konkreten Fall ist ein zumindest ambivalentes Verhältnis zum Willen der Klient_innen zu erkennen:

„‚4Ju’ hat sich das Ziel gesetzt, Jugendliche zu kontaktieren, die für die SozialarbeiterInnen des Jugendamtes schwer oder gar nicht erreichbar sind. Es wird versucht, mit den Jugendlichen an einem für sie relevanten Bild ihrer Zukunft zu arbeiten. Drei MitarbeiterInnen (…) investierten gerade am Anfang viel Zeit und Energie, sich zu überlegen, welche Strategien der Kontaktherstellung jeweils am erfolgversprechendsten sein könnten. Denn die Zielgruppe gilt als schwierig und ist an Kontakten mit dem Jugendamt, der Schule und anderen Institutionen nicht interessiert.“

Die Jugendlichen wollen keinen Kontakt zu Schule oder Sozialarbeit, aber es wird dennoch und unter Aufbietung von „viel Zeit und Energie“ ein Weg der Kontaktaufnahme gesucht, denn die Projektbetreiber_innen sind der Überzeugung, dass die Jugendlichen Hilfe brauchen um ein „relevante(s) Bild ihrer Zukunft“ zu entwickeln. Sozialarbeit setzt sich also erst einmal über den Willen der Jugendlichen hinweg, um sie zur Entwicklung eines anderen Willens anzuhalten. Unabhängig davon, ob man dieses Vorgehen als vernünftig betrachtet oder nicht: Der Wille ist offensichtlich formbar, veränderbar und veränderungsbedürftig und nicht Ausgangspunkt einer sozialarbeiterischen Intervention, wie die oftmals wiederholte Rede von der „Ausrichtung am Willen“ suggeriert.

Aufschlussreicher bezüglich der „Ausrichtung an Stärken und Fähigkeiten“ ist die Analyse derjenigen Textstellen, die sich unter die Kategorien Ressourcen- oder Defizitorientierung subsumieren lassen. Hier zeigt die Tabelle 1 eine weitaus höhere Anzahl der Codings mit Defizit- (18 Codings) als mit Ressourcenorientierung (3 Codings). Sämtliche der letztgenannten Fundstellen mussten außerdem beiden – sich eigentlich widersprechenden – Kategorien zugeordnet werden. Die Schwierigkeit der Zuordnung soll an einem Beispiel verdeutlicht werden (Inhalt ist ein Projekt, in dem Mädchen als Mentorinnen für andere Mädchen ausgebildet werden):

„Ziel ist, dem Wissen und Können junger Menschen einen Raum zu geben, in dem ihre Erfahrungen auf fruchtbaren Boden fallen. (…)
Jugendliche, die selbst LSF-Erfahrungen und/oder eine einschneidende Lebensgeschichte haben, tragen einen unschätzbaren Wert in sich. Durch ihre eigenen Erlebnisse erreichen sie schwer zugängliche junge Menschen, weil sie ‚ihre Sprache sprechen’. (…) Durch die ausgebildeten Mentorinnen entsteht für junge Menschen, die sich verschließen, eine Brücke zu Fachleuten und damit zur notwendigen Unterstützung, Therapie oder sozialen Integration. (…)
Unsere Mentorinnen erfahren in den Seminaren Wertschätzung, Respekt und Loyalität zu sich selbst und zu anderen. Sie genießen einen vertrauensvollen Zusammenhalt und eine Plattform, in der sie sich mit ihren Stärken und Schwächen annehmen lernen. Unsere jungen Profis erleben die Kraft und den Rückhalt einer Gruppe im positiven Sinne. In diesem Kontext werden eigene Ressourcen herausgearbeitet und nutzbar gemacht. Unsere Mentorinnen lernen verschiedene Techniken der Kommunikation, Psychohygiene, Möglichkeiten des Umgangs mit ihrer Umwelt und sich selbst, Körperwahrnehmung und Krisenmanagement.“

Es wird zwar „Wissen und Können“ bei den Mädchen festgestellt, aber dieses muss erst als „Ressourcen“ „herausgearbeitet und nutzbar gemacht“ werden, was nur mithilfe von Fachleuten möglich ist. Genutzt werden diese Ressourcen dann in der Zuarbeit für die Fachleute, denen die Mädchen den Zugang zu anderen Mädchen eröffnen sollen, damit „Unterstützung, Therapie oder soziale Integration“ gelingt. Grundlage der „Ressourcen“ ist in der Darstellung allein das (passiv) Erlebte, das Schicksal („LSF-Erfahrung und/oder einschneidende Lebensgeschichte“), nicht beispielsweise eine positive Verarbeitung der Erfahrungen. Möglichkeiten der Verarbeitung („Psychohygiene, Möglichkeiten des Umgangs mit ihrer Umwelt und sich selber, Körperwahrnehmung, Krisenmanagement“) müssen die Mädchen erst „lernen“.

Den zahlenmäßig sehr geringen und inhaltlich widersprüchlichen Codings mit „Ressourcenorientierung“ stehen 18 Fundstellen mit einer klaren Defizitorientierung gegenüber. In diese Kategorie wurden Beschreibungen aufgenommen, in denen Klient_innen negativ konnotierte Merkmale zugeschrieben werden, Fehlverhalten unterstellt oder eine bestimmte soziale und/oder (zugeschriebene) ethnische Herkunft zur Ursache von Problemen gemacht wird. Ein paar Beispiele:

„Im Herbst 2013 bezogen 110 Familien (davon 80% mit Migrationshintergrund) eine neu errichtete Siedlung in der Jauerburggasse. Bereits nach kurzer Zeit kam es unter den BewohnerInnen zu ersten Schwierigkeiten.“

„Was brauchen wir, um mit Jugendlichen am Rand der Gesellschaft gut arbeiten zu können?“

„die Zielgruppe gilt als schwierig…“

„Im Rahmen des Projektes ‚Tagesstruktur’ werden Jugendlichen (…) die wichtigsten berufsbezogenen Basisfertigkeiten vermittelt und trainiert. Das Ziel ist, ihnen den (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern. Pünktlichkeit, entsprechende Umgangsformen wie Höflichkeit und gegenseitiger Respekt, Verlässlichkeit, Selbstständigkeit und das Übernehmen von Verantwortung sind exemplarische Beispiele grundlegender Kompetenzen, die im Zuge der ‚Tagesstruktur’ erlernt und gefördert werden. Durch das Arbeitstraining haben die Jugendlichen die Möglichkeiten, sich selbst und ihre Fertigkeiten in einer realitätsnahen Berufssituation zu erproben. Darüber hinaus kann der richtige Umgang mit Vorgesetzten und KollegInnen geübt und trainiert werden. Die Vorgabe von Aufgabenstellungen erfolgt innerhalb eines klar strukturierten Rahmens mit einfachen Regeln, auf deren konsequente Einhaltung großer Wert gelegt wird.“

Das letzte Beispiel ist insofern interessant, als sich darin eine nicht untypische Mischung zwischen vorgeblicher Ressourcen- und tatsächlicher Defizitorientierung zeigt. Überwiegend werden den Jugendlichen Defizite zugeschrieben, nämlich Unpünktlichkeit, Unhöflichkeit, Respektlosigkeit, Unzuverlässigkeit, Unselbständigkeit, Verantwortungslosigkeit, fehlende Kompetenz im Umgang mit Vorgesetzten und Kolleg_innen und die Unfähigkeit mit „einfachen Regeln“ umzugehen. Die entsprechenden Fähigkeiten und Verhaltensweisen müssen „vermittelt, trainiert, erlernt, gefördert, geübt“ werden, sind also per se nicht oder in unzureichendem Ausmaß vorhanden. Demgegenüber rekurriert nur ein einziger Satz in diesem Absatz auf ihre „Fertigkeiten“, die allerdings nicht expliziert werden – im Unterschied zu den vielen fehlenden Fähigkeiten. Der Absatz wurde daher ausschließlich der Defizitorientierung zugeordnet, trotzdem der Begriff „Fähigkeiten“ darin vorkommt.

In den Newslettern wird nicht beschrieben, welche Methoden angewandt werden, um den Willen der Klient_innen zu erheben und in die „passgenauen Angebote“ zu integrieren. Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse lassen jedoch eine deutliche Dominanz der Professionist_innen bei Bedarfsfeststellung, Planung und Umsetzung von Hilfeangeboten erkennen. Klient_innen finden sich vor allem in der passiven Rolle und werden von den Sozialarbeiter_innen oder anderen Professionist_innen „beraten, informiert, einbezogen“, erhalten „Rat und Unterstützung“ oder es werden „Patenschaften“ für sie übernommen. Insgesamt 41 Codings zu „Aktivität v. a. bei Sozialarbeiter_innen“ stehen nur zwei Codings zu „Aktivität v. a. bei Klient_innen“ gegenüber. Beispiele für erstere:

„Gemeinsam auf der Suche nach Erfolgsrezepten – Austausch unter Fachkräften: ‚Was brauchen wir, um mit Jugendlichen am Rand der Gesellschaft gut arbeiten zu können?’ Mit dieser Frage beschäftigten sich die mehr als 50 TeilnehmerInnen, die der Einladung zum ‚Sozialraum-Frühstück’ (…) folgten. Zu der bereits etablierten Veranstaltung lud das Jugendamt Graz Nordost gemeinsam mit dem Institut für Familienförderung (IFF) zum Austausch der Fachkräfte.“

„Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zwar insgesamt weniger Jugendliche als zuerst vermutet für dieses Projekt in Frage kamen. Diejenigen jedoch, die kontaktiert wurden, konnten zum größten Teil eine deutliche, objektive Verbesserung ihrer Lebenssituation durch die Interventionen der ProjektmitarbeiterInnen von „4Ju“ bewirken.“

Die zwei Codings zur „Aktivität vor allem bei Klient_innen“ stammen aus programmatischen Texten, also Texten, in denen das Konzept der Sozialraumorientierung erläutert wird. Sie sagen nichts darüber aus, inwieweit die Ziele auch erreicht wurden. Das liest sich folgendermaßen:

„… die Adressat_innen werden viel stärker in die Hilfeplan- und -umsetzungsprozesse aktiv eingebunden, jedoch nicht in einem aktivierenden Sinne, sondern eher in einem maßgeblich den Plan und die Umsetzung aktiv gestaltenden Sinne.“

Die Einschätzung, die der interviewte Experte an dieser Stelle gibt, lässt sich am analysierten Material nicht bestätigen, im Gegenteil liegt, wie oben ausgeführt, die Aktivität bei der Hilfeplanung und -umsetzung gerade nicht bei den Klient_innen, sondern bei den Professionist_innen.


4.2 Sozialraumverständnis
Die Orientierung am Sozialraum ist namengebend für das „Grazer Modell“, wobei unter Sozialraum in erster Linie das „individuelle Lebens- und Wohnumfeld“ verstanden wird. Als alternative, inhaltlich deckungsgleiche Formulierungen werden „(belastete, benachteiligte) Wohngebiete, Siedlung, Stadtteil, Quartier“ gewählt. Andere Zugänge zum Begriff des Sozialraums fehlen fast vollständig, wie Tabelle 1 zeigt. Die Zuordnung dieser Einheiten zu „Sozialräumen“ erfolgte im „Grazer Modell“ auf administrativem Weg:

„Um Familien wohnortnah und flexibel unterstützen zu können, wurde das Grazer Stadtgebiet in vier Regionen (sog. Sozialräume bzw. Jugendämter, die jeweils mehrere Stadtbezirke umfassen) aufgeteilt. Herzstück jedes der vier Sozialräume ist das Sozialraumzentrum, das die Aufgaben des Jugendamtes für die jeweiligen Bezirke wahrnimmt.“ (AfJuF 2014c)

Neben „Lebens- und Wohnumfeld“ wird der Sozialraum also zweitens als Verwaltungseinheit definiert, der die bislang bestehenden Verwaltungseinheiten (Bezirke) in der behördlichen Zuständigkeit der Jugendämter abgelöst hat. Die beiden Begriffe „Lebens- und Wohnumfeld“ und Verwaltungseinheit stehen in einem im Material ungeklärten und auch theoretisch nicht erklärbaren Zusammenhang zueinander: Wenn es vier Sozialräume gibt, gibt es denn vier unterschiedliche „Lebens- und Wohnumfelder“ in Graz? Wie kann ein Lebensumfeld an einer Bezirksgrenze enden? Der bevölkerungsreichste Sozialraum „Graz-Nordost“ hat 90.000 Einwohner_innen – haben sie alle das gleiche „Lebens- und Wohnumfeld“? Kann eine Stadt aus genau vier Wohngebieten bestehen? Usw. Wie schon ein Blick in die Umfrage zur Grazer Lebensqualität 2013 (vgl. Magistrat Graz 2014) zeigt, sind die subjektiven Bewertungen der Grazer_innen zu ihrer Lebensqualität jedenfalls nicht mit den Sozialraumgrenzen deckungsgleich, und Probleme wie Arbeitslosigkeit, Versorgung mit „Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen“ oder die Zufriedenheit mit dem „Zusammenleben“ sind erstens bezirks- und sozialraumübergreifend, zweitens vermutlich auch bezirksintern unterschiedlich ausgeprägt. Schon begriffslogisch kann das „Lebens- und Wohnumfeld“ nicht mit einer Verwaltungseinheit ident sein. Wird es in eins gesetzt, würde sich das Jugendamt damit, folgt man dem obigen Zitat, zudem zum Zentrum des Lebens- und Wohnumfeldes der Grazer Bevölkerung erheben. Besser sollte also vom „Grazer Modell der Verwaltungsorientierung“ denn der „Sozialraumorientierung“ gesprochen werden.

Auf der programmatischen Ebene werden mit der Einbeziehung des „Lebens und Wohnumfeldes“ hohe Erwartungen bezüglich der Förderung der „Selbsthilfekräfte“ der Klient_innen verbunden (vgl. AfJuF 2014b). Interessanterweise ist das „Lebens- und Wohnumfeld“ aber für die meisten Angebote im Rahmen des „Grazer Modells“ nicht relevant. 20 Codings, in denen das „Lebens- und Wohnumfeld“ für das Konzept einer konkreten Maßnahme keine Rolle spielt, stehen drei gegenüber, in denen ein Zusammenhang zu erkennen ist. Ein Rap- oder HipHop-Workshops, der Grazer Jugendgemeinderat, Freizeitangebote für „Grazer Kids“, Elternberatung, Arbeitstrainings, ein „Treffpunkt für Pflegeeltern“ oder ein Projekt für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge weisen, zumindest in der Darstellung der Newsletter, keinen Bezug zum „Lebens- und Wohnumfeld“ auf. Jugendzentren oder Jugendcafes befinden sich zwar örtlich irgendwo und werden vermutlich eher von Jugendlichen aus der Umgebung als von Jugendlichen anderer Bezirke frequentiert, aber ihre Angebote lassen nichts für das jeweilige Lebens- und Wohnumfeld Spezifisches erkennen. Nur einmal wird das „Lebens- und Wohnumfeld“ übrigens genauer beschrieben:

„Es geht darum, diese Frauen/Familien dort abzuholen, wo sie sind, zuhause, in ihrer Lebenswelt, ihrem Wohnumfeld (auf der Straße, in Parks, Geschäften, Moscheen, Praxen von KinderärztInnen, Kindergärten, Schulen etc.)“

Neben der nicht unproblematischen Verbindung „Frauen-Kinder“ fällt hier auch das Fehlen der Erwerbsarbeit als Lebensumfeld auf; beiden Fragen kann aber aus Zeit- und Platzgründen nicht weiter nachgegangen werden.

Zwei der drei Projekte, in denen das Lebens- und Wohnumfeld relevant war, werden als „Siedlungsprojekte“ bezeichnet. Beide Male waren „Lärm, Müll, Vandalismus“ Ausgangspunkte des Projekts, bzw. dass „unbeaufsichtigte Kinder die gesamte Siedlung (okkupieren) …“. Maßnahmen waren „(aktivierende) Befragung, Hausversammlung, ein gemeinsamer Abfallsammel-, Abfalltrenn- und Spielnachmittag, ein Workshop zum Thema Kindersicherheit.“ Als dezidiert am Sozialraum orientiert versteht sich das dritte Projekt, das in 50 „Stadtteilbegehungen (im) Auftrag des FuA-Arbeitskreises und der freien Träger des Jugendamtes“ durch eben diese Professionist_innen bestand, mit dem Ergebnis, dass „inoffizielle Jugendtreffpunkte – sog. ‚Hotspots‘“ durch Professionist_innen „erschlossen“ und Maßnahmen zur „Verbesserung des sozialräumlichen Umfeldes (Beseitigung von Verschmutzungen, Reaktivierung alter Spielanlagen, Brunnenreinigungen etc.)“ in die Wege geleitet werden sollten. Diese Ergebnisse werden als „wesentliche Erkenntnisse über Potentiale und Verbesserungsmöglichkeiten im unmittelbaren Lebensumfeld der BewohnerInnen“ bezeichnet und dienten dazu „Ressourcen (zu) identifizieren, aktivieren“. Wie auch in Bezug auf individuelle Ressourcen in Kapitel 4.1 herausgearbeitet, bleibt der Rekurs auf „Ressourcen“ jedoch rein rhetorisch. Bezogen auf die Häufigkeit des Vorkommens und der Konkretheit der Beschreibung („Vandalismus, Lärm …“) dominiert eine Defizitorientierung, d. h. dass die Handlungen an den vermeintlichen bzw. zugeschriebenen Mängeln der Adressat_innen ausgerichtet sind. Auch für die Verteilung der Aktivitäten zwischen Klient_innen/Bewohner_innen und Sozialarbeiter_innen gilt ähnliches wie in Kapitel 4.1.: Sie liegen hauptsächlich bei den Sozialarbeiter_innen, die den Spielenachmittag und den Workshop organisieren und auf Stadtteilbegehungen Ressourcen/Defizite diagnostizieren und Maßnahmen planen.


4.3 Gesellschaft und Politik
In den programmatischen Artikeln, die einer Feinstrukturanalyse unterzogen wurden, kommt weder der Begriff der Gesellschaft noch derjenige der Politik vor (bzw. „Politik“ lediglich in Form einer impliziten Gleichsetzung von Jugendamt und „Stadt Graz“). Nachdem beide aber zentrale Kategorien für Soziale Arbeit darstellen, wurden auch diesbezügliche Forschungsfragen in die Arbeit aufgenommen.

Wie Tabelle 1 zeigt, wurden fünf Textstellen mit dem Code „gesellschaftliche/politische Verantwortung“ belegt. Drei davon sind kurz und eher allgemein gehalten, beispielsweise:

„Gesellschaftspolitisch ist zu bemerken, dass das ‚Jugendproblem’ ein gesellschaftliches Problem ist ...“

„Menschen, die oft am Rande der Gesellschaft stehen oder von dieser benachteiligt werden…“

Die vierte Textstelle ist zwar ausführlich und konkreter, entstammt jedoch einem Interview mit einem im „Grazer Modell“ engagierten Experten und Trainer und beschreibt dessen Vorstellung von Sozialraumorientierung, nicht das Gelingen oder Misslingen ihrer Umsetzung. Das fünfte Beispiel ist insofern interessant als es in mehrfacher Hinsicht aus dem bislang gezeichneten Bild der SRO abweicht. Beschrieben wird die Neueröffnung eines Streetwork-Lokals:

„Um einer Vertreibung junger Menschen aus dem öffentlichen Raum im Zentrum unserer Stadt entgegenzuwirken, haben wir uns dazu entschlossen unseren neuen Standort bewusst sehr zentral zu platzieren. Seit November 2013 finden uns Jugendliche an der exklusiven Adresse Jakominiplatz 1 (…) Die hohe Besuchsfrequenz von jungen Menschen sehen wir als Beleg für ihr großes Bedürfnis an adäquaten Räumen.“

Es ist die einzige im gesamten analysierten Material enthaltene Textstelle, die konkret einen diskriminierenden Umgang mit Jugendlichen seitens der Gesellschaft/der Politik beschreibt und problematisiert. Es ist auch das einzige Projekt, in dem das politische Mandat der Sozialen Arbeit eine Rolle spielt, indem diese der „Vertreibung der Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum“ Widerstand entgegensetzt und „adäquate Räume“ für Jugendliche eröffnet. Zudem ist es die einzige Fundstelle, in der mit dem Rekurs auf den „öffentlichen Raum“ die Einbettung des individuellen „Lebens- und Wohnumfeld“ in den gesellschaftlichen Raum in den Blick genommen wird.

Bis auf das letztgenannte Beispiel bleibt die Bezugnahme auf gesellschaftliche und politische Verantwortlichkeiten für Problemlagen von Individuen oder Zielgruppen der Sozialen Arbeit also oberflächlich und rhetorisch, d. h. findet keinen Eingang in die Konzeption der konkreten Hilfeangebote.

Umgekehrt lassen sich sechs Textstellen finden, in denen die Dethematisierung gesellschaftlicher/politischer Verantwortlichkeiten stark ins Auge fällt. So wird im oben ausführlicher dargestellten Projekt „Tagesstruktur“ das Problem der Jugendarbeitslosigkeit verschwiegen. Ein Projekt zur „Förderung bildungsbenachteiligter Familien, v. a. für Familien mit Migrationshintergrund“ beschränkt sich auf die Förderung „innerfamiliärer Bildungsaktivitäten“ – als wäre die Weigerung oder die Unfähigkeit migrantischer Eltern die Kinder beim Lernen zu unterstützen für das schlechtere Abschneiden migrantischer Jugendlicher im Schulsystem verantwortlich. Wie Migrationspädagogik und empirische Bildungsforschung hinreichend herausgearbeitet haben, sind die Bildungsaspirationen migrantischer Eltern im Durchschnitt sogar höher als diejenigen autochthoner Eltern und die Bildungsbenachteiligung ist Ausdruck institutioneller Diskriminierung. Diese wird in der Projektbeschreibung weder erwähnt noch in der Hilfeplanung mitbedacht.

Neben den deutlich erkennbaren entpolitisierten Problembeschreibungen und -behandlungen fällt generell das Fehlen von Themen wie Jugendarbeitslosigkeit, Schulstress, Zunahme psychosomatischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, Armut oder Rassismus auf. Umgekehrt wird großer Wert auf eine gute Zusammenarbeit mit den politisch Verantwortlichen in Graz gelegt. Wie auch in der Feinstrukturanalyse herausgearbeitet, werden Stadt Graz, Jugendamt und freie Träger der Jugendwohlfahrt in den Darstellungen des Modells Sozialraumorientierung als Einheit präsentiert:

„Ob in Kunst und Kultur, Industrie und Technik, Wirtschaft oder Forschung: Graz hat es schon immer verstanden, Pionierarbeit zu leisten und geistesgegenwärtig Trends zu erkennen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Graz mit dem Prozess der Sozialraumorientierung als erste österreichische Stadt einmal mehr versucht, Wegbereiter für eine neue Form der Sozial- und Jugendarbeit zu sein.“

„Graz geht innovativen Weg in der Jugendwohlfahrt & holte sich damit den Preis! Der österreichische Verwaltungspreis 2010 kürt u. a. Projekte, bei denen es darum geht, konkret zum Abbau von Bürokratie beizutragen und durch eine verbesserte Zusammenarbeit den Nutzen für die Menschen zu verbessern.“

Vier solcher Codings sowie sieben Codings, in denen die Zusammenarbeit mit anderen Behörden der Stadt Graz positiv dargestellt wird, steht nur eine Fundstelle gegenüber, in der leise Kritik an einer anderen Behörde anklingt:

„Obwohl das Team vom Jugendstreetwork der Caritas rechtzeitig um Genehmigung der Veranstaltungsreihe ‚Platz nehmen – Folge 9’ angesucht hat, konnte diese aufgrund ‚fehlenden Platzes’ im öffentlichen Raum nicht genehmigt werden.“

Das Magistrat, das im genannten Fall für die Genehmigung der Veranstaltung zuständig wäre, ist Teil der Stadtverwaltung, die, dem „Grazer Modell“ entsprechend, als Kooperationspartner, nicht als Konfliktpartei wahrgenommen wird.


5. Diskussion der Ergebnisse
Die Forschungsfragen bezogen sich zunächst auf das Verständnis von Individualisierung, Ressourcenorientierung und Sozialraumorientierung im „Grazer Modell“. Das der Feinstruktur- wie der qualitativ-quantitativen Inhaltsanalyse unterzogene Material zeigt, dass Individualisierung zwar für sich in Anspruch genommen wird, sich aber nicht in individualisierten, „passgenauen“ Angeboten äußert bzw. dass auf die Darstellung solcher Angebote kein Wert gelegt wird. Alle mit Ausnahme einer einzigen Maßnahme richten sich an unterschiedliche Zielgruppen, also nicht an Individuen oder einzelne Familien.

Die Ressourcenorientierung findet sowohl bezüglich individueller- als auch sozialraumbezogener Ressourcen fast ausschließlich auf der rhetorischen Ebene statt. Manchmal wird zwar erwähnt, dass Klient_innen über „Fähigkeiten“ verfügen oder das Lebens- und Wohnumfeld „Ressourcen“ bietet, diese werden aber nicht expliziert. Demgegenüber werden die sog. „Defizite“ von Individuen oder Lebens- und Wohnumfeld deutlich und konkret benannt. Auch liegt die Aktivität bei der Feststellung von Hilfebedarf, Maßnahmenplanung und -umsetzung ganz überwiegend bei den Professionist_innen; die Klient_innen werden in einer passiven Rolle gesehen.

Der Sozialraum wird als Verwaltungseinheit definiert und weist damit keinen lebensweltlichen, sondern einen ausschließlich administrativen Bezug zum „Lebens- und Wohnumfeld“ der Klient_innen auf. Die Frage, ob sich zwischen Individualisierung und Sozialraumorientierung ein Spannungsverhältnis ergibt und wie dieses gelöst wird, muss daher auf das „Lebens- und Wohnumfeld“ bezogen werden. Aber auch das Lebens- und Wohnumfeld wird nur in einer Textstelle expliziert und zwar als diejenigen Orte, an denen Sozialarbeiter_innen die Klient_innen aufsuchen können.

Die Frage, in welchem Verhältnis Individualisierung, „Lebens- und Wohnumfeld“ und gesellschaftlicher Kontext zueinander stehen, ist insofern leichter zu beantworten, als der gesellschaftliche/politische Kontext kaum thematisiert wird. Ein einziger der insgesamt 51 analysierten Artikel äußert deutliche Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit Jugendlichen, wohingegen einige andere Fundstellen eine auffällig „entpolitisierte“ Problemdefinition und -behandlung erkennen lassen. „Entpolitisiert“ meint dabei, dass gesellschaftliche Probleme wie Bildungsbenachteiligung oder Jugendarbeitslosigkeit durch individuelle Anstrengungen und Aktivitäten der Klient_innen behoben werden sollen. Insofern kann durchaus von einer Individualisierung und Responsibilisierung in dem Sinne gesprochen werden, wie sie Kessl/Reutlinger/Deinet (2010) verstehen: als „Verantwortungszuschreibung und -zuweisung“ an die Klient_innen.

Diese findet ihre logische Entsprechung in der häufigen Betonung des harmonischen Verhältnisses zwischen Jugendwohlfahrt und den übergeordneten politischen/behördlichen Ebenen. Damit scheint auch eine der zentralen Kritikpunkte Marc Diebäckers, und damit der Kritischen Sozialen Arbeit, an Hintes Ansatz bestätigt zu sein, nämlich dass dieser „mit dem Fokus auf intermediäre Instanzen in sozialen Fragen ‚Neutralität’ und ‚Unparteilichkeit’ (vermittelt) und sich damit sozialpolitischeren Perspektiven der Gemeinwesenarbeit (entledigt).“ (Diebäcker 2008: 239)

Wie sind diese Widersprüche zwischen Programmatik und Praxis (Individualisierung und Ressourcenorientierung), wie ist die offensichtliche Untertheoretisierung des Sozialraumbegriffs zu erklären? Im Material selber konnte ich die Antwort auf diese Frage nicht finden, aber folgende Einschätzung scheint mir das Problem treffend zu beschreiben:

„Theorie- und Konzeptionslosigkeit, ein kaum identifizierbarer Gegenstandsbezug, regelmäßig zu konstatierende Politisierungsresistenz und in der Konsequenz die Empfänglichkeit für Aufgaben- und Funktionszuweisungen durch andere Disziplinen oder durch (Sozial-)Politik, das sind die wesentlichen Bedingungen, die zu einer Indienstnahme und strategischen Neujustierung Sozialer Arbeit führen, an der SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen als aktivierte und aktivierende Akteure (sic!) maßgeblich beteiligt sind. So degeneriert Soziale Arbeit zur aktivierungspädagogischen Akteurin im Prozess der Deregulierung und Flexibilisierung (…), zum aktivierungspädagogischen Transformationsriemen neo-sozialer Anforderungen (…), zur Reglementierungs- und Regierungstechnik, die ihre Adressaten [sic!] zur Selbstverantwortung und Selbststeuerung verpflichtet (…)“ (Bettinger 2012: 349)


Verweise
1 vgl. Höllmüller 2014, Bestmann 2014, Richardt 2014 sowie die im Literaturverzeichnis angeführten Zeitungsartikel, Presseaussendungen und den Antrag an den Grazer Gemeinderat von Grünen und KPÖ


Literatur

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Journalistisches Material

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Winter-Pölsler, Gerald (15.05.2014): Kritik am „Grazer Weg“, In: Kleine Zeitung, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/graz/3631139/kritik-grazer-weg.story (18.07.2014).

Stadlober, Gregor (22.04.2014): Hilfe dringend gesucht. In: Falter, 17/14, http://www.falter.at/falter/2014/04/22/hilfe-dringend-gesucht/ (18.07.2014).


Über die Autorin

Mag.a Barbara Zach
barbara.zach@gmx.net

dzt. MA-Studium „Soziale Arbeit“ an der FH St. Pölten
Bisherige berufliche Erfahrungen: Öffentlichkeitsarbeit, Rechts- und Sozialberatung, Sozialarbeit mit Flüchtlingen und Migrant_innen, Bildungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Schwerpunkt: Geschichte und Politische Bildung), pädagogische (Forschungs-)Projekte, Projektleitungen.
Interessensschwerpunkte: Kritische Soziale Arbeit, Antirassismus, politischer Aktivismus.