soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 12 (2014) / Rubrik "Einwürfe/Positionen" / Redaktion soziale_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/346/595.pdf
Hubert Höllmüller:
„Ohne Zweifel hat das Modell inzwischen eine hohe Komplexität erreicht, der weder eine Selbstevaluation, die als wissenschaftliche Evaluation ausgeflaggt wird, noch eine qualitative Studie mit vierzehn Interviews gerecht wird.“ (Höllmüller 2014a: 4)
Mit dem Eingangszitat aus meinem Beitrag möchte ich zeigen, dass mir klar war, dass ich mit meinen beschränkten Ressourcen nur ein Schlaglicht auf die Kinder- und Jugendhilfe in Graz werfen kann. Es ging mir in erster Linie um eine Diskussion der aktuellen Realitäten am Grazer Jugendamt und nicht um die Erörterung eines theoretischen Konzepts. Drei Dinge wollte ich vermitteln:
Erstens: Auf Grund öffentlich zugänglicher Daten und einer Hospitation in Sozialraumteams meinerseits ist es durchaus naheliegend, den Umbau des Grazer Amtes für Jugend und Familie in erster Linie als Steuerungs- und Sparmaßnahme zu verstehen.
Zweitens: Betroffene Akteurinnen1 sollten zu Wort kommen, die ihre sehr reflektierte Sicht zum Grazer Modell darlegen. Das musste anonymisiert geschehen, weil fast alle Interviewten Sorge um negative Konsequenzen hatten.2
Drittens: Ich habe diese Stellungnahmen von Betroffenen dahingehend interpretiert, dass sich im Zuge der Umorganisation des Grazer Jugendamtes ein Groupthink-Phänomen herausgebildet hat, dass fachliche Fehlentscheidungen auch in Zukunft wahrscheinlich macht.3
Ich möchte jetzt auf die beiden Repliken eingehen:
Schon in der Einleitung unterstellt Herr Bestmann mir die Strategie, das Fachkonzept der Sozialraumorientierung „in Verruf“ bringen zu wollen und weiters sei „die Ernsthaftigkeit auf der Suche nach Erkenntnisgenerierung hinter diesen Äußerungen deutlich in Frage zu stellen“ (Bestmann 2014: 1). Ich sei also an einer inhaltlichen Auseinandersetzung gar nicht interessiert. Deshalb haben meine Äußerungen nur den „äußeren Anschein“ eines Fachartikels „zu einer selbstdurchgeführten ‚Forschung'“ (ebd., Hervorhebungen im Original). Abschließend konterkariert er seine Unterstellungen damit, dass er die „Intention für einen konstruktiven Diskurs“ habe. Dieses Versprechen löst er meines Erachtens allerdings nicht ein, womit man es durchaus „rhetorisch“ verstehen kann.
Ich würde allerdings mit meiner Arbeit nicht einmal einen FH Abschluss schaffen. Meine Vorgehensweise „wäre in einer Abschlussarbeit an einer FH in der Regel ein Grund für die Nichtannahme dieser Ausarbeitung“ (ebd.: 2).
Meine Interpretation der Interviews bezüglich Groupthink-Phänomenen kommentiert er mit Watzlawick, welcher diese „schon recht früh als eine selbsterfüllende Prophezeiung gekennzeichnet hat“ (ebd.). Das Argument erschließt sich mir nicht. Bestmann gibt keine Quelle an. Watzlawick kommt auch nicht in seiner Literaturliste vor. Gerade die konstruktivistische Perspektive von Watzlawick unterstützt das Groupthink-Modell, wo von den Gruppenmitgliedern eine hermetisch abgeschlossene Realität konstruiert wird, die mit der Außenrealität wenig zu tun hat. Eben so kommt es zu Fehlentscheidungen.
Im Bezug auf die Rolle der Klientinnen folgt eine weitere massive Unterstellung, mit der pauschal auch die Interviewpartnerinnen belegt werden: „Im Text von Höllmüller sowie in verschiedenen Interviewpassagen treten die Adressat_innen jedoch maximal in einer paternalistisch-gerahmten Konnotation maximal stellvertretend auf – die interviewten Sozialarbeiter_innen und Therapeut_innen werden schon wissen, was die Klient_innen wollen.“ (ebd.: 4)
Herr Bestmann belegt diese Art der Pauschalaburteilung mit keinem einzigen Nachweis.
„Ich habe übrigens bei aller Kritik am anscheinenden Sparen an der Sozialarbeit, mit der sich der Höllmüllersche Text ja durchaus auch sehr intensiv befasst, noch nicht wirklich verstanden, was im Gegenzug am Nichtsparen so viel besser sein soll. Mehr Sozialarbeit muss doch nicht zwangsläufig eine aus Sicht der Adressat_innen bessere Sozialarbeit sein (…).“ (ebd.: 9)
Hier gebe ich Herrn Bestmann völlig recht, aber der Umkehrschluss gilt genauso wenig: Weniger Sozialarbeit führt nicht zwangsläufig zu besserer Sozialarbeit. Und im Sinne der Ressourcenorientierung ist klar, dass mehr Ressourcen mehr Möglichkeiten eröffnen.
Mein Text verleite „eher zu Polarisierung bis hin zur Polemisierung als zu einem konstruktiven fachwissenschaftlichen Entwicklungsdiskurs.“ (ebd.)
Der Duden definiert (in der Online-Version) Polemik als „scharfen, oft persönlichen Angriff ohne sachliche Argumente im Bereich der Literatur, Kunst, Religion, Philosophie, Politik o. Ä.“ Ich habe in meinem Beitrag – im Gegensatz zu den beiden Autoren – versucht, jeden persönlichen Angriff zu vermeiden. Herr Bestmann versteht unter einem fachwissenschaftlichen Entwicklungsdiskurs Vermutungen aus der Distanz: „Man könnte aus der Distanz vermuten, dass da einer etwas bockig reagiert, da er nicht machen darf, was er für so toll und einzigartig hält.“ (ebd.)
Nach einigen Seiten Ausführungen über das von Bestmann vertretene Fachkonzept4 nimmt er wieder auf meinen Beitrag Bezug: „Aus diesem Grund wird im Fachkonzept SRO die Perspektive der Bürger_innen, die in manchen Lebenssituationen auch mal zu Klient_innen werden aber dabei dennoch Bürger_innen bleiben, deutlich erhöht und eben auch maßgeblich in die Entscheidungsprozesse verbindlich einbaut. Der Text von Höllmüller (2014b) erwähnt dies in keiner Weise, entweder weil er es schlicht nicht weiß oder weil sein Netzwerksample das Fachkonzept nicht verstanden hat oder es eben als professionelle Provokation erlebt.“ (ebd.: 7)
Herr Bestmann ist, im Gegenteil zu mir, überzeugt, dass das Fachkonzept in Graz so ist wie er schreibt: „Bürger_innen werden maßgeblich und verbindlich in die Entscheidungsprozesse eingebaut“. Es ist schwer zu verifizieren, wenn die Entscheidungsprozesse hinter geschlossenen Türen ohne die Teilnahme eben dieser Bürgerinnen ablaufen, wie ich es bei meiner Hospitation erleben durfte und es wurde mir dort von mehreren Seiten versichert, dass es immer so ablaufe wie an dem Tag, an dem ich dabei gewesen bin.
Ein weiteres Gegenbeispiel lieferte ein Sozialraumteam letzten Herbst, als es ohne jegliche Einbeziehung der betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen – auch nicht des Bezirksrats – beschloss, einen betreuten Container in einem Park ersatzlos wegzuräumen. Über drei Jahre wurde dieser Container vom Sozialraum selbst als Musterbeispiel für das neue Fachkonzept gelobt. Dann musste er weg.5 Die Betreuerinnen sollten den Jugendlichen ausrichten, dass der Container mit Jahresende wegkommt und dass es für ihre Freizeitgestaltung genug Angebote in der Nähe gäbe. Das erscheint mir als offenbar „paternalistische“ Vorgehensweise, „maßgeblich und verbindlich“ waren hier die Bürgerinnen gar nicht in den Entscheidungsprozess eingebaut. (Auch die Bewohnerinnen der städtischen Jugendwohngemeinschaften wurden nicht zur deren Schließung befragt, geschweige denn waren sie „maßgeblich und verbindlich eingebaut“.)
Die Replik von Herrn Richardt bezieht sich hauptsächlich auf ein Kapitel meines Beitrags, der wegen Platzmangel gar nicht im Sozialen Kapital erschienen ist, sondern nur in der Langfassung, die ich auf meiner FH-Homepage veröffentlicht habe (Höllmüller 2014a). Ich halte es deshalb für sinnvoll, zuerst dieses Kapitel hier nachzuholen:
„Die Evaluation:Nach über drei Jahren Laufzeit wird eine Evaluation vorgelegt.6 Wobei das Projekt in der Selbstdarstellung der Leitung bereits 2004 begonnen hatte, also 2013 schon ins zehnte Jahr ging. Dies zeigt deutlich, welchen Stellenwert eine evaluierende Außenperspektive im Projekt einnimmt. Die vorgelegte Evaluation ist denn auch in erster Linie eine Selbstevaluation, wo intern generierte Daten (auch) extern interpretiert werden. Deshalb lag die Leitung des Evaluationsprojektes bei einem der Sozialraumleiter und nicht bei der externen evaluierenden Stelle.
Grundsätzlich ist Selbstevaluation ein legitimes Instrument der Evaluation, bei einem derartigen Umbau aber sicher zu wenig, um zu umfassenden wissenschaftlichen Aussagen kommen zu können. Wie immer relevant eine Innenperspektive sein mag, kann sie eine Außenperspektive nicht erübrigen.
Das Evaluationsdesign wurde in einem Workshop mit Verantwortlichen von Stadt und Land und ‚(...) auch VertreterInnen aus verschiedenen wissenschaftlichen Bezügen (...)’ vorbereitet. Leider verzichtet der Autor auf eine Nennung dieser Vertreterinnen.
Fragestellung und Arbeitsschritte wurden folgendermaßen definiert:
‚Erreicht die Stadt Graz (…)
a) zielgenau den im Gesetz angedachten Personenkreis
b) und zwar so, dass die Hilfen effektiv und effizient im Sinne des sozialarbeiterischen Prinzips ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ sind, also von staatlicher Hilfe unabhängig machen?
Der Auftrag ist in folgenden Schritten zu bearbeiten:
Beschreibung und Analyse des in den aktuellen Verträgen vereinbarten Finanzierungssystems
Beschreibung der Auswirkungen dieses Finanzierungssystems auf die Arbeit in der Jugendwohlfahrt (mit Blick auf die zuvor genannten Fragestellungen)
Ein Vergleich der Vor- und Nachteile dieses Finanzierungssystems mit der in der DVO angelegten Einzelfallfinanzierung und dies auch im Blick auf bürokratische Abläufe.’
(Richardt Vincent, 2013, Seite 3)
Bemerkenswert ist, dass die zwei inhaltlichen Fragestellungen in drei Arbeitsschritten zu bearbeiten sind, in denen jeweils das neue Finanzierungssystem im Mittelpunkt steht. Der Abschlussbericht umfasst 27 Seiten, dem 9 Seiten Bericht des Finanzcontrollings angehängt sind.
Zu diesen drei beauftragten Arbeitsschritten findet sich in den ersten 27 Seiten weder eine fundierte Beschreibung noch ein Analyse. Dazu wäre auch eine organisationstheoretische Perspektive notwendig und damit eine andere Disziplin als die Psychologie und die Sozialpädagogik.
Was sich findet ist die Selbstbewertung der relevanten Akteurinnen, die sich wiederum zum Gutteil auf den Projektverlauf selbst bezieht:
Die Veränderung der Zielqualität wird für das zweite und dritte Projektjahr untersucht, die Kernaussage lautet dabei: ‚Wir sind im Projektjahr 3 besser als im Projektjahr 2.’ Dasselbe gilt für Ressourcenorientierung und Hilfesettings. Die gesamte Auswertung beruht ‚(...) auf der systematischen Erfassung von Einschätzungen aller Beteiligten (...)’. Es wird aber nicht erläutert, wie es zu dieser systematischen Erfassung kam: Wurden die Eltern, Kinder und Jugendlichen von den Evaluatorinnen befragt, wenn ja mit welchen Instrumenten? Wurden die Mitglieder der Sozialraumteams befragt? Was bedeutet dabei ‚systematisch’?
Bemerkenswert eine Perspektive bei der fallübergreifenden/fallunspezifischen Arbeit:
‚Unter Berücksichtigung von berichteten Wirkungen, Inhalten und Intensität der Projekte werden schätzungsweise zwischen 100 und 500 ineffiziente Hilfen vermieden.’
Diese Wirkungen, Inhalte und Intensitäten wurden von den befassten Trägern in Form von ‚(...) fast 50 Projektdokumentationen (...)’ berichtet. Wurde auch nur ein Projekt von den Evaluatorinnen selbst beobachtet und dokumentiert? Es werden keine Kriterien benannt, was solche ‚ineffizienten Hilfen’ wären. Der offenbar angenommene kausale Zusammenhang, der zur Vermeidung führte, wird nicht erläutert. Auch die quantitative Spanne 100-500 wird nicht begründet. Spannen, die das Fünffache umfassen, können auch kaum als Schätzung verstanden werden.7
Ich möchte nochmals grundsätzlich meine Ansicht zu Evaluationen festhalten: Eine externe Evaluation hat nicht die Aufgabe, die Berichte und Einschätzungen der zu Evaluierenden zu übernehmen sondern zu überprüfen, ob diese Berichte und Einschätzungen der Realität der Zielgruppen entsprechen. Passiert das nicht, handelt es sich um eine Selbstevaluation, die, wie gesagt zwar ein relevanter Teil einer Gesamtevaluation sein kann, die aber nicht eine tatsächliche Außenperspektive ersetzt.
Erst in der Aktenanalyse kommt es zu einem prä-post Vergleich. Mit einer zusätzlichen ‚Kontrollgruppe’, nämlich Akten der BH Graz Umgebung. Die Analyse wurde von der evaluierenden Institution durchgeführt, allerdings wird nicht angegeben, unter welchen Kriterien.
Es wird Unabhängigkeit am Ende der Hilfe quantitativ festgestellt (von ‚nicht’ bis ‚Erwartungen übertroffen’). Es ist nicht ersichtlich, ob ‚Unabhängigkeit’ als Generalziel in jeder Zielformulierung vorkommt oder ob es im Nachhinein in den Fallabschluss hineininterpretiert wurde. Nach der Selbstdarstellung des Projektes ist für die Daten ab 2010 eher Zweiteres anzunehmen. Wie aber wurde dann von der Zielerreichung auf Unabhängigkeit geschlossen?
Auch die Hilfeintention vorher und nachher wurde in ‚banal, angemessen, ambitioniert oder utopisch’ kategorisiert, aber beide Male ohne Angabe, nach welchen Kriterien hier zugeordnet wird. Trotzdem wird als qualitatives Ergebnis angegeben:
‚Die Unabhängigkeit der KlientInnen am Ende der Hilfe ist bei den Grazer Fällen seit der Einführung der Sozialraumorientierung sehr viel stärker ausgeprägt als bei den Fällen vor der Einführung und auch als bei den Fällen aus der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung.’
Und mit einem Prozentsatz versehen: 84% zu 39% zu 48%.
Der letzte Teil beinhaltet zwölf Interviews mit Akteurinnen des Projekts. (Es wurden keine Eltern und keine Jugendlichen interviewt.) Acht dieser Interviews wurden mit Leitungskräften (vier aus dem Jugendamt und vier von beteiligten Trägern) durchgeführt. Bei einem Projekt, das top-down eingeführt würde, ist durchaus anzunehmen, dass die Leitungsebene das Projekt für gut befindet. Begründet wird die Auswahl dieser ‚repräsentativen’ Akteurinnen damit, dass diese
‚(...) in der Lage waren, insbesondere die Effektivität, aber auch die Zielgenauigkeit und die Effizienz der Jugendwohlfahrt vor und nach Einführung des neuen Fachkonzeptes zu beurteilen. (...)’
Nach welchen Kriterien wurde die Urteilsfähigkeit von den Evaluatorinnen beurteilt?
Schon in der Fragestellung wurde ‚der im Gesetz angedachte Personenkreis’ als Zielgruppe definiert und auch in der abschließenden Conclusio heißt es ‚Die Stadt Graz erreicht (…) zielgenau den im Gesetz angedachten Personenkreis (…)’. Darauf wurde aber in der Evaluation mit keinem Wort näher eingegangen. Gerade ‚Verwahrlosung’ als zentrale Kategorie von Kindeswohlgefährdung wurde aus dem Grazer Modell eskamotiert.
Dafür, dass ‚Zielarbeit’ und die spezifische Formulierung von Zielen zum Kern des inhaltlichen Konzepts erklärt werden, ist es erstaunlich, dass im Rahmen einer Evaluierung nur das Verhältnis von Ziel und Zielerreichung ausgewertet wurde, nicht aber die Inhalte der Ziele. Trotzdem wird auf eine qualitative Veränderung geschlossen. Dieser Schluss bleibt unbegründet.
(Höllmüller 2014a: 8-10)
Herr Richardt als Autor der Evaluation schreibt dazu in seiner Replik (Richardt 2014: 2):
„Natürlich handelt es sich bei Höllmüllers Beitrag keineswegs, wie man auf einen ersten flüchtigen Blick vermuten könnte, um eine qualitative Forschungsarbeit, denn hierfür müsste er sich seinem Sujet sehr viel unvoreingenommer nähern (...)“.
Ich bin also seines Erachtens befangen. Womit sich dies begründet, führt Herr Richardt nicht aus. Es war eine Stellungnahme von Herrn Richardt, die dem Jugendamt als Argumentation diente, um die von der FH Joanneum angefangene Evaluation als unwissenschaftlich zu bezeichnen und deshalb zu stoppen. Ist es nicht eine Art Befangenheit, wenn dieser Jahre später den Auftrag für die Evaluation erhält?
Ich hätte eine „journalistisch-investigative Reportage“ verfasst und das
„wäre überhaupt nicht der Rede wert, würde Höllmüller seinen Beitrag nicht mit einer ganzen Reihe von unbelegten und zweifelsfrei falschen Behauptungen sowohl über das Fachkonzept der Sozialraumorientierung als auch über die Evaluation des entsprechenden Modellprojekts ‚abrunden’, die so keinesfalls unkommentiert stehenbleiben können.“ (Richardt 2014: 2)
Dass ich in meinem Beitrag vom „Modell Graz“ spreche und nicht von Sozialraumorientierung, empfindet Herr Richardt als respektlos gegenüber den Akteurinnen. Ich wollte auf keinen Fall respektlos erscheinen und auch nicht respektlos sein. Wissenschaftsgeschichtlich (und nicht nur da) ist es allerdings durchaus üblich, dass Sachverhalte von verschiedenen Perspektiven aus mit verschiedenen Begriffen bezeichnet werden. Um ein Beispiel aus unserer Branche zu nennen: Ob störendes Verhalten in der Schule als eine Krankheit oder eben keine Krankheit bezeichnet wird, hat mit verschiedenen Perspektiven zu tun, aber nicht automatisch mit Respektlosigkeit. „Vermutlich gibt es kein einziges historisches Beispiel, wo eine solche respektlose Vorgehensweise zu irgendetwas Positivem geführt hätte.“ (Richardt 2014: 2) Vermutlich doch.
Warum ich der Ansicht bin, dass es sich vorrangig um eine Selbstevaluation handelt, versuche ich damit zu begründen, dass ausschließlich intern produzierte Daten verwendet werden. Dies lässt sich durchaus auch mit einer externen Stelle machen, ohne deshalb eine externe Evaluation zu sein. Eine externe Evaluation zeichnet sich meines Erachtens dadurch aus, dass sie eigene Daten produziert, z. B. Jugendliche befragt, Fragen zur den Zielformulierungen und Erfolgskriterien stellt. Ich bezeichne die evaluierende Stelle auch nicht als „Teil der Stadt Graz“ und habe auch keinesfalls die Absicht, den Ruf dieser Stelle zu schädigen – ich interpretiere lediglich den Evaluationsbericht, in dem einer der Sozialraumteamleiterinnen als Leiter des Evaluationsprojektes bezeichnet wird. Mag sein, ich habe da etwas falsch verstanden, aber so ist es nachzulesen.
Falls es stimmt, dass ich weder den Evaluationsbericht noch den Namen des Autors richtig angegeben habe, bedaure ich dies und es war nicht meine Absicht. Ein Hinweis, wo ich das gemacht habe, wäre hilfreich, um es zu korrigieren.
Ich nehme gern zur Kenntnis, dass die Evaluation auf Nachfolgeuntersuchungen hinweist und unterstütze dies – sinnvoll wäre es allerdings, auch andere Außenperspektiven zuzulassen.
Zu den letzten Absätzen fällt mir wenig ein. Dass ich als Person mit Namen Höllmüller den „Teufel an die Wand male“, mag amüsieren, dass ich ein Theaterstück inszeniere weniger, weil es sich, um im Bild von Vincent Richardt zu bleiben, ja um eine Tragödie handelt.
Allerdings finde ich die Angriffe gegen meine Interviewpartnerinnen als geschmacklos:
„Höllmüller hat sich ungefragt dieser kritischen Stimmen angenommen und sie – ähnlich wie in einem reichlich modernen Theaterstück – ohne akademische Choreographie auf einer ziemlich leeren Bühne Monologe sprechen lassen. Dort überlässt er diese ‚Minderheit’, wie er sie selber nennt, dann sich selbst, ihrer offensichtlichen Enttäuschung über berufliche Entwicklungen und vor allem dem mitunter voyeuristischen Blick altgedienter Skeptiker sozialer Neuorganisation, beinahe so wie in einer dieser früheren Nachmittags-Talkshows, wo es eigentlich nie wirklich um die Probleme der Menschen ging, sondern immer nur um deren sensationelle Präsentation und die damit verbundene Einschaltquote.“ (ebd.: 4)
Erstaunlich für einen Evaluator finde ich den Hinweis, das Grazer Amt für Jugend und Familie versuche, „ein paar hundert Hilfemaßnahmen anders als bisher zu organisieren“ (ebd.). Im letzten Jahr vor der Einführung der Sozialraumorientierung waren es 5.600 Hilfen, nachzulesen auf der Homepage der Stadt Graz. Im ersten Jahr danach waren es dann nur noch 2.800. Mag sein, dass das Ziel ist, auf „ein paar Hundert“ zu kommen.
Die von Herrn Bestmann angeführte Intention für einen konstruktiven Diskurs konnte ich in beiden Repliken nicht ausmachen. Auch die Informationspolitik des Grazer Jugendamtes (und einer politischen Partei), zwar die Repliken über den offiziellen Verteiler zu verschicken, nicht jedoch meinen Beitrag, fördert nicht gerade den Diskurs.
Nachdem Abwertung von Kritik ein übliches Reaktionsmuster außerhalb und auch innerhalb der Wissenschaft ist, darf mich der Ton gegen meine Person, den beide Autoren in unterschiedlicher Weise anschlagen, nicht erstaunen. Bemerkenswert finde ich ihn allemal. Beide Autoren gehen kaum darauf ein, was die betroffenen Sozialarbeiterinnen sagen. Beide gehen kaum auf meine Fragen ein. Herr Bestmann spricht von Forschungsethik, hält es aber nicht für erwähnenswert, dass er seit mehreren Jahren Sozialarbeiterinnen des Grazer Jugendamtes in punkto Sozialraumorientierung schult.
Inzwischen scheint auch der zentrale Theoretiker der Sozialraumorientierung Hinte erkannt zu haben, dass Konzept und Realität nicht immer deckungsgleich sein müssen. Ich möchte deshalb mit drei Passagen schließen, die Fehren und Hinte in ihrem Buch „Sozialraumorientierung – Fachkonzept oder Sparprogramm?“ 2013 zu möglichen Fehlinterpretationen der Sozialraumorientierung verfassten:
„Dennoch ist der Begriff ‚Sozialraumorientierung’ auch in der kommunalen Praxis nicht geschützt vor Fehlinterpretationen oder auch mehr oder weniger bewussten Missbräuchen. (…) bei dem einzelne Konzeptbausteine herausgegriffen, ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und in einen gelegentlich neoliberal anmutenden Zusammenhang gestellt werden – Abbrucharbeiten im ohnehin ramponierten Sozialstaatsgebäude.“ (Fehren/Hinte 2013: 43)„Ein von den Betroffenen nur zögerlich oder unscharf geäußerter Wille wird nicht als Anlass genommen, das jeweilige Hilfeersuchen deutlich herauszuarbeiten, sondern dient als vermeintlicher Beleg dafür, dass angesichts einer verschwommenen Interessenbekundung kein gesetzlich legitimierbarer Bedarf vorliege.“ (ebd.: 44)
„Das Aktivierungsprinzip wird umgedeutet als fachlich begründbare Leitlinie, um die Betroffenen sich selbst zu überlassen und ihnen eine gesetzlich zustehende, professionelle Leistung zu verweigern bzw. sie zumindest nicht anzubieten.“ (ebd.)
P. S.: Die zwei steirischen Modellbezirke Voitsberg und Bruck/Mur wählten für die Neugestaltung ihrer Kinder- und Jugendhilfe nicht die Sozialraumorientierung nach Hinte, Bestmann und anderen, sondern das Case-Management-Konzept nach Peter Pantuček-Eisenbacher.
Verweise
1 Wie in meinem ersten Beitrag verwende ich die weibliche Form, wenn beide Geschlechter gemeint sind.
2 Wichtig wäre es, auch Familien, Kinder und Jugendliche zu Wort kommen zu lassen, aber hierfür sind weit größere Ressourcen nötig, als mir zur Verfügung standen.
3 Inzwischen haben das Grazer Jugendamt und die Stadt Graz entschieden, alle vier städtischen Wohngemeinschaften zu privatisieren. Vorausgegangen waren medial breitgetretene Missbrauchsfälle unter Jugendlichen und eine Studie von – besagtem – Vincent Richardt, der den Wohngemeinschaften eine schlechte Qualität attestierte. Vor Einführung der Sozialraumorientierung waren die vier WGs auf unterschiedliche Zielgruppen spezialisiert. Diese fachliche Ausrichtung wurde aufgehoben: Prioritär wurde, dass die Jugendlichen genommen werden, die aus dem Sozialraum kommen, in dem sich die WG befindet, ohne Rücksichtnahme auf die Gruppenkonstellation. Meines Erachtens mehrere Fehlentscheidungen hintereinander.
4 Ich nehme nicht an, dass er diese extra für seine Replik verfasst hat. Er erwähnt ja auch in der Einleitung, dass er bereits Übung darin hat, Repliken zu Beiträgen über die Sozialraumorientierung zu verfassen.
5 Die Begründung: der Bedarf habe sich in Richtung offener Jugendarbeit verlagert. Aus den damals 11-12-Jährigen wurden Jugendliche und für deren Bedarfe sieht das Jugendamt keine Zuständigkeit. Gleichzeitig konstatiert das Jugendamt eine problematisch gesehene „Vermischung von Einzelarbeit, Gruppenarbeit und GWA“. Vor allem die Einzelarbeit entziehe sich der direkten Steuerung durch die fallführende Sozialarbeiterin. Das klingt nicht nach offener Jugendarbeit, sondern nach Kommunikationsbedarf. Auch Gespräche mit ca. einem Dutzend Jugendlichen im Frühjahr bestätigten ein typisches Arbeitsfeld von mobiler Jugendarbeit, in dem die drei Dimensionen Einzelarbeit, Gruppenarbeit und GWA miteinander verknüpft sind; Meines Erachtens ein sinnvolles Konzept zwischen fallübergreifender und fallunspezifischer Arbeit.
6 Die ursprüngliche Begleitevaluation wurde von der Jugendamtsleitung mit der Behauptung gekippt, dass die durchführende Institution – die FH Joanneum, Studiengang Soziale Arbeit – unwissenschaftliche Fragen stelle.
7 Eine empirisch belegte Kritik zum „Erfolg“ von fallunspezifischer Arbeit: „Es gibt bis jetzt z. B. kaum Kooperationen zwischen der offenen Jugendarbeit und fallunspezifischer Arbeit in Graz. Das ist die Quintessenz einer Forschungsarbeit zum Thema (…)“ (N.N. 2013: 7) [N. N. (2013): Abschlussarbeit im Rahmen des Lehrganges „akademische Jugendsozialarbeit“ an der FH Kärnten, Studienbereich Gesundheit und Soziales, unveröffentlicht. Der Autor möchte nicht genannt werden]
Literatur
Bestmann, Stefan (2014): Was wird eigentlich von wem wo und wie entschieden? Eine Replik auf Hubert Höllmüller 2014. https://www.uni-due.de/imperia/md/content/biwi/einrichtungen/issab/bestmann__stefan__2014__-_eine_replik_auf_hubert_h%C3%B6llm%C3%BCller_2014.pdf (20.09.2014).
Fehren, Oliver / Hinte, Wolfgang (2013): Sozialraumorientierung – Fachkonzept oder Sparprogramm?. Aus der Reihe Soziale Arbeit kontrovers - Band 4. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
Höllmüller, Hubert (2014a): Modell Graz – organisationstheoretische und entscheidungstheoretische Aspekte einer top-down Reform des Jugendamtes Graz. http://www.fh-kaernten.at/fileadmin/media/gesundheit-soziales/Modellgraz.pdf (20.09.2014).
Höllmüller, Hubert (2014b): Modell Graz – organisationstheoretische und entscheidungstheoretische Aspekte einer top-down Reform des Jugendamtes Graz. In: soziales_kapital, 11(2014), http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/322/565.pdf (20.09.2014).
Richardt, Vincent (2014): Der Teufel an der Wand und die Faust in der Tasche. Replik auf einen Beitrag von H. Höllmüller (FH Kärnten) über Sozialraumorientierung in Graz. https://www.uni-due.de/imperia/md/content/biwi/einrichtungen/issab/richardt__vincent_2014_-_replik_-_beitrag_von_h._h%C3%B6llm%C3%BCller (20.09.2014) [ebenfalls erschienen in: soziales_kapital, 12(2014), S. 167-170]
Über den Autor
FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller, Jg. 1962
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