soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 13 (2015) / Rubrik "Nachbarschaft" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/352/633.pdf


Nina Eckstein:

Das Verhältnis zweier Professionen: Recht und Soziale Arbeit1


1. Einleitung
Als ausgebildete Juristin und Sozialarbeiterin ist für mich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Professionen insofern relevant, als ich diesbezüglich beruflich und manchmal auch privat mit theoretischen und praktischen Widersprüchen, Gemeinsamkeiten und Irritationen konfrontiert bin. Die intensive Beschäftigung mit beiden Professionen führt zum einen zu der Frage, in welchem Verhältnis die beiden zu einander stehen, wo sie einander ergänzen, aber auch wo sie sich unterscheiden und generell wie sie voneinander profitieren können. Zum anderen steht die Frage im Raum, welche emanzipatorischen Potentiale und Möglichkeiten sich eröffnen könnten, wenn es eine stärkere wechselseitige Auseinandersetzung und in weiterer Folge da und dort engere Kooperationen beider Professionen gäbe. Beide erfüllen nämlich – wenn auch oft auf sehr unterschiedliche Art und Weise – wesentliche gesellschaftliche Aufgaben und greifen oft unmittelbar in das Leben von Menschen ein.

Um sich der Frage nach den emanzipatorischen Möglichkeiten einer engeren Verbindung beider Professionen annähern zu können, erfolgt in diesem Beitrag eine vergleichende Zusammenschau auf unterschiedlichen Ebenen und unter verschiedenen Aspekten. Vielleicht kann der Beitrag überdies ein größeres Verständnis für die verschiedenen professionellen Handlungs- und Sichtweisen ermöglichen und dazu beitragen, die jeweiligen Perspektiven zu erweitern.


2. Professionsgeschichte
Heute ist Soziale Arbeit durchaus ein Begriff. Am häufigsten assoziiert man sie wahrscheinlich nach wie vor mit dem Jugendamt. Ihre Handlungsfelder sind jedoch breit gestreut. Man findet sie sowohl im Behindertenbereich als auch im Bildungs- oder Suchtbereich und in vielen anderen Aufgabenfeldern. Eine wesentliche Funktion kam ihr in den letzten Jahren ganz besonders auch in arbeitsmarktpolitischen Kontexten zu, wenn es darum geht, Menschen bei der „Wiedereingliederung“ in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, und nach wie vor findet man Sozialarbeit auch in klassischen Ämtern, wie den Sozialämtern, wo es um die materielle Sicherung von Menschen geht.

Soziale Arbeit als moderne Profession abseits von Ehrenamtlichkeit und „Samaritertum“ hat aber noch keine allzu lange Vergangenheit. Die Entwicklung hin zu einem Berufsstand war immer eng verknüpft mit den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und den daraus resultierenden Problemstellungen und Notwendigkeiten. Als ein Kristallisationspunkt für die Herausbildung einer Sozialen Arbeit als eigenständiges Berufsfeld wird auf jeden Fall die im Frühkapitalismus entstandene Massenarmut unter den Arbeiter_innen im 19. Jhd. gesehen, die eine systematische Bearbeitung der damit verbundenen sozialen Probleme erforderte (vgl. Engelke 2004: 67f). Der Begriff „Soziale Arbeit“ taucht tatsächlich in deutschsprachigen Publikationen erst im 19. Jhd. auf. Als wesentliche Quelle dafür ist bezeichnenderweise ein Jurist zu nennen: Lorenz von Stein (1815-1890), Jurist und Nationalökonom, für den „Sociale Arbeit“ unmittelbar mit der „socialen Frage“ verknüpft war und als professioneller Überbegriff für die verschiedenen Bewältigungsmöglichkeiten sozialer Problemstellungen betrachtet wurde (vgl. ebd.: 41). Die professionelle Entwicklung Sozialer Arbeit steht daher zum einen in engem Zusammenhang mit dem Entstehen sozialer Problemlagen in Folge der zunehmenden Industrialisierung. Im Zuge des politischen Vorantreibens entsprechender Sozialgesetzgebungen, die das soziale Risiko und die Situation der von Armut betroffenen Arbeiter_innen verbessern sollten, erhielt auch Soziale Arbeit ihr Mandat (vgl. Hering/Münchmeier 2007: 37ff, Melinz/Ungar 1996).

Die Entwicklung und Etablierung Sozialer Arbeit muss aber zum anderen auch in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der Frauenbewegung im 19. Jhd. gesehen werden. Vor allem die bürgerliche Frauenbewegung spielte hier eine tragende Rolle, waren doch die Begriffe Fürsorge und Mitmenschlichkeit zentral für die bürgerlichen Frauen. Ehrenamtliches, soziales und gesellschaftliche Engagement von (bürgerlichen) Frauen stand am Beginn der Ausdifferenzierung Sozialer Arbeit hin zu einem professionellen, fachlichen Standards entsprechenden Berufsbild (vgl. Müller 2013: 22). Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass das professionelle Vorantreiben und die fachliche Weiterentwicklung vorrangig auf weibliche Pionierinnen zurückzuführen ist. So gründete beispielsweise 1912 die Wienerin Ilse Arlt als erste eine entsprechende Ausbildungsstätte in Wien, die „Vereinigten Fachkurse für Volkspflege“. Diese war die erste Fürsorgeschule in der damaligen Monarchie Österreich-Ungarn und hatte zum Ziel, die Schülerinnen, vor allem Frauen aus gutbürgerlichen Verhältnissen, methodisch darauf vorzubereiten, soziale Ausnahmesituationen von Menschen erkennen und entsprechend einordnen zu können und in weiterer Folge ein methodisches, überlegtes Handeln zu ergreifen (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 22f).

Dem gegenüber steht die Entwicklung des juristischen Berufsstandes. Die Frage Was ist Recht? beschäftigte schon die Philosophen_innen2 der Antike als eine der zentralen Grundfragen der Menschheit (vgl. Horn 2004: 135ff). Juristische Termini und rechtswissenschaftliches Denken weisen eine lange Tradition auf, basieren sie doch auf den Eckpfeilern des Römischen Rechts (vgl. ebd.: 94f).

Auch die Etablierung entsprechender juristischer Ausbildungsstätten reicht sehr weit zurück. So ist die Stiftungsurkunde der juridischen Fakultät an der Universität Wien mit 1365 und 1385 datiert. Die Professionalisierung und Entwicklung der Juristenausbildung – weibliche Studentinnen waren erst Ende des 19. Jhd. überhaupt zugelassen – wurde hier über die Jahrhunderte immer mehr verfeinert und erweitert (vgl. Reiter 2007: 1ff). Der Berufsstand der Jurist_innen war lange nahe an den Staatsdienst gebunden. Die Jurisprudenz und deren Ausbildung sollte daher vorrangig die Ausbildung von Staatsbeamt_innen zum Ziel haben (vgl. ebd.: 5ff). Zur Professionalisierung und Formalisierung der juristischen Ausbildung gehörte auch eine klare Definition des Gegenstandes, auf den sich die Rechtswissenschaften beziehen sollten, der in der Erforschung des Rechts mit dem Ziel der erläuternden Darstellung und Kritik durch Interpretation und Argumentation lag und liegt (vgl. Horn 2004: 29).

Bis weit ins 19. Jhd. war die juristische Profession grundsätzlich Männern vorbehalten. Die Beschränkung der Frauen begann schon mit der Verweigerung der Zulassung zum Rechtsstudium. So wurden erst 1919 in Wien die ersten weiblichen Hörerinnen zum rechtswissenschaftlichen Studium zugelassen (vgl. Reiter: 18). Die Ausübung praktischer juristischer Tätigkeiten als Richterinnen oder Anwältinnen wurden ihnen sogar noch viele Jahre länger verwehrt. Erst 1947 (!) wurden in Österreich Frauen tatsächlich zu Richterinnen ernannt. Die Gründe hierfür sind insofern erwähnenswert, als es durchaus interessante Parallelen zur Sozialen Arbeit gibt, die deswegen bis heute als Frauenberuf gilt, weil das Fürsorgerische und Soziale verstärkt bei Frauen angesiedelt wurde: Eine entscheidende Überlegung nämlich, Frauen doch zum Richteramt zuzulassen, lag darin, dass 1929 die Jugendgerichtsbarkeit eingeführt wurde und das Fürsorgerische und Helfende im Zusammenhang mit jugendlicher Delinquenz als wichtig erachtet wurde. Hier wurde daher die bessere Eignung von Frauen gesehen, denen man(n) diese Fähigkeiten eher zuschrieb als männlichen Richtern (vgl. Schneider 2013: 496ff).

Alleine in Hinblick auf die Geschlechterfrage unterscheiden sich also die beiden Professionen in ihrer Entwicklung stark voneinander: Auf der einen Seite der juristische Berufsstand, der jahrhundertelang fast ausschließlich eine männliche Domäne darstellte und auf der anderen Seite die Sozialarbeit, die sich als Frauenberuf etablierte.

In Hinblick auf gesellschaftssystematische Zusammenhänge zeigt sich überdies, dass sich die Profession Soziale Arbeit als Reaktion auf sich verändernde soziale, gesellschaftliche Entwicklungen etablierte und sich so ein Wesenselement der Profession abzeichnete, nämlich häufig erst dann angerufen zu werden, wenn sich gesellschaftliche Problem- und Fragestellungen auftun, die einer Bearbeitung bedürfen. Die Entwicklung des juristischen Berufsstandes hingegen ist eng verknüpft mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis bzw. der gesellschaftlichen Notwendigkeit nach Verhaltensregulierung, um dadurch ein gesellschaftliches Miteinander zu ermöglichen. Die juristische Profession übte daher immer eine starke aktive und gestalterische gesellschaftliche Rolle aus.


3. Gesellschaftliche Verortung: Recht und Soziale Arbeit als unterschiedliche Funktionssysteme3
Die Professionen Recht und Soziale Arbeit haben nicht nur eine unterschiedliche Professionsentwicklung, sondern auch unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen, wie oben schon kurz angerissen. Nach Luhmanns Systemtheorie lassen sich die juristische und die sozialarbeiterische Profession als zwei verschiedene gesellschaftliche Funktionssysteme ausmachen, die grundsätzlich konträre gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen haben, aber gleichzeitig enge Verzahnungen aufweisen und einander oftmals wechselseitig bedingen.

Die Funktion des Systems Sozialer Arbeit liegt vereinfacht ausgedrückt im Helfen. Soziale Arbeit wird daher als ein System organisierter Hilfe beschrieben, dessen Funktion es ist, Hilfe anzubieten. Der entsprechende Code besteht demzufolge in der Binarität von Hilfe oder Nicht-Hilfe (vgl. May 2009: 124ff). Das Spezifische von sozialer Hilfe besteht in einer Daseinsnachsorge und nicht – wie in anderen Funktionssystemen wie beispielsweise jenem der Wirtschaft – in einer Daseinsvorsorge (vgl. Luhmann 1973b: 35f). Die Daseinsnachsorge stellt demnach genau jene Leistung des Systems Sozialer Arbeit dar, die andere Funktionssysteme beziehen können. Mit anderen Worten, die besondere Funktion des Systems Soziale Arbeit besteht darin, Probleme, die durch andere Funktionssysteme verursacht wurden, im Nachhinein wieder zu beseitigen (vgl. Merten 2004: 5f). So zeigt sich beispielsweise an den Aufenthalts- und Asylregelungen in Österreich anschaulich, dass speziell die beiden Systeme Politik und Recht soziale Probleme „produzieren“, weil die politisch und juristisch restriktive Handhabung von Aufenthalts- und Asylfragen bei den davon betroffenen Menschen zu existenziellen Notlagen, psychischen und physischen Problemen oder möglicherweise deviantem Verhalten führen, deren Bearbeitung häufig dann wiederum Sozialer Arbeit zukommt. Mit der Auseinandersetzung um den Begriff der Hilfe, genauer gesagt der Daseinsnachsorge, gehen auch die Begriffe Inklusion und Exklusion einher (vgl. Merten/Scherr 2004: 10). Es ist immer eine gesellschaftliche Tendenz auszumachen, wonach Individuen aus Funktionssystemen – gerade das Recht trägt dazu bei – exkludiert oder in diese inkludiert werden. Soziale Arbeit als Funktionssystem kann vor diesem Hintergrund daher auch als Inklusionsvermittlung bzw. Exklusionsvermeidung oder zumindest Exklusionsverwaltung gesehen werden (vgl. Wirth 2005: 96).

Demgegenüber bzw. damit im Zusammenhang steht Recht als anderes eigenständiges Funktionssystem. Während Soziale Arbeit als Funktionssystem die Aufgabe hat, Hilfe anzubieten, hat Recht in der Luhmann’schen Systemtheorie die Aufgabe, einerseits Erwartungssicherheit zu garantieren und andererseits bestimmte (soziale) Verhaltensweisen zu steuern (vgl. Luhmann 1999: 73). Der wesentliche Code des Systems Recht besteht im Unterschied zu jenem von Sozialer Arbeit in der Binarität von Recht und Unrecht. Die Leistung des Systems Recht lässt sich demnach umschreiben als Bereitstellung von Normen. Diese Normen wiederum garantieren auch in anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen ein bestimmtes Maß an Verhaltenssicherheit und Vorhersagbarkeit (vgl. Becker/Reinhardt-Becker 2001: 106f).


4. Professionelles Handeln und professionelle Identität
4.1 Professionelles Handeln

Diese gesellschaftstheoretisch-systemische Schieflage zwischen Recht und Sozialer Arbeit und der Umstand, dass die jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen sehr verschieden ausgeprägt sind, schlägt sich auch im konkreten alltäglichen professionellen Handeln und im jeweiligen eigenen Selbstverständnis nieder.

Bei vielen Unterschieden – schon alleine hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Positionen – weisen beide Professionen jedoch gerade im praktischen Arbeitskontext eine große Gemeinsamkeit auf: das Arbeiten am Fall. Dieser macht einen wesentlichen Kern sozialarbeiterischen und juristischen Arbeitens aus. Die juristische Profession hat ihren Ausgang im juristischen Fall, während die Soziale Arbeit den Fokus auf den psychosozialen Fall legt.

Das Wesen juristischer Fallbearbeitung ist die Betrachtung eines bestimmten (sozialen) Sachverhaltens unter juristischen Gesichtspunkten und Prämissen. Hierfür steht eine eigene juristische Methodik (vgl. Bydlinski 2012) zur Verfügung, die zum Ziel hat, Lebenssachverhalte und Sachprobleme strukturiert und unter konkreten juristischen Gesichtspunkten zu analysieren, um letztlich zu nachvollziehbaren, rechtlichen Begründungen kommen und Rechtsfragen klären zu können.

Soziale Arbeit hat in ihrer Praxis ebenfalls mit Fällen zu tun, in der Form, dass ein sozialer Sachverhalt an die in der Praxis tätigen Sozialarbeiter_innen herangetragen wird. Kern eines sozialarbeiterischen Falles ist nicht primär dessen juristischer Gehalt, sondern das dahinter liegende soziale Problem (vgl. Engelke 2004: 301f). Ebenso wie Jurist_innen greifen Sozialarbeiter_innen auf ein professionelles Instrumentarium zurück und bedienen sich gezielter Methoden, um eine soziale Problemlage analysieren, strukturieren und (be-)arbeiten zu können (vgl. Galuske 2007: 36ff).

Beiden Professionen ist in der Fallbearbeitung gemein, dass im Zentrum immer Menschen stehen, auf die sich das jeweilige Handeln bezieht. Die juristische Profession ist mit Menschen als abstrakten oder konkreten Normadressat_innen konfrontiert, auf die das Recht unabhängig von deren persönlichem Hintergrund und deren persönlichen Beweggründen anzuwenden ist. Der Sozialen Arbeit hingegen begegnen Menschen als Klient_innen, die sich in einer Notlage befinden und oftmals den gesellschaftlichen Anschluss nicht von alleine schaffen bzw. nicht geschafft haben. Die sozialarbeiterische Fallbearbeitung muss daher – im Unterschied zur juristischen – ihr professionelles Augenmerk auf die Ganzheitlichkeit einer sozialen Problemlage richten, bewusst vernetzt und interdisziplinär ausgerichtet sein und sich grundsätzlich an den konkreten Bedürfnissen ihrer Klient_innen orientieren.

Handeln in der Sozialen Arbeit ist durch eine bewusste Nähe zu ihren Klient_innen gekennzeichnet, weil Hilfeprozesse gerade erst durch die professionelle Beziehungsarbeit mit den Klient_innen möglich werden. Des Weiteren hat professionelles Handeln und sozialarbeiterische Fallbearbeitung zur Aufgabe, materielle und immaterielle Ressourcen für Klient_innen zu erschließen.

Für die juristische Fallbearbeitung bzw. juristisches Agieren ist hingegen charakteristisch, dass der Fokus oftmals bewusst eingeschränkt wird, indem er sich ausschließlich auf rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit einem (sozialen) Sachverhalt konzentriert und bewusst andere (interdisziplinäre) Perspektiven bezüglich Bewertung und Beurteilung ausschließt. Juristische Arbeit setzt sich häufig sogar sehr bewusst von den Adressat_innen ihrer Arbeit ab und lässt im Unterschied zur Sozialarbeit gezielt keine Nähe zu diesen zu. Oftmals ist nämlich gerade erst durch diese persönliche und professionelle Distanz ein Höchstmaß an rechtlicher Objektivität und Ausgewogenheit zu erreichen und kann dadurch willkürliche, weil zu individualisierte, Rechtsanwendung ausgeschlossen werden.

Was die beiden Professionen bzw. deren professionelles Handeln allerdings verbindet, ist die Tatsache, dass bei beiden (Be-)Wertungen vorgenommen werden. Jurist_innen (be-)werten, ob rechtmäßiges oder unrechtmäßiges Verhalten vorliegt und verknüpfen dies mit rechtlichen Folgen. Sozialarbeiter_innen (be-)werten, ob ein soziales Problem vorliegt und haben in weiterer Folge darüber zu entscheiden, ob sozialarbeiterische Unterstützung zu leisten ist.


4.2 Professionelle Identität
Die juristische Profession weist nicht nur eine lange historische Tradition auf, sondern hat auch ein äußerst stark ausgeprägtes Standesbewusstsein und einen Habitus, die beide schon im Hochschulstudium mit gelehrt und transportiert werden (vgl. Sagmeister/Wöckinger 2013: 478ff). Eine eigene (Rechts-)Sprache hebt sie ab von anderen Professionen und erlaubt es ihr somit, sich von diesen abzugrenzen. Der unmittelbare Einfluss auf das Rechtssystem und der damit automatisch einhergehende Einfluss auf die Politik und andere gesellschaftliche Machtzentren verleihen der juristischen Profession ein enormes Selbstbewusstsein. Verstärkt wird dieses durch die gesellschaftliche Wahrnehmung, der die Profession unterliegt. Aufgrund dieser daraus resultierenden Definitionsmacht genießt sie gegenüber anderen Professionen und gesamtgesellschaftlich hohe Autorität. Nicht nur die praktischen juristischen Tätigkeiten sind klar abgegrenzt von anderen Professionen, indem konkrete Zugangsvoraussetzungen eingeführt sind, wie beispielsweise im Justizbereich in der Richter_innenausbildung, sondern auch als wissenschaftliche Disziplin ist sie hinlänglich etabliert und weiß um ihren wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand: Sie ist diejenige, die sich mit Recht und dessen Anwendung im weitesten Sinn auseinandersetzt (vgl. Horn 2004: 26ff).

Die professionelle Identität Sozialer Arbeit hingegen ist anders ausgeprägt. Sie sieht sich unter einem ständigen professionellen und gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck, erklären zu müssen, was denn nun Sozialarbeit tatsächlich ist, wozu sie da ist und warum es einer eigenen Ausbildung bedarf. Diese Unsicherheiten schlagen nicht nur in der Praxis durch, sondern auch wissenschaftlich-theoretisch. Mit der Umstellung auf ein akademisches Ausbildungsniveau an den Fachhochschulen entwickelt sich im Bereich der Sozialen Arbeit langsam auch eine eigene wissenschaftliche Disziplin: die Sozialarbeitswissenschaften. Auch hier wird der wissenschaftliche Diskurs stark dominiert von den Fragen, was der konkrete praktische und theoretische Erkenntnisgegenstand der Disziplin sei bzw. was denn konkret beforscht und bearbeitet werden soll (vgl. Engelke 2004, Staub-Bernasconi 2007, Lambers 2013 u. v. m). Hinzu kommt, dass Soziale Arbeit als Profession über wesentlich weniger (gesellschaftliche) Definitionsmacht und Deutungshoheit verfügt als die juristische und sich in öffentlichen Diskursen oft wenig bis gar kein Gehör verschaffen kann.

Die Gründe für die unterschiedlich ausgeprägten professionellen Identitäten von Sozialarbeiter_innen und Jurist_innen sind durchaus mannigfaltig. Im Bereich der Sozialen Arbeit spielt sicherlich stark die Tatsache hinein, dass sie sich professionell zwangsläufig am Rand der Gesellschaft bewegt und ausschließlich mit stigmatisierten Gesellschaftsgruppen konfrontiert ist. Die Stigmatisierung, die ihren Klient_innen anhaftet, färbt auch auf die Profession selbst ab. Ganz anders die juristische Profession, die sich von ihrem gesellschaftlichen Auftrag meist im gesellschaftlichen Zentrum bewegt und in vielen juristischen Berufsfeldern eher mit gut situierten Gesellschaftsgruppen und Eliten befasst ist, die für juristische Leistungen viel Geld zu zahlen bereit sind.


5. Verbindungslinien und emanzipatorisches Potential
Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, weisen die beiden Professionen in vielen Bereichen Unterschiede und verschiedene Zugänge auf, in wichtigen Punkten jedoch auch entscheidende Gemeinsamkeiten. Beider Handeln ist häufig unmittelbar auf andere Menschen ausgerichtet, und im konkreten Einzelfall überschneiden sich oftmals juristische und sozialarbeiterische Aspekte. Charakteristisch für beide Professionen ist, dass sie häufig als „Anwält_innen“ im weitesten Sinn fungieren – wenngleich die juristische Profession nicht in all ihren Bereichen parteilich agiert, sondern durchaus auch urteilend bzw. objektiv zu agieren hat, wie dies besonders im Richter_innenamt der Fall ist. In vielen juristischen und sozialarbeiterischen Arbeitsbereichen wird jedoch nichtsdestotrotz vermittelnd oder stellvertretend gearbeitet, um für Klient_innen und Mandant_innen soziale und/oder rechtliche Ressourcen zu erschließen.

Gerade darin liegt ihre große gesellschaftspolitische Relevanz, und eine intensivere Kooperation beider Profession könnte emanzipatorische Möglichkeiten eröffnen: Viele engagierte und kritische Sozialarbeiter_innen4 möchten sich nicht nur darauf beschränken, nach Einzelfalllösungen zu suchen, sondern wollen systemimmanente Hürden und Ausschlüsse ihrer Klient_innen verändern, während auf der anderen Seite sozial engagierte, kritische Jurist_innen und Anwält_innen oftmals zu wenig wissen von den realen Problemlagen und konkreten Lebenssituation von Menschen, um auf einer juristischen und rechtspolitischen Ebene argumentieren zu können, warum und in welcher Form (rechtliche) Veränderungen vonnöten wären.

Aber nicht nur in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche und systemrelevante Fragestellungen macht eine engere Vernetzung von Sozialarbeiter_innen und Jurist_innen Sinn, sondern auch im konkreten Arbeitsalltag. So sind viele Sozialarbeiter_innen häufig in ihrer Arbeits- und Fallpraxis gleichzeitig auch mit juristischen Fragestellungen konfrontiert und Jurist_innen wiederum mit psychosozialen Notlagen von Menschen, die zuerst einmal einiges an Beziehungsarbeit erfordern, um überhaupt die Gesamtsituation erfassen und in weiterer Konsequenz die für den Sachverhalt relevanten juristischen Fragestellungen herausarbeiten zu können. Ein gutes Praxisbeispiel ist die Arbeit der BettelLobby Wien5, die durch psychosoziale und juristische Beratung bettelnden Menschen in Wien konkrete Hilfe ermöglicht.

Was können die beiden Professionen darüber hinaus jeweils voneinander „lernen“? Konkret könnten sich in der Praxis tätige Sozialarbeiter_innen stärker mit juristischem Know-how vertraut machen und dieses einsetzen, wenn es darum geht, ihre Klient_innen dabei zu unterstützen zu ihren Rechten zu kommen. Die juristische Profession wiederum kann von Sozialer Arbeit lernen, dass interdisziplinäres und vernetztes Agieren durchaus auch bei der Klärung von Rechtsfragen relevant sein kann und dass jede Erweiterung des juristischen Horizonts möglicherweise neue oder andere Lösungen ermöglicht. Gerade für in der sozialen Praxis tätige Jurist_innen kann es mitunter hilfreich sein, professionelle Beziehungsarbeit stärker in den Vordergrund zu rücken und mittels entsprechender Gesprächsführungs- und Kommunikationsmethoden – insbesondere bei sprachlich weniger gewandten Menschen – die für die Fallbearbeitung relevanten Antworten zu erhalten bzw. generell eine Verständigungsebene mit den Mandant_innen zu finden. Auch das kritische Reflektieren des eigenen professionellen Handelns ist ein Instrumentarium, das genauso relevant ist für einen juristischen wie für einen sozialarbeiterischen Beruf.

Insgesamt zeigt sich, dass es durchaus viele Verbindungsmöglichkeiten zwischen sozialarbeiterischer und juristischer Arbeit – sowohl im konkreten Berufsalltag, als auch in Bezug auf gesellschaftspolitische Belange – gäbe und daher eine engere Vernetzung beider Professionen durchaus sinnvoll und wichtig erschiene.


Verweise
1 Die Ersterscheinung erfolgte in der Zeitschrift Judikum, Heft 2/2014. Die erneute Veröffentlichung in soziales_kapital soll den Artikel nun auch der Sozialarbeits-Community zugänglich machen.
2 Obwohl eine geschlechterneutrale Regelung gewählt wurde, werden und wurden vor allem männliche (Rechts-)Philosophen rezipiert.
3 Dieser Abschnitt ist ein stark gekürzter und überarbeiteter Teil meiner Bachelorarbeit an der FH Campus Wien.
4 In diesem Zusammenhang ist der Verein Kritische Soziale Arbeit (KriSo) zu nennen, der sich mit den gesellschaftspolitischen Dimensionen und Aufträgen von Sozialer Arbeit kritisch beschäftigt und einen kritischen, interdisziplinären Austausch fördert und unterstützt. Siehe dazu http://www.kriso.at/ (14.04.2014).
5 Die BettelLobbyWien tritt u. a. für ein Grundrecht auf Betteln ein, kämpft gegen Polizei und Behörden und versucht konkret Betroffene im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Informationsabenden individuell juristisch und psychosozial zu beraten. Mehr Informationen unter http://bettellobbywien.wordpress.com (12.04.2014). Siehe dazu auch Frühwirth (2013).


Literatur

Bydlinski, Franz (2012): Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Aufl., Wien.

Becker, Frank / Reinhardt-Becker, Elke (2001): Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. Main.

Engelke, Ernst (2004): Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen. 2. Aufl., Freiburg.

Frühwirth, Ronald (2013): Das Eisenbahngesetz und die Bettlerin. In: Juridikum 3/13.

Galuske, Michael (2007): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 7. Aufl., Weinheim/München.

Hering, Sabine / Münchmeier, Richard (2007): Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 4. Aufl., Weinheim.

Horn, Norbert (2004): Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie. 4. Aufl., Heidelberg.

Lambers, Helmut (2013): Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. Wien/Köln/Weimar.

Luhmann, Niklas (1973): Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Otto, Hans-Uwe / Schneider, Siegfried (Hg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. Erster Halbband, Neuwied/Berlin.

Luhmann, Niklas (1999 [1981]): Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt a. Main.

May, Michael (2009): Aktuelle Theoriediskurse Sozialer Arbeit. Eine Einführung. 2. überarbeitete u. erweiterte Aufl., Wiesbaden.

Merten, Roland (2004): Inklusion/Exklusion und Soziale Arbeit. Überlegungen zur aktuellen Theoriedebatte zwischen Bestimmung und Destruktion. In: Merten, Roland / Scherr, Albert (Hg.) (2004): Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit. 1. Aufl., Wiesbaden, S. 99 118,

Melinz, Gerhard / Ungar, Gerhard (1996): Wohlfahrt und Krise. Wiener Kommunalpolitik 1929-1938. Wien.

Müller, Wolfgang C. (2013): Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialen Arbeit. 6. Aufl., Weinheim.

Reiter-Zatloukal, Ilse (2007): JuristInnenausbildung an der Wiener Universität. Ein historischer Überblick. http://homepage.univie.ac.at/ilse.reiter-zatloukal/RWStud_online_relaunch.pdf (14.04.2014).

Sagmeister, Maria / Wöckinger, Andreas (2013): In der Schreckstarre – Habitus-Training im rechtswissenschaftlichen Studium. In: Juridikum 4/13.

Schneider, Gabriele (2013): Richterinnen in Österreich. In: Juridikum 4/13.

Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis – Ein Lehrbuch. Bern/Stuttgart/Wien.

Wendt, Wolf Rainer (2008): Geschichte der sozialen Arbeit. Die Gesellschaft vor der sozialen Frage. Bd. 1, Stuttgart.

Wirth, Jan Volker (2005): Helfen in der Moderne und Postmoderne. Fragmente einer Topographie des Helfens. Heidelberg.


Über die Autorin

Mag.a Nina Eckstein, BA
nina.eckstein@gmx.at

ist Juristin, absolvierte ihren Bachelor in Sozialer Arbeit am FH Campus Wien und studiert seit September 2014 im Masterlehrgang Soziale Arbeit an der FH St. Pölten. Sie arbeitet seit 5 Jahren als Sozialarbeiterin im Bildungsbereich. Ihre Forschungsinteressen liegen im Vergleich von Recht und Sozialer Arbeit; Gender Studies/Kritische Männerforschung; Behinderung und Exklusion;