soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 13 (2015) / Rubrik "Werkstatt" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/362/629.pdf
Edith Enzenhofer, Alois Huber & Gertraud Pantucek:
1. Einleitung – Zum Kontext der sozialen Inklusion im Kindergarten
Der folgende Artikel hat das Ziel, Praxiserfahrungen aus einem Pilotprojekt, das Möglichkeiten zur sozialen Inklusion im Kindergarten in zwei ländlich geprägten Pilotregionen in Österreich erkundet und dies mit einer aktivierenden Begleitforschung unterstützt hat, zur Diskussion zu stellen. Dieses Projekt ist nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungsfelder zu sehen. Es entstand aufgrund von Bestrebungen des ehemaligen Staatssekretariats für Integration, die Einführung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahrs voranzutreiben, insbesondere für Kinder mit Defiziten in der deutschen Sprache. Ein spezifisches österreichisches Bundesland wollte zu diesem Thema einen eigenständigen Zugang einbringen, denn es investiert bereits erhebliche Ressourcen in kulturelle Vermittlungstätigkeit im Bereich der vorschulischen Pädagogik. Insbesondere werden im Kindergartenbereich spezifisch ausgebildete mehrsprachige Fachkräfte als transkulturelle VermittlerInnen eingesetzt. Ihre Aufgabe ist es, Fragen der Diversität und des Zusammenlebens im System Kindergarten konstruktiv zu bearbeiten und die Sprachkompetenz von Kindern sowohl in Deutsch als auch in den jeweiligen Erstsprachen zu stärken. Vor diesem Hintergrund wurde eine Strategie entwickelt, den Kindergartenbesuch nicht über eine Verpflichtung sicherzustellen, vielmehr sollten positive Motivationsanreize gesetzt werden.
Das Projekt war ursprünglich nur für ein Jahr geplant. Aufgrund der produktiven Arbeit im ersten Projektjahr und der positiven Feedbacks der teilnehmenden Gemeinden und Kindergärten wurde das Projekt um ein weiteres Jahr verlängert. Der Artikel ist als Resümee der beiden Projektjahre zu verstehen, um kurz zu umreißen, was in diesem Zeitraum erreicht werden konnte und welchen Nutzen Kinder, ihre Familien, Kindergärten und Gemeinden aus dem Projekt ziehen konnten.
2. Ziele und Projektaktivitäten
Das Pilotprojekt war als Bewusstseins- und Motivationsangebot gedacht, um Eltern, deren Kind noch nicht den Kindergarten besucht, an diese erste Bildungsinstitution heranzuführen. Eine implizite Annahme hierbei war, dass es soziale Barrieren für den Kindergartenbesuch geben könnte und es wichtig sei, diese gezielt abzubauen. Insbesondere sollten solche Eltern angesprochen werden, deren Kinder Sprachförderbedarf aufweisen. Ursprünglich standen dabei Kinder aus Migrationsfamilien im Fokus. Im Verlauf des ersten Jahres musste diese Blickrichtung jedoch korrigiert werden, da sich zeigte, dass sowohl das Fernbleiben vom Kindergarten als auch der Bedarf an Sprachförderung mit multiplen sozialen Problemlagen in Zusammenhang steht und nicht primär auf Migrationserfahrungen zurückgeführt werden kann. Als Konsequenz dieser Erkenntnis wurde die Ausrichtung des Projekts auf alle Kinder im Kindergartenalter erweitert.
Eltern, deren Kinder noch nicht in den Kindergarten eingeschrieben waren, wurden von der zuständigen Gemeinde und dem umsetzenden Projektteam dazu eingeladen, gemeinsam mit ihrem Kind an regelmäßigen, kostenlosen Treffen im Kindergarten, sogenannten Eltern-Kind-Runden, teilzunehmen. Diese fanden über einen Zeitraum von etwa 10 Wochen einmal wöchentlich im Kindergarten statt und wurden von pädagogisch qualifizierten Projektmitarbeiterinnen1 – einer transkulturellen Vermittlerin und einer Sonderkindergartenpädagogin – organisiert, geplant und geleitet. In den Eltern-Kind-Runden fanden sowohl allgemeine pädagogische Aktivitäten als auch gezielte Angebote zur Sprachentwicklung für Kinder und Erwachsene statt. Als spezielles Angebot stand eine mehrsprachige Leihbibliothek zur Verfügung, die von den Projektmitarbeiterinnen im Laufe der beiden Projektjahre aufgebaut wurde. Diese wurde in Form einer mobilen Bücherbox in die Eltern-Kind-Runden mitgenommen und steht interessierten Kindergärten auch über das Projektende hinaus auf Anfrage zur Verfügung. Die Eltern-Kind-Runden waren als niederschwelliges, pädagogisch angeleitetes Angebot konzipiert, um Kinder und ihre Eltern optimal auf den Kindergartenbesuch vorzubereiten. Eltern und Erziehungspersonen sollten mit dem Kindergarten und mit dem jeweiligen Kindergartenteam bekannt werden, sodass eine Basis für „gute Elternarbeit“ gelegt ist. Außerdem war es Ziel, in den Eltern-Kind-Runden einen geeigneten sozialen Rahmen zu schaffen, damit Vertrauen und Solidarität wachsen können, die teilnehmenden Eltern Kontakte und Freundschaften knüpfen und sich in der Folge auch gegenseitig unterstützen.
Um dieses Angebot aufbauen und gut im sozialräumlichen Umfeld verankern zu können, waren intensive Vorbereitungsarbeiten (z. B. Bedarfserhebungen über den Besuch bzw. Nicht-Besuch des Kindergartens auf Gemeindeebene) und eine enge Kooperation mit Gemeinden und Kindergärten erforderlich. Zur Sicherung der Nachhaltigkeit fanden Begleitaktivitäten im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit in den Gemeinden und in pädagogischen Fachkreisen statt.
Das Projekt wurde im ersten und zweiten Projektjahr in jeweils drei Pilotgemeinden umgesetzt, wobei die Eltern-Kind-Runden in einer Gemeinde im gesamten Zeitraum der beiden Jahre stattfanden. Das Angebot wurde in den beiden Projektjahren von Eltern, aber auch von Großeltern, oft auch in der Begleitung von Geschwisterkindern, genutzt. Je nach Gemeinde waren die Gruppen hinsichtlich der Migrationserfahrungen sehr heterogen zusammengesetzt (so nahmen etwa österreichische Familien, anerkannte Flüchtlinge, kürzlich Zugewanderte sowie Angehörige der zweiten Generation mit Hintergrund aus der Türkei, aus Albanien, Ungarn, Tschechien, Litauen, u. v. m. teil); im Großen und Ganzen waren deutschsprachige Eltern dabei eher in der Minderzahl.
3. Ziel und methodische Umsetzung der Begleitforschung
Ziel der Begleitforschung war es, das Projekt sozialwissenschaftlich zu begleiten, neue Reflexionsebenen zu eröffnen und so zum Projekterfolg und zur nachhaltigen Ergebnissicherung beizutragen. Die wissenschaftliche Reflexion wurde nutzenorientiert angelegt. Im Mittelpunkt stand nicht die Gewinnung wissenschaftlichen Wissens per se, sondern die Gewinnung von Wissen, das für das Projekt und eine Weiterentwicklung nützlich ist.
Die Begleitforschung war daher – ebenso wie das Gesamtprojekt – als lernendes Projekt zu verstehen, dessen Schwerpunktsetzung sich im Laufe der beiden Projektjahre verändert hat. Der Auftrag umfasste folgende Elemente:
Methodisch stützte sich die Erkenntnisgewinnung in den beiden Projektjahren auf folgende Schritte, die im Sinne einer multiperspektivischen Betrachtung zusammengeführt wurden:
4. Wichtigste Ergebnisse und Handlungsempfehlungen
Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse und Handlungsempfehlungen vorgestellt, die im Zuge des Projekts von den Projektbeteiligten gemeinsam erarbeitet wurden. Sie bündeln den Reflexionsprozess und sind im Sinne eines Transfers der Projekterkenntnisse gedacht.
4.1 Den Wert des Kindergartens als Lern- und Begegnungsraum sichtbar machen
Es war den Mitwirkenden ein besonderes Anliegen, die Bedeutung des Kindergartens als erste Station im Bildungssystem zu betonen und den handelnden AkteurInnen in der Region zu verdeutlichen, dass eine gelungene Inklusion in den Kindergarten eine wichtige Basis für die späteren Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern darstellt. Viele Eltern, mit denen im Zuge des Projekts Kontakt aufgenommen wurde, haben die Vorstellung, dass „richtige“ Bildung erst in der Schule beginnt. Deshalb wird der Kindergarten oft nicht so ernst genommen, wie es aus Sicht der AkteurInnen im Bildungskontext wünschenswert scheint. Auf Seiten mancher Eltern zeigt sich ein Wissensbedarf über den Nutzen der spielerischen Pädagogik für die kindliche Entwicklung (nach dem Motto: „Die lernen hier ja nichts – die spielen ja nur!“). Dies erfordert neue Kommunikationsstrategien gegenüber den Eltern im konkreten Kindergartenumfeld, aber auch auf Gemeindeebene.
4.2 Wer besucht nicht den Kindergarten? Implizite Annahmen hinterfragen
Zu Beginn der Begleitforschung wurden mehrere implizite Annahmen reflektiert, wie etwa jene, dass Kinder dann nicht den Kindergarten besuchen, wenn ihre Eltern die Institution Kindergarten nicht kennen bzw. dagegen Vorbehalte haben. Es wurde angenommen, dass diese soziale Distanz zum Kindergarten in Familien mit Migrationserfahrung(en) verstärkt gegeben sein könnte. Auf Basis der durchgeführten Datenanalysen konnte jedoch widerlegt werden, dass der Nicht-Besuch des Kindergartens ein migrationsspezifisches Problem ist, denn es zeigte sich laut der projektinternen Datenerhebung des ersten Projektjahrs, dass der Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache an der Zielgruppe genau jenem Anteil entspricht, den Statistik Austria für die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in diesem Bundesland ausweist. Kinder aus Migrationsfamilien bleiben demnach dem Kindergarten nicht überproportional oft fern. Im zweiten Projektjahr wurde erhoben, in welchem Ausmaß Vierjährige, die die Zielgruppe eines zweiten Kindergartenjahres sind, dem Kindergarten fernblieben. Es zeigte sich, dass dies lediglich vereinzelt der Fall ist.
Das Projektteam kam aufgrund der gefundenen Evidenzen zu dem Schluss, dass die ursprüngliche Ausrichtung des Projektes – eine verstärkte Hinführung bestimmter Zielgruppen zum Kindergartenbesuch – aufgrund der kaum vorhandenen Bedarfslage zu überdenken ist. Weder Kinder aus Migrationsfamilien noch Vierjährige bleiben in dem untersuchten Bundesland in großem Stil dem Kindergarten fern. Es sind vielmehr sehr spezifische Gruppen, an denen angesetzt werden könnte oder sollte – hier ist eher eine Arbeit am Einzelfall zu empfehlen.
Die Projekterfahrungen zeigen eindrücklich, dass die Botschaft „Kindergarten hilft beim Deutschlernen“ bei zugewanderten Familien durchaus angekommen ist. Wie sowohl GemeindevertreterInnen als auch KindergartenleiterInnen bestätigen, bemühen sich Eltern mit Migrationshintergrund entsprechend früh um einen Kindergartenplatz, um den Deutscherwerb ihrer Kinder zu fördern.
Die zu Beginn des Projekts konstatierten Barrieren (Sprachbarrieren, Unsicherheiten, mangelnde Kenntnis des Kindergartens, Vorbehalte u. a.) dürften demnach nicht auf Menschen mit Migrationserfahrungen per se zutreffen. Sie sind dennoch unter Umständen bei einzelnen MigrantInnengruppen zu finden. Zu nennen sind hier insbesondere neu Zugewanderte oder Flüchtlinge, die u. U. nur schwer einen Zugang zum vorschulischen Bildungssystem finden. Die Zielgruppe der „MigrantInnen“ ist folglich zu differenzieren. Festzuhalten ist jedoch, dass die genannten Zugangsbarrieren durchaus auch bei Familien aus der österreichischen Mehrheitsgesellschaft zu finden sind. Insgesamt zeigt sich, dass Faktoren sozialer Benachteiligung bzw. psychosoziale Mehrfachbelastungen der wesentlichste Prädiktor bezüglich der Nicht-Besuche des Kindergartens zu sein scheinen. Dies muss bei der Maßnahmenplanung beachtet werden.
4.3 Vielfältige soziale Problemlagen erschweren das „Ankommen“ im Bildungssystem
In den beiden Projektjahren wurde ein Bedarf an Angeboten deutlich, die dabei helfen, Familien beim „Ankommen“ im System Kindergarten zu begleiten und zu unterstützen. Dieser Begleitungsbedarf zeigt sich gerade bei Kindern aus sozial schwachen Familien und/oder Kindern mit speziellem Förderbedarf. Hier boten die aus der „normalen Kindergartenpädagogik“ herausgenommenen Eltern-Kind-Gruppen den TeilnehmerInnen offenbar einen besonders geschützten, niederschwelligen Rahmen, um psychosoziale Probleme anzusprechen, für die es sonst kaum einen Raum gibt. Dies geschah vor und nach den Gruppenterminen, hierzu wurde ein geschützter Rahmen im Einzelgespräch geschaffen. In der Folge wurde ein überaus breites Spektrum an sozialen Problemen sichtbar bzw. artikuliert. Die Bandbreite der Themen und Anliegen, die den Projektmitarbeiterinnen anvertraut und im Rahmen der Begleitforschung reflektiert wurden, sprechen für die Dringlichkeit einer intensiven und vertrauensvollen Beratung. Konfrontiert waren die Mitarbeiterinnen u. a. mit folgenden Problemfeldern: Armut, Hunger, Unsicherheiten im Umgang mit Mehrsprachigkeit, Unsicherheiten im Umgang mit Bildungsinstitutionen, Behinderung bzw. spezieller pädagogischer Förderbedarf, Trennung und Scheidung, Verwahrlosung, innerfamiliäre Gewalt, Traumatisierung, Alkoholismus, Spielsucht u. v. m. Die umsetzenden Projektmitarbeiterinnen formulierten das so: „Die Gruppen sind ein Spiegel der Gesellschaft“ und auf das Thema Hunger bezogen: „Das sind Themen, von denen man nicht glaubt, dass es sie in Österreich gibt!“ Gerade diese Problemfelder können den Übergang in den Kindergarten und das gute Ankommen im Kindergarten erschweren; und eine einfühlsame Begleitung durch sozial geschulte Fachkräfte kann hier nicht nur den unmittelbaren Übergang in den Kindergarten, sondern auch langfristig den Zugang zum Bildungswesen (Stichwort: Schuleintritt) erleichtern.
4.4 Verfügbarkeit von Kindergartenplätzen und die Ressourcenfrage in den Gemeinden bedenken
Inklusionsprojekte entstehen nicht im luftleeren Raum. Wesentlich ist die Verzahnung mit dem politischen und ökonomischen Kontext (im ländlichen Raum sind dies insbesondere Gemeinden und ihre Ressourcen sowie auch Anfahrtswege und Öffnungszeiten etc.) zu beachten. Neben individuellen Faktoren auf Seiten der Familien kann auch ein Mangel an Kindergartenplätzen in Gemeinden dazu führen, dass Kinder nicht den Kindergarten besuchen. Nicht alle Gemeinden haben derzeit ausreichende Platzkapazitäten, um auch jüngere Kinder aufzunehmen. Und nicht alle Gemeinden sehen sich derzeit imstande, zusätzliche Anreizsysteme für den Kindergartenbesuch zu schaffen, wenn sie dem so geweckten Platzbedarf dann unter Umständen nicht nachkommen können.
4.5 Deutschlernen im Kindergartenalter – Beziehungsangebot statt Leistungsdruck
Die Projekterfahrungen zeigen deutlich, dass bei zugewanderten Eltern bezüglich des Themas „Deutschlernen“ eine sehr hohe Motivation, aber auch Verunsicherung und bisweilen sogar Versagensängste und ein wahrnehmbarer Leistungsdruck vorherrschen. Daraus ergibt sich für die Praxis folgende Empfehlung: Da das Deutschlernen zum „Stressthema“ geworden sein dürfte, ist es eine wichtige Aufgabe, das Thema zu „entkrampfen“. Es ist wichtig, Eltern mit Migrationserfahrungen folgende Haltung zu vermitteln: Multilingualer Spracherwerb ist etwas, das sich ganz natürlich entfalten kann, wenn der Raum dafür da ist. Kinder haben die Fähigkeit, mehrere Sprachen parallel zu erlernen, und sie möchten dies auch, wenn sie Freunde oder Bezugspersonen haben, mit denen sie gerne in Kontakt treten. Die beste Strategie der Sprachförderung in der deutschen Sprache ist es daher, Beziehungsangebote zu setzen bzw. diese zu fördern (also beispielsweise Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache zu Freundschaften mit deutschsprachigen Kindern zu ermutigen).
Wer am Spracherwerb der Kinder arbeiten will, muss auch an den Sprach-Erfahrungen der Eltern ansetzen. Hier gilt es, ein positives Bild von Deutsch und von anderen Sprachen zu fördern. Wird Deutsch mit Verpflichtung, Druck, Sanktion oder Überlegenheit in Verbindung gebracht, wird eine andere Basis gelegt, als wenn Deutsch als Sprache der Gleichwertigkeit, Begegnung und Freundschaft erlebbar gemacht werden kann, in der Menschen sowohl Fehler machen dürfen als auch immer besser werden können.
4.6 Druck in Richtung des Deutschlernens erschwert Projekte zur Mehrsprachigkeit
Der Leistungsdruck im Kontext des Deutschlernens fällt bisweilen auch negativ auf engagierte PädagogInnen zurück, die eine Erziehung zur Mehrsprachigkeit betreiben möchten. Es gab im Projektverlauf mehrere Situationen, in denen sich Eltern aus Migrationsfamilien beschwerten, weil im Kindergarten oder in der Volksschule Lieder in anderen Sprachen gesungen oder mehrsprachige Spiele gespielt wurden. Das Motto lautet: „Ich will, dass mein Kind in der Schule/im Kindergarten Deutsch lernt!“. Diesbezüglich ist noch überwiegend ein Entweder-oder-Denken vorherrschend (z. B. „Wenn ich mit dem Kind Slowakisch rede, lernt es nicht Deutsch“). Die wissenschaftlich wohlfundierte Erkenntnis, dass die Förderung der Erstsprache nicht nur die Persönlichkeitsentwicklung stärkt, sondern auch hilfreich für den Deutscherwerb ist, ist keineswegs zu allen Eltern (aber auch nicht zu allen PraktikerInnen) durchgedrungen. Das kann zur Ablehnung multilingualer Projekte sowohl durch deutschsprachige Eltern (mit der Frage: „Warum sollen wir Steuergeld zahlen, damit die ihre Sprache lernen?“) als auch durch zugewanderte Eltern führen („Warum bringen die meinem Kind nicht Deutsch bei? Ich will nicht, dass es unsere Sprache im Kindergarten lernt!“). Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit erforderlich.
Nicht zuletzt ist es auch besonders wichtig, jene Eltern oder Großeltern zu beruhigen und sie in ihrer Erziehungskompetenz zu bestärken, die nicht gut Deutsch sprechen. Gefühle der Scham und Mangelhaftigkeit sind keine gute Basis für die Partizipation der Kinder und ihrer Familien. Ein Beispiel, wie man Familien stärken kann, ist es, sie zu ermutigen, den Kindern in der jeweiligen Erstsprache Geschichten zu erzählen bzw. vorzulesen (falls sie dies können), und ihnen zu vermitteln, dass dies einen hohen Wert für das Kind und für die familiäre Beziehung hat.
4.7 Deutschlernen als Folge von, nicht als Voraussetzung für „Integration“ begreifen
Eine wesentliche Erfahrung aus zwei Projektjahren lautet demnach: Es lohnt sich, Deutschlernen als Folge von, nicht als Voraussetzung für Integration bzw. Inklusion zu begreifen.
Grundsätzliches Willkommen-Sein, Vertrauen, Zugehörigkeit: Der Erwerb der deutschen Sprache braucht gute Rahmenbedingungen und Voraussetzungen. Die erste davon ist es, als Mensch grundsätzlich in einem bestimmten sozialen Umfeld willkommen zu sein. Es gibt nur wenig Anlass bzw. Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen, wenn die mitschwingende Botschaft ist: „Wir wollen euch hier nicht haben.“ Dies gilt auf der Ebene von Gesamt-Österreich, aber auch im sozialen Mikrokosmos Kindergarten. Wenn ein Mensch keinen Zwang verspürt, sondern ein grundsätzliches Eingeladen-Sein erfährt, ein Angenommen-Werden, wie man ist, mit allen Unterschiedlichkeiten, dann sind erste Zugehörigkeitserfahrungen möglich. Diese sind die Basis für alle weiteren Schritte der Inklusion. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Zugewanderte, sondern für alle sozialen Gruppen, bei denen soziale Inklusion ein Thema sein kann, wie z. B. für AlleinerzieherInnen, Familien mit einer geringen sozioökonomischen Ausstattung oder generationsübergreifenden Belastungen.
Stärkung bei psychosozialen Problemlagen, ganzheitliche Gesundheit: Aus der Erfahrungen der beiden Projektjahre ist erkennbar, dass vorerst psychosoziale Probleme thematisiert (und im Idealfall gelöst) werden müssen, bevor der Erwerb der deutschen Sprache möglich ist. Hier ist eine ganzheitliche Gesundheit im Sinne der WHO-Definition angesprochen. Wer in Armut oder mit Existenzsorgen lebt, wer unter psychischer oder seelischer Krankheit leidet, wer vom Migrations- oder Fluchtprozess belastet oder traumatisiert ist, wer durch Süchte und Abhängigkeiten begrenzt wird, ist hoch verunsichert und verängstigt und wird sich nicht erfolgreich dem Bildungsziel „Deutschlernen“ zuwenden können. Vieles, was als „nicht Wollen“ rezipiert wird, ist in Wirklichkeit ein „nicht Können“. Sprachförderung sollte diese Ebene nicht außer Acht lassen.
Kontakte und nährende Beziehung: Wenn ein Umfeld geschaffen ist, in dem man grundsätzlich willkommen ist und sich auch mit diversen Schwierigkeiten und Lebensbürden angenommen fühlt, dann kann man angstfrei Kontakte knüpfen und Beziehungen eingehen, denn es besteht nicht die Sorge, abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden. Mit Kontakten ergibt sich auf zwanglose Weise eine Chance für den Erwerb der deutschen Sprache bzw. die Lust, die Kenntnisse in dieser Sprache zu vertiefen, denn diese ist dann ein Medium für nährende und stützende Beziehungen.
4.8 Inklusion braucht Geduld – Dem Prozess und sich selbst Zeit geben
Begegnung braucht Vertrauen, und Begegnung darf daher auch ihre Zeit brauchen. Anfängliche Scheu und Distanz können dabei auftreten und dies sollte als normaler Teil des Lern- und Begegnungsprozesses angesehen und angenommen werden. Die Erfahrungen aus den Eltern-Kind-Runden zeigten deutlich, dass man als Gemeinde, als Kindergarten oder als PädagogIn nicht vorschnell aufgeben sollte, wenn das erste Treffen von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft oder unterschiedlichem sozialen Hintergrund distanziert (bis ablehnend) verläuft, denn es kann daraus dennoch ein herzliches Miteinander entstehen, wenn dem Begegnungsprozess Zeit und Raum gegeben und er respektvoll begleitet wird.
4.9 Wertschätzung und Gleichwertigkeit als Schlüssel zur Inklusion
Ein wesentlicher Teil der Reflexionsmeetings war der Frage gewidmet, was die Erfolgskriterien des Projekts sind und wie sich diese an unterschiedliche AkteurInnen mit Interesse an inklusiver Pädagogik vermitteln lassen. Wertschätzung und Gleichwertigkeit erwiesen sich in diesem Zusammenhang als Leitprinzipien von zentraler Bedeutung. Dies umfasst zum einen die Gleichwertigkeit, Wertschätzung und Offenheit im Umgang mit den Familien. Die Projektmitarbeiterinnen betonten, dass es ihnen wichtig war, dass die teilnehmenden Eltern und Großeltern unterschiedlicher Herkunft von ihnen Wertschätzung, Offenheit, Interesse und Achtung erfahren. Dadurch sollten sie ermuntert und motiviert werden, pädagogische Anregungen und die pädagogische Arbeit mit ihren Kindern anzunehmen, von den Angeboten des Projekts Gebrauch zu machen und dieses auch ihren Bekannten und deren Familien zu empfehlen.
Ebenso wichtig ist es jedoch, Gleichwertigkeit, Wertschätzung und Offenheit im Team vorzuleben. Das Potenzial von heterogenen Teams kann aktiv im Sinne einer guten Vorbildwirkung für das Zusammenleben eingesetzt werden. Dies setzt voraus, dass Gleichwertigkeit und Wertschätzung glaubwürdig gelebt werden. Authentische Gleichwertigkeit und Wertschätzung zwischen PädagogInnen mit unterschiedlichem Hintergrund können das Gruppenklima heterogener Gruppen positiv beeinflussen. Am Beispiel der Eltern-Kind-Runden kann dies gut verdeutlicht werden: Für Eltern aus Migrationsfamilien kann es etwa hilfreich sein, eine transkulturelle Vermittlerin als Identifikationsfigur und ggf. sprachliche Unterstützung vorzufinden, gleichzeitig aber eine deutschsprachige Kollegin anzutreffen, die sich für sie interessiert und sie so ein Stück weit hin zu Kontakten mit deutschsprachigen Menschen ermutigen kann. Eltern ohne dezidierte Migrationserfahrungen können sich in der Österreicherin wiederfinden, die dem Vertrauten entspricht; mit der Einbindung einer transkulturellen Vermittlerin bietet sich eine gute Möglichkeit, einen mehrsprachigen Menschen näher kennenzulernen und sich in dieser Interaktion zu üben. Ein solches Team bietet die Chance, Kooperation und einen konstruktiven Umgang von Menschen unterschiedlicher Herkunft zu sehen.
Wertschätzung muss auch auf Systemebene insgesamt gewährleistet sein. Sie ist allen handelnden Personen im Kindergartensystem entgegen zu bringen, auch den transkulturellen VermittlerInnen. Hier dürften derzeit noch Hürden bestehen, die ein gleichberechtigtes und gleichwertiges Miteinander zwischen ihnen und den KindergartenpädagogInnen im Kindergarten schwierig machen. Hier gilt es zum einen, Unklarheiten über das Berufsbild zu beheben, zum anderen aber auch, die Anerkennung für diese neue Berufsgruppe zu stärken.
5. Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit und Ausblick
Die Bedeutung des Kindergartens als erste Station im Bildungswesen ist deswegen wesentlich, weil eine gelungene Transition in den Kindergarten auch den Übertritt in die Schule und eine langfristig erfolgreiche Partizipation am Bildungssystem erleichtern kann. Deshalb lohnt es sich, weiterhin an der sozialen Inklusion im vorschulischen Bereich zu arbeiten bzw. dazu zu forschen.
Kinder aus den Zielgruppen „Migrationsfamilien“ und „Vierjährige“ sind physisch im Kindergarten präsent. Ob Kinder und ihre Familien in dieser Bildungsinstitution jedoch auch im Sinne der sozialen Inklusion „angekommen“ sind, hängt von mehreren Faktoren und Barrieren ab. Die Erfahrungen aus dem beschriebenen Projekt zeigten deutlich, dass die Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls eine der wesentlichsten Voraussetzungen für Inklusion ist. Gerade die Sozialarbeit kann die Chance wahrnehmen, sozial benachteiligten Menschen und Familien das Gefühl zu vermitteln, dass sie auch mit schwierigen Lebensumständen jederzeit willkommen sind und dass gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Insbesondere der ressourcen- und lösungsorientierte Ansatz der Sozialarbeit stellt hierfür ein wertvolles Werkzeug dar.
Die hohe Dichte an psychosozialen und ökonomischen Belastungskonstellationen, die im Zuge des Projekts sichtbar wurden und von den Betroffenen offenbar auch artikuliert werden konnten, weist darauf hin, dass hier ein ganzheitlicher Blick auf Inklusion und Bildungsteilhabe nötig ist. Es lohnt sich gerade im Sinne der nachhaltigen Bildungschancen von sozial benachteiligten Kindern, möglichst frühzeitig beratend und unterstützend anzusetzen. Es ist wesentlich, nicht nur die Kinder und ihre Familien zu unterstützen, sondern auch das System Kindergarten und seine AkteurInnen in Bezug auf die oft sehr vielfältigen Problemlagen zu sensibilisieren und zu beraten. Eine weiterführende Anregung ist, präventive sozialarbeitsorientierte Angebote zu entwickeln, die bereits im Kindergartenalter beginnen und an der Schnittstelle zwischen dem Kind, dem Familiensystem, den PädagogInnen und spezialisierten institutionellen Unterstützungsangeboten ansetzen. Mit einem solchen systemischen Blick und multiprofessionellen Konzept könnten neue Ressourcen und Lösungsansätze für Inklusion ausgelotet werden.
Im Zuge der intensiven Vernetzungsarbeiten zeigte sich auf Gemeindeebene ein Wissens- und Unterstützungsbedarf bezüglich des Themenkomplexes Migration und Integration bzw. Inklusion. Die transkulturellen VermittlerInnen scheinen zentrale Ansprechpersonen für diverse Fragen zu sein, was jedoch auch zu Überlastung führen kann. In Zukunft könnten daher weitere Begleitangebote zum Thema Migration (etwa Fortbildungen zu Mehrsprachigkeit sowie zu kulturellen und religiösen Themen) entwickelt werden, um die beteiligten Stakeholder (insbesondere Gemeinden und Kindergärten) noch besser in ihrer Arbeit zu stärken. In diesem Zusammenhang könnte auch die Rolle der transkulturellen VermittlerInnen in Kindergärten und im Gemeindeumfeld näher reflektiert werden.
Verweise
1 Während der Projektlaufzeit waren sämtliche Mitarbeiterinnen, die vor Ort in den Kindergärten tätig waren, Frauen, es wird daher in diesem Beitrag die weibliche Form verwendet, wenn vom Projekt die Rede ist. Grundsätzlich sind als transkulturelle VermittlerInnen jedoch sowohl Frauen als auch vereinzelt Männer tätig
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Über die AutorInnen
Edith Enzenhofer
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Alois Huber
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FH-Prof.in DSA Mag.a Dr.in Gertraud Pantucek
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