soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 13 (2015) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/372/617.pdf


Marc Diebäcker & Anna Voggeneder:

Wohnungslosigkeit im Jugendalter

Eine Literaturstudie zum angloamerikanischen Fachdiskurs


1. Einleitung
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Wohnungslosigkeit im jungen Alter ist im deutschsprachigen Raum begrenzt. Eine überschaubare Zahl einschlägiger Monografien und wenige empirische Studien1 kennzeichnen den Fachdiskurs, österreichische Forschungsprojekte fehlen gänzlich. Entwicklungen in diesem Feld werden in Österreich vielmehr erfahrungsbezogen in der Praxis diskutiert oder durch einzelne regional organisierte Arbeitsgruppen inhaltlich vorangetrieben (siehe z. B. für Wien AG Junge Wohnungslose 2013a, 2013b, 2013c, 2014 und für Kärnten Höllmüller 2012). Zu Situation und Hintergründen von jungen wohnungslosen Menschen werden keine flächendeckenden quantitativen Daten generiert, sodass strukturelle Muster und Zusammenhänge nicht erfasst werden können. Auch qualitative Studien, die beispielsweise Wechselwirkungen zwischen Risikofaktoren detaillierter darlegen oder Wege in oder aus der Wohnungslosigkeit biografisch rekonstruieren, sind für Österreich nicht zu verzeichnen. Diese Situation war Anlass für eine systematische, explorative Literatursuche in englischsprachigen Fachjournals, um den Diskurs zu ausgewählten Aspekten der Wohnungslosigkeit im Jugendalter zu analysieren.

Der soziologische Begriff der Jugend bezeichnet die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, der bestimmte biologische, psychosoziale und kulturelle Spezifika zugeschrieben werden. Wir orientieren uns diesbezüglich an einem weiten Jugendbegriff, der die Zeitspanne zwischen dem 12. und 30. Lebensjahr bezeichnet und in der Regel in eine frühe (etwa 12 bis 17 Jahre), eine mittlere (etwa 18 bis 21 Jahre) und eine späte Jugendphase (22 bis 30 Jahre) differenziert wird. (vgl. z. B. BMWFJ 2011: 1-2) Entsprechend eines ebenfalls meist weit gefassten Verständnisses des Jugendalters im englischsprachigen Fachdiskurs benutzen wir die Begriffe Youth und Jugend im Weiteren synonym.

Den Begriff der Wohnungslosigkeit verwenden wir übergreifend für alle Wohnsituationen, in denen die Person nicht selbst – physisch, sozial und rechtlich – über eigenen Wohnraum verfügen kann. Im englischen Fachdiskurs wird der Begriff homelessness meist ähnlich umfassend verwendet. Die Prekarität des familiären Mitwohnens zeigt sich im Kontext von Wohnungslosigkeit im Jugendalter in besonderer Weise, hängt der Besitz des eigenen Zimmers und das Mitnutzens von gemeinschaftlichen Zimmern in hohem Maße von innerfamiliären Machtbeziehungen ab.

In diesem Beitrag beziehen wir uns überwiegend auf die angloamerikanische Fachdebatte, gelegentlich verweisen wir auch auf Studien aus Australien oder Großbritannien, die im englischsprachigen Diskurs insgesamt weniger präsent sind. Dabei skizzieren wir einige Ergebnisse unserer Literaturstudie, die uns mit Blick auf die jungen Menschen als Adressat_innen Sozialer Arbeit bemerkenswert erscheinen. Nach einigen Anmerkungen zu unserem methodischen Vorgehen gehen wir auf ausgewählte Forschungszugänge (Kapitel 2) ein. Dann widmen wir uns Typologien und Aspekten der Ursachenforschung (Kapitel 3) und fokussieren dabei auf die Sozialisationsinstanz Familie sowie die besondere Situation von LGBTQ-youth – junge Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder queer identifizieren – die als besonders vulnerable Gruppe gilt. Anschließend beschäftigen wir uns mit einzelnen Aspekten der Lebensführung der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen (Kapitel 4): Dabei konzentrieren wir uns auf die Themen ungesicherte Wohnsituationen, Mobilitätsverhalten, materielle Strategien, Aspekte sozialer Gruppenbildung und psychische Gesundheit. In der abschließenden Diskussion (5) ist es uns ein Anliegen, auf jene Aspekte hinzuweisen, die für stärker wissenschaftliche Forschungsperspektiven zu junger Wohnungslosigkeit in Österreich bedeutsam erscheinen.


2. Forschungszugänge zur Wohnungslosigkeit im Jugendalter
Zu Beginn der systematischen Literatursuche wurden einschlägige sozialwissenschaftliche Datenbanken zu den Schlagworten „Youth Homelessness“ und „Social Work“ durchsucht. Dabei waren folgende Kategorien für uns forschungsleitend: Ursachen und Problematisierungen von Wohnungslosigkeit, Lebenswelt und Bewältigungsstrategien der jungen Erwachsenen, Gender sowie Soziale Arbeit. Diese Suche wurde dann mit spezifischeren Suchkriterien erweitert, um tiefer in den Fachdiskurs eindringen zu können.2 Ergänzt wurde die Suche zudem durch das Schneeballsystem, so konnte anhand häufig zitierter Autor_innen oder anhand von Publikationen in regelmäßig aktualisierten web-basierten Informations-Plattformen3 wichtige Forscher_innen im Bereich der Jugendwohnungslosigkeit erfasst werden. Aus einer Vielzahl an Beiträgen und Publikationen der Sozialarbeitsforschung und unterschiedlichster Bezugswissenschaften wurden von uns in einem mehrstufigen Verfahren entlang der Hauptkategorien 120 relevante Journalartikel und Monographien/Sammelwerke im Zeitraum 2000 bis 2014 aus Australien, Großbritannien, den USA und Kanada ausgewählt.4

Die hier analysierten Studien beziehen sich jeweils auf regionale bzw. länderspezifische Phänomene und Kontexte. Aufgrund dieser Unterschiede, z. B. hinsichtlich gesellschaftlicher Bedingungen und Normalitätsvorstellungen, Wohlfahrtsstaatsmix und staatlicher Interventionen oder Ausmaße und Kontexte von Wohnungslosigkeit, verfolgen wir keine vergleichende Perspektive. Unser Anliegen ist stattdessen, Besonderheiten der englischsprachigen Debatte zu identifizieren, die wir für die Auseinandersetzung mit junger Wohnungslosigkeit im deutschsprachigen Raum als besonders relevant erachten.

In diesem Beitrag beziehen wir uns auf längere Forschungsberichte und kürzere Fachartikel seit dem Jahr 2000, in denen Ergebnisse zum Thema Wohnungslosigkeit im Jugendalter publiziert wurden. Dabei handelt es sich erstens um Vorhaben, die einen rein quantitativen Forschungsansatz verfolgten und meist entweder Überblicksdaten generierten oder teilweise spezifische Auswertungen zu einzelnen Kategorien oder Wirkungsfaktoren vornahmen5. Zweitens beziehen wir uns auf umfassende Studien, die quantitative und qualitative Methoden kombinierten, diese stellten meist für den jeweils nationalen Fachdiskurs einen wesentlichen Kristallisationspunkt dar.6 Drittens waren für uns qualitative Forschungsprojekte von Bedeutung, die mit ihren häufig regionalen Erhebungen auf spezifische Fragestellungen und Zusammenhänge fokussierten, oftmals Verläufe in und Wege aus der Wohnungslosigkeit rekonstruierten oder Handlungs- und Bewältigungsstrategien der jungen Menschen stärker in den Blick nahmen7. Hier ist anzumerken, dass die meisten dieser zielgruppenspezifischen und stark qualitativ ausgerichteten Forschungen ihre Ergebnisse kategorisieren und quantitative Zahlen zur Verfügung stellen. Bemerkenswert erscheinen uns auch stärker partizipative Forschungsdesigns, wie sie Nell Bernstein und Lisa K. Foster (2008: 10-11) oder Stephen Gaetz und Bill O'Grady (2002: 438) verfolgten, die z. B. ehemalige wohnungslose junge Personen ins Forschungsteam einbanden, indem sie gemeinsam mit ihnen Interviewleitfäden weiterentwickelten und diese für die Interviewführung schulten. Indem die Erhebung eigenständig und nach persönlichen Kontakten der jungen Forscher_innen durchgeführt wurde, konnten nicht nur staatlich registrierte junge Menschen, sondern eben auch wohnungslose Personen, die über keine stabile Wohnadresse verfügen, in die Forschung integriert werden.

Nicht nur die Forschungsdesigns, sondern auch die theoretischen Zugänge der Autor_innen unterscheiden sich in vielfältiger Weise, sodass die fachliche Auseinandersetzung, insbesondere in den USA und Kanada, als intensiv und differenzierend, teilweise auch als polarisiert bezeichnet werden kann. Zum Teil beschreiben unterschiedliche quantitative Erhebungen durchaus gegenläufige Trends. Zudem stellt sich die Frage nach adäquaten Erhebungsmöglichkeiten des Dunkelfeldes, also nach den Möglichkeiten und Grenzen das Phänomen von Jugendwohnungslosigkeit überhaupt quantitativ ermitteln bzw. einschätzen zu können. Dabei ist die Auseinandersetzung um sozialwissenschaftliche Theoriemodelle und Typologien vielfältig, in der z. B. das Spannungsfeld von Struktur und Lebensführung der Subjekte verhandelt werden. Insbesondere stellt sich hinsichtlich allgemein anerkannter Risikofaktoren die Frage, wie tatsächlich Ausschließungsprozesse von jungen wohnungslosen Menschen über Ungleichheitskategorien (wie Bildung, Arbeit, Beruf, Wohnen, materielle Situation, Gesundheit oder Geschlecht), Sozialisationsinstanzen und soziale Bezugssysteme (wie Familie, Schule oder Peers), traumatische Ereignisse (wie Gewalt) sowie adoleszente Identitätsbildungsprozesse und Anerkennungskonflikte in ihren sozialen Beziehungen verlaufen. Die Autor_innen unterscheiden sich diesbezüglich in ihren normativen Positionen, sodass sie in ihren Fragestellungen und Schlussfolgerungen Aspekte von Abhängigkeiten und Zwängen sowie Entscheidungen und Handlungsmöglichkeiten der Subjekte anders betonen. In differierenden Einschätzungen der relativen Autonomie von jungen wohnungslosen Menschen zeigt sich dann z. B., welche Bedeutung den Eigenproblematiken und persönlichen Krisen zugeschrieben werden oder wie die Selbstwirksamkeit bzw. Handlungsfähigkeit der Betroffenen in ihrer prekären Lebenssituation eingeschätzt wird.

Um das Gesamtausmaß von junger Wohnungslosigkeit regional oder landesweit quantitativ zu bestimmen, wird meist auf staatliche Registrierungen, z. B. über kommunale Wohnbauträger, Sozialämter, Wohnungslosenhilfe oder Schulen, zurückgegriffen. Dabei ist die Festlegung von Altersgrenzen – also wer als jung und wohnungslos definiert wird – entscheidend für das Ausmaß der dokumentierten Jugendwohnungslosigkeit. Die Erfassung des Phänomens ist aber insofern unscharf, da sie u. a. von Kapazität, Form und Ausdifferenzierung des wohlfahrtsstaatlichen Angebotes, der hoch- bzw. niederschwelligen Zugänglichkeit, den Anspruchsvoraussetzungen oder dem Hilfesuchverhalten der Betroffenen abhängt. Statistiken registrierter Wohnungslosigkeit werden daher teilweise von Zählungen oder Schätzungen über sichtbare Obdachlosigkeit „auf der Straße“ ergänzt, meist gesammelt von sozialen Einrichtungen, die in der aufsuchenden Arbeit tätig sind.8 Aufgrund dieser methodischen Unschärfen und Unterschiede zwischen staatlich registrierten und im sozialen Feld ermittelten Daten kommt beispielsweise ein aktueller Bericht von Homelesswatch (2014: 7) für England zum Schluss, dass keine Entwicklungstrends von junger Wohnungslosigkeit beschreibbar sind. Zugleich werden informelle Formen des Wohnens über soziale Netze und Beziehungen in quantitativen Erhebungen oft gar nicht erfasst. Auf Basis zielgruppenspezifischer Erhebungen argumentieren viele Autor_innen, dass die verdeckte Wohnungslosigkeit um ein Vielfaches höher liegt. Dies wird beispielsweise verdeutlicht in Australiens „Counting the homeless 2006 project“, in dem zum Stichtag 84% der befragten wohnungslosen Schüler_innen angaben, vorübergehend bei Freund_innen oder Familienmitgliedern zu wohnen. (vlg. MacKenzie/Chamberlain 2008: 15)


3. Ursachen und Risikofaktoren
In der angloamerikanischen Diskussion zu Ursachen von Jugendwohnungslosigkeit stehen u. a. Fragen der Systematisierung und der Wechselwirkungen unterschiedlicher Risikofaktoren im Vordergrund. Dabei werden insbesondere familiäre Konflikte und Gewalt als Ausgangspunkt für beginnende Wohnungslosigkeit problematisiert.


3.1 Typologien
Der inzwischen umfassendere Blick auf frühe Wohnungslosigkeit führt u. a. dazu, dass ältere Kategorisierungen weitgehend vermieden werden, da Bezeichnungen wie „runaways“ und „throwaways“, die auf das Verlassen eines dysfunktionalen Familiensystems fokussieren, oder „street youth“ und „system youth“, die anhand des Aufenthalts bzw. der Integration in eine Maßnahme differenzieren, sich überlappen und statuszuschreibend sind. (vgl. Toro/Lesperance/Braciszewski 2011: 2) Die Debatte um Jugendwohnungslosigkeit im englischsprachigen Fachdiskurs ist daher vom Bemühen gekennzeichnet, komplexere Systematisierungen für das Phänomen und die damit verbundenen individuellen, relationalen und strukturellen Wechselwirkungen zu entwickeln.

Bezug nehmend auf die „life course perspective“ (Elder 1985) wird zwischen frühen familienhistorischen Kontexten, mit denen einschneidende Ereignisse und Erfahrungen gefasst werden (wie Gewalt oder Vernachlässigung), Übergängen, im Sinne temporärer Veränderungen bzw. Brüche (wie Verlust des familiären Wohnraums, Schulwechsel oder Fremdunterbringung durch die Jugendhilfe) sowie Pfaden, mit denen die längerfristigen Entwicklungsverläufe und sozialen Strukturierungen von junger Wohnungslosigkeit bezeichnet werden, unterschieden. So verbinden sich beispielsweise frühkindliche Gewalterfahrungen, der Verlust des Elternhauses sowie zahlreiche Brüche der Wohn- bzw. Unterbringungssituation, rahmen die Lebensführung der jungen Betroffenen und begrenzen häufig ihre Möglichkeiten eines gelingenden Übergangs ins Erwachsenenalter. (vgl. Tyler/Schmitz 2013: 1720)

Für einen schärferen Blick auf die Bedürfnisse und Herausforderungen, mit denen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen konfrontiert sind, haben Paul A. Toro, Tegan M. Lesperance und Jordan M. Braciszewski (2011: 5-6) aus empirischen Daten von 250 jungen und wohnungslosen Befragten eine Typologie entwickelt, die laut Stephen Gaetz (2014: 15) für diverse Ursachen und vielfältige Erfahrungen offen bleibt, Häufigkeiten und Dauer von Wohnungslosigkeit integriert sowie Bedarfe, informelle Unterstützungen und „the risks of becoming chronically homeless“ mitformuliert. Dementsprechend wird häufig nach drei Risikogruppen differenziert, die je nach Ansatz auch soziale Beziehungen – z. B. zu Familie, Schule oder Wohnumfeld – berücksichtigen.9 Die NAEH (National Alliance to End Homelessness) verknüpfte diesbezüglich einzelne Kategorien mit US-amerikanischen Datensätzen des „Ministry of Justice“ und des „Department of Housing and Urban Development“ und kam zu folgenden Schlüssen: 86% der unter 18-Jährigen und 81% der 18- bis 24-Jährigen können der Gruppe der „Low Risk – Temporarily Disconnected“ zugeordnet werden; 8% der unter 18-Jährigen und 9% der 18- bis 24-Jährigen sind der Gruppe der „Transient – Unstably Connected“ zuzurechnen und 6% der unter 18-Jährigen und 10% der 18- bis 24-Jährigen fallen in die Gruppe der „High Risk – Chronically Disconnected“. (NAEH 2012: 1-2) Letztere sind diejenigen mit den komplexesten Bedarfslagen, den instabilsten sozialen Beziehungen und der größten Angewiesenheit auf sozialstaatliche Ressourcen mit umfassenden, meist längerfristigen Unterstützungsleistungen. (vgl. Gaetz 2014: 16)


3.2 Familiäre Konflikte
In der Diskussion um Wohnungslosigkeit im Jugendalter wird eine instabile, dysfunktionale, konflikthafte und überwiegend gewaltvolle Familiensituation oft als zentrale Ursache und Ausgangspunkt für das frühe Verlassen des Zuhauses genannt. Kimberly A. Tyler und Rachel M. Schmitz (2013: 1722) eruierten beispielsweise in ihrer qualitativen Studie mit 40 Interviewpartner_innen, dass fast alle Befragten von Kindesmisshandlungen betroffen waren – ein Drittel berichteten von sexueller Gewalt und fast vier Fünftel von anderen Formen physischer Gewalt; häufig wurden die Befragten auch Zeugen häuslicher Gewalt gegenüber anderen Familienmitgliedern.

In der Literatur wird der familienhistorische Kontext auch hinsichtlich des Alkohol- und Drogenkonsums von Familienmitgliedern als Risikofaktor problematisiert. Tyler und Schmitz (2013: 1722) weisen darauf hin, dass spätere Konsummuster der Kinder teilweise als weitgehend normalisiertes Verhalten in familiären Bezügen (auch bei Pflegeeltern) erlernt werden. Demgegenüber steht zum Teil der durchaus bewusste und funktionale Einsatz von Alkohol und Drogen bei Jugendlichen/jungen Erwachsenen, der oft mit der Intention verbunden ist, belastenden familiären Erfahrungen zu entfliehen.10

Abseits dieser bekannten Risikofaktoren weisen Autor_innen zunehmend darauf hin, dass ein offener Umgang mit homosexueller Orientierung oder anderen Gender-Identitäten in der Adoleszenzphase mit heteronormativen und heterosexuellen Vorstellungen im Familiensystem in Konflikt gerät und demnach als mögliche Auslöser für Jugendwohnungslosigkeit zu sehen sind. Der Anteil von jungen Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder queer identifizieren, ist unter jungen, wohnungslosen Personen deutlich überrepräsentiert: Je nach Erhebung und Stadt-Land-Disparitäten liegt ihr Anteil meist zwischen 20% bis 50% (vgl. Durso/Gates 2012: 3-5, Cray/Miller/Durso 2013: 5-6, Cunningham et al. 2014: 1), während der Anteil von LGBTQ innerhalb der jungen Bevölkerung der USA meist auf 5% bis 10% geschätzt wird.11 Argumentiert wird, dass aufgrund steigender gesellschaftlicher Akzeptanz Coming-outs heutzutage früher stattfinden, aber viele der Jugendlichen in ihrer sexuellen Orientierung oder Gender-Identität familiär zurückgewiesen werden. Diese Nichtanerkennung manifestiert sich dann als grundlegender Familienkonflikt und ist häufig mit innerfamiliären Ausgrenzungen und Diskriminierungen verbunden – oft durch das Wohn- und Schulumfeld verstärkt. Diese familiäre Ablehnung beispielsweise wird von der Hälfte der Befragten LGBTQ-youth (und damit am häufigsten) als wesentlicher Grund für ihre Wohnungslosigkeit genannt. (vgl. Durso/Gates 2012: 9-12)

In ihrer Studie zu LGB-youth befragten Margaret Rosario, Eric W. Schrimshaw und Joyce Hunter (2012) LGB-Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, die nicht über Wohnungsloseneinrichtungen, sondern über College-Organisationen und selbstorganisierte Gruppen beteiligt wurden. Knapp die Hälfte der Jugendlichen berichten von Phasen der Wohnungslosigkeit bereits in jungen Jahren (durchschnittlich mit 14). Ein hoher Anteil der wohnungslosen LGB-Jugendlichen (61%) erfuhr bereits vor dem 13. Lebensjahr sexuelle Gewalt, womit sie unter jungen Wohnungslosen als besonders vulnerabel gelten müssen. Auch ein früherer Alkohol- und Drogenkonsum als in der Vergleichsgruppe ist zu verzeichnen, die Autor_innen verorten dieses Verhalten aber als Bewältigungsstrategie, die meist erst mit der erstmaligen Wohnungslosigkeit einsetzt. (vgl. Rosario/Schrimshaw/Hunter 2012: 188-191) Mary Cunningham (2014: 1) und andere kommen daher zu dem Schluss, dass

„LGBTQ youths experiencing homelessness face additional obstacles their straight peers may not face, including insensitivity, prejudice, discrimination, and mistreatment from the crisis response system (e.g., foster parents, social workers, shelter staff) geared toward homeless youths (Durso and Gates 2012)“.


4. Lebensführung und Bewältigungspraxen in der Wohnungslosigkeit
Wohnungslos und konfrontiert mit vielfältigen Problemlagen adaptieren Jugendliche ihre Lebensführung und entwickeln Strategien, um die besonderen Herausforderungen zu bewältigen. Das Fehlen stabiler und sicherer Wohnformen, ein hohes Mobilitätsverhalten, informelle Arbeit, Dynamiken sozialer Gruppenbildung und Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit sind einige Charakteristika, die wir im Folgenden skizzieren möchten.


4.1 Ungesicherte Wohnsituationen
Der Fokus auf die Übergänge im Leben von jungen wohnungslosen Menschen macht deutlich, dass insbesondere der häufige Wechsel von Wohnsituationen mit einem zunehmenden Verlust sozialer Beziehungen und Ressourcen einhergeht. Diese Phase einer wenig sichtbaren Wohnungslosigkeit, indem Betroffene beispielsweise zwischen familiärem Zuhause, zeitlich befristeten privaten Wohnformen, Obdachlosigkeit und Notschlafquartieren pendeln, werden meist durch Fachkräfte Sozialer Arbeit wie auch Feldforscher_innen erst durch die nachträgliche Rekonstruktion erkennbar, wobei zwischen 10 und 20 unterschiedliche Wohnsituationen in einem ein- bis zweijährigen Zeitraum nicht unüblich sind. (vgl. Tyler/Schmitz 2013: 1723) Hierbei zeigt sich auch ein eindeutiger Zusammenhang von junger Wohnungslosigkeit und Jugendhilfemaßnahmen. Für die USA wird z. B. davon ausgegangen, dass rund ein Viertel bis ein Drittel der Adressat_innen nach Ablauf der Jugendhilfemaßnahmen kurz- oder längerfristig wohnungslos werden, wobei u. a. instabile und wechselnde Unterbringungssituationen der Adressat_innen während der Maßnahme sowie fehlende Begleitung und Unterstützung beim Übergang in eigenständigere Wohnformen eine wesentliche Rolle spielen. (vgl. Dworsky/Napolitano/Coutney 2013: 318-320) Verfügen über kontinuierlich gesicherten Wohnraum stellt für die gesundheitliche und materielle Stabilisierung der Betroffenen einen zentralen Einflussfaktor dar, wie Tessa Cheng und andere (2013) anhand einer Erhebung unter 685 wohnungslosen und Drogen konsumierenden Kanadier_innen nachweisen.

Pauline McLoughlin (2013) beschäftigte sich diesbezüglich eingehend mit dem Phänomen des sogenannten „Couch-Surfing“, also des Übernachtens bei Freund_innen oder Bekannten. Couch-Surfing ist ihrer Forschung zufolge nicht nur als eine Form verdeckter Wohnungslosigkeit anzusehen, sondern muss vielmehr als eine ständige Neuverhandlung eines „Zuhauses“ zwischen Unterschlupf, Unterstützung und Sicherheit verstanden werden. Zumeist reiht sich diese Form der Unterbringung ein in einen chaotischen Wechsel zwischen Notschlafstätte, Straße, (Unter-)Miete, Inhaftierung und Hospitalisierung, dies für einige Tage oder über längere Zeit hinweg. (vgl. McLoughlin 2013: 524, 525) Mangel an Alternativen für junge Wohnungslose wurde von den befragten Jugendlichen als wichtigster Grund genannt, diese vorübergehende, prekäre Wohnform zu wählen, beispielsweise aufgrund begrenzter Aufenthaltszeit oder restriktiver Hausordnungen in Notschlafstellen. Oft ist aber auch die Möglichkeit des Couch-Surfens schnell ausgereizt: Zweckbeziehungen, Abhängigkeiten, Konflikte, räumliche Enge oder unsichere Aufenthaltsdauer führen rasch zu psychischer Belastung für die Jugendlichen. Befragte Jugendarbeiter_innen sahen darin dennoch eine bedeutende Bewältigungsstrategie, die Jugendlichen vorübergehend Schutz bietet, also als ein Zeichen des relativen „Zurechtkommens“ im Vergleich zu denen, die dauerhaft auf der Straße leben. (vgl. McLoughlin 2013: 530-532, 539-540)


4.2 Mobilitätsverhalten in der Wohnungslosigkeit
Im US-amerikanischen Kontext haben Kristin Ferguson, Kimberly Bender und Sanna J. Thompson (2014) Mobilität über Ländergrenzen hinweg als mögliche Bewältigungsstrategie von wohnungslosen Jugendlichen beforscht. Diese können durch ihren geografisch unsteten Lebenswandel schwieriger auf staatliche und familiäre Hilfesysteme zurückgreifen und weisen dementsprechend ein erhöhtes Rückgreifen auf illegale Einkommensquellen auf, die direkt und unabhängig vom Aufenthaltsort angewandt werden können. Zugleich wird bei den mobilen Jugendlichen auch erhöhte Resilienz wahrgenommen – Jugendliche „traveler“ passen sich mit jedem Ortswechsel aufs Neue den Gegebenheiten an, ein hohes Maß an Selbstständigkeit ist gefordert. Befragte Jugendliche erzählten einerseits von der Flucht vor Bandenkriegen oder Polizei, aber auch vom bewussten Abstand von negativen Einflüssen und der stärkenden Erfahrung der Mobilität:

„I’ve basically been all over the United States. So, I feel that it taught me a lot. Like, I’m more smart and if I do end up like, having to be on my own, I know what I need to do.“ (Ferguson et al. 2014: 231-232)

Oft bedeutet die Mobilität also den Ausstieg aus Missbrauch, familiärer Armut, Drogenkonsum oder Gewalt auf der Straße, und markiert einen Wendepunkt: Der/die Jugendliche wird laut Ferguson, Bender und Thompson zum/r Akteur_in des eigenen Lebens und sichert das eigene Überleben. (vgl. Ferguson et al. 2014: 214-215, 230-234; siehe für Kanada z. B. Baker Collins 2013)

In der Auseinandersetzung mit der Mobilität ist im Besonderen auf die Situation von LGBTQ-Jugendlichen einzugehen, die wie oben erwähnt in Wohnungslosigkeitsstatistiken deutlich überrepräsentiert sind. Bezug nehmend auf Kanada schildert Ilona Alex Abramovich (2013), dass LGBTQ-Jugendliche durch fehlende oder unpassende familiäre und institutionelle Unterstützung zur Mobilität gezwungen sind. Einerseits verlassen die Jugendlichen ländliche oder kleinstädtische Gegenden in Richtung größerer Städte, um dort in (vermeintlich) toleranterem Umfeld auf gleichgesinnte Jugendliche zu treffen. Andererseits ist ihr Leben auch in der Stadt von einem „Kommen und Gehen“ zwischen der Straße und verschiedenen Notschlafstellen geprägt, wo sie häufig homophoben und transphoben Übergriffen ausgesetzt sind. Spezielle und Sicherheit bietende Angebote, wie beispielsweise Outreach, Notschlafstellen oder Tageszentren für obdachlose LGBTQ-Jugendliche, fehlen meist12, wenngleich ihr Gesundheitszustand im Vergleich zu anderen Gruppen als besonders beeinträchtigt eingestuft wird (vgl. Keuroghlian/Shtasel 2014, Abramovich 2012: 31-38).

Die hier beschriebene hohe Mobilität der jungen, wohnungslosen Menschen innerhalb der Stadt ist dabei als generelle Bewältigungsstrategie bei zunehmend eingeschränktem städtischen Lebensraum zu verstehen. Je nach Zweck und Bedürfnissen finden sie sich in entsprechenden urbanen Räumen ein – sei es, weil diese Sicherheit und Schutz gewähren, zur Unterhaltung oder zum Wirtschaften beitragen oder um Ressourcen zu erlangen. Dass diese Räume keineswegs frei wählbar oder zugänglich bleiben, wird von Jaqueline Kennelly und Paul Watt (2011: 771, 775) in einer länderübergreifenden Studie der Straßenszene in Vancouver und London dargestellt – mit Fokus auf die im Wandel begriffenen ökonomischen Interessen vor und während der Austragung der olympischen Spiele. Befragte Jugendliche berichteten vom verstärkten Durchgreifen der Exekutive an innerstädtischen Plätzen, die vormals Treffpunkte der Jugendlichen waren, während sie sich wiederum in städtischen Randvierteln, fern von Blicken der kaufkräftigen Konsument_innen, weiterhin unbehelligt aufhalten konnten. Ähnliche Auswirkungen von Sicherheits- und Ordnungspolitiken schildert Kristina Gibson (2011) für New York.


4.3 Armut und informelle Arbeit in der Street economy
Mit „Street economy“ als Überbegriff werden in der angloamerikanischen Diskussion meist all jene Handlungen beschrieben, die wohnungslosen Menschen auf informelle Art zu Einkommen oder Nahrungsmitteln verhelfen. Interviewte Jugendliche beschrieben in einer US-amerikanischen Studie von Marya Viorst Gwadz et al. (2009), dass das Wissen über diese Praktiken oft schon durch das Aufwachsen in ärmlichen Familiensituationen oder in einer sozioökonomisch schwächeren Wohngegend gesammelt wurde. Der reguläre Arbeitsmarkt wirkt außer Reichweite, während informelle, oft illegale Praktiken durch das soziale Umfeld als zielführend erfahren werden. In der Konfrontation mit diesen Verdienstquellen über Jahre hinweg wurden also Handlungsmuster erlernt, auf die Jugendliche später zurückgreifen. Laut Gwadz et al. verfestigt sich dies wiederum dadurch, dass die Jugendlichen durch formale Hürden – keine fixe Adresse, unzureichendes Bildungsniveau, psychische Erkrankungen, Zugehörigkeit zu einer Minderheit – oft von legalen Verdienstmöglichkeiten ausgeschlossen sind, beziehungsweise einen Job am formalen Arbeitsmarkt nicht lange halten können. (vgl. Gwadz et al. 2009: 367-368)

Exemplarische Auflistungen verschiedener Einkommensquellen von Stephen Gaetz und Bill O'Grady bzw. Jeff Karabanov vereinen sowohl legale, als auch illegale Praktiken, die wiederum von der Gesellschaft unterschiedlich bewertet werden: Schwarzarbeit auf Baustellen oder als Babysitter, Betteln, Putzen von Windschutzscheiben, Straßenprostitution, Diebstähle, Drogenhandel, Ausborgen von Geld im sozialen Umfeld etc. (vgl. Gaetz et al. 2002: 439-442, Karabanov 2010: 41-42) Bemerkenswert ist dabei, dass solche Praktiken jenseits einer Dichotomie „Arbeitend – Arbeitslos“ zu betrachten sind, und vielmehr fordern, den Blick auf die Vielfalt an Aktivitäten in der „Street economy“ zu weiten. Ungeachtet gesellschaftlicher Vorurteile ist zum Überleben auf der Straße ein hohes Maß an Aktivität und Eigenverantwortung seitens der Jugendlichen nötig, also eine hohe „Arbeitsmoral“. Befragte Jugendliche schilderten außerdem einen „Code of Ethics“, der das Arbeitsfeld regulierend und strukturierend beeinflusst. Genannt wurden beispielsweise Respekt und Solidarität gegenüber anderen wohnungslosen Jugendlichen, beziehungsweise das Zuteilen von Arbeitsgebieten. (vgl. Gaetz et al. 2002: 448, 451; Karabanov 2010: 51-52, Bender et al 2007: 37-38)


4.4 Soziale Gruppenbildung in der Wohnungslosigkeit
Soziale Gruppenbildung in der Adoleszenz erfährt im Kontext junger Wohnungslosigkeit maßgebliche Erweiterungen, da diese nicht überwiegend entlang verbreiteter jugendkultureller Muster und Lebensstile verläuft. Abseits von Freundschaft und geteilten Interessen entsteht bei Gruppen von wohnungslosen Jugendlichen ein übergeordnetes, verbindendes Element, geprägt durch die prekäre Lebenssituation und die Herausforderungen des Alltags auf der Straße. Drogen- und Alkoholkonsum, Armut, Erfahrungen von Diskriminierung und Marginalisierung oder (oft illegale) Überlebenstaktiken sind Bestandteil dieser Lebensführung. Von informellen, oft zeitlich begrenzten Zusammenschlüssen erwarten sich wohnungslose Jugendliche gegenseitige Unterstützung, Schutz und gemeinsames Organisieren von Nahrung, beziehungsweise allgemein das Teilen von Ressourcen. (vgl. Smith 2008: 758-759, Karabanov 2010: 50-52) Dieser andere und von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen abweichende Alltag wird aufgrund kontinuierlicher Ausgrenzungserfahrungen in ambivalenter Weise als lebensnotwendig bzw. bestärkend als auch als stigmatisierend und entmächtigend erfahren (siehe z. B. auch Kidd 2007, Farrugia 2011).

Das soziale Konstrukt Familie scheint in Hilary Smiths (2008) Befragungen jüngerer obdachloser Jugendlicher (bis 18 Jahre) als wichtigster Bezugspunkt zu solchen peer groups auf. Oft werden innerhalb der Gruppe familiäre „Identitäten“ eingenommen, so zum Beispiel die Rollen der Eltern oder Geschwister. Aus einer Gender-Perspektive reproduzieren sich häufig hetero-normative Familienstrukturen, indem männliche Jugendliche verstärkt die Sicherheit der Gruppe gewährleisten, während weibliche Jugendliche Lebensmittel beschaffen oder emotionale Unterstützung bieten, beispielsweise durch schlichtendes Eingreifen bei Streit und Konflikten in der Gruppe. Hier sind die Grenzen zu emotionalen und sexuellen Handlungen fließend, viele junge obdachlose Frauen berichteten von sexuellen „Vereinbarungen“ mit den männlichen Mitgliedern der Gruppe. (vgl. Smith 2008: 762-767, Watson 2011: 646) Die Zugehörigkeit zur vermeintlich Schutz bietenden „Street family“ kann für Jugendliche auch mit Gefahren verbunden sein; beispielweise durch sexuelle Ausbeutung der weiblichen Mitglieder: Wissenschaftlich oft als „Survival Sex“ bezeichnet, sind diese Handlungen – ob implizit oder explizit gefordert – in einem komplexen Zusammenspiel an Beweggründen anzuordnen. Juliet Watsons Befragungen betroffener junger Frauen werfen ein breites Spektrum auf: Sexuelle Handlungen mit verschiedenen Männern passieren häufiger im Falle von Drogenabhängigkeit der Frauen oder mangels Rückhalt zu Beginn der Wohnungslosigkeit z. B. als Gegenleistung für Drogen, materielle Unterstützung oder Unterkunft. Diese Handlungen sind oft mit Nötigung und starker psychischer Belastung verbunden. Um dem zu entgehen, ermöglicht das Eingehen von fixen Beziehungen manchen jungen Frauen zumindest Schutz durch den Partner oder das (vorübergehende) Verlassen der Straße, so dieser Partner eine Unterkunft bieten kann. Andere interviewte Frauen betonten zusätzlich das Bedürfnis nach Intimität und emotionaler Stabilität und beschreiben ihre Beziehungen in Narrativen von Liebe/Romantik. (vgl. Watson 2011: 644-652)


4.5 Psychische Gesundheit und Suizidalität
Das Leben auf der Straße ist mit bedeutenden psychischen Belastungen verbunden. Einsamkeit, mangelnder Selbstwert, Hoffnungslosigkeit, Stress und Unglücklich-Sein waren Begriffe, die von Michelle O'Reilly, Helen Taylor und Panos Vostanis (2009) befragte Jugendliche mit mangelnder psychischer Gesundheit assoziiert wurden. Kam die Rede allerdings auf die eigene Gesundheit, war eine starke Ablehnung der Thematik bemerkbar. Auch dominierten im sprachlichen Gebrauch stigmatisierende Begriffe wie „nuts“, „schiz“ oder „psycho“, um psychisch kranke Bekannte zu beschreiben. (vgl. O'Reilly et al. 2009: 1741) Als Ergebnis der Befragungen identifizieren O'Reilly et al. vier Kernthemen, und zwar einerseits das Leugnen eigener psychischer Probleme und die negative Auffassung psychischer Erkrankungen und andererseits die Bedeutung eines/r Gesprächspartner_in und das Infragestellen der eigenen Vorurteile – etwa infolge einer Inanspruchnahme von Therapie. (vgl. O'Reilly et al. 2009: 1739-1742) Denn meist siegt schließlich das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, über die Angst, von Peers diskriminiert zu werden. So beschrieben befragte Therapeut_innen in Drop-in-Tageszentren, dass – nach anfänglicher Ablehnung niederschwelliger psychologischer Beratung – freie Gesprächstermine unter den Jugendlichen regelrecht „erkämpft“ werden mussten. Einige Jugendliche betonten jedoch die Wichtigkeit, solche Angebote möglichst neutral und zuschreibungsfrei zu benennen und sprachen sich beispielsweise gegen die stigmatisierende Bezeichnung „mental health coordinator“ aus. (vgl. O'Reilly 2009: 1742-1743)

In einer qualitativen Studie beschäftigte sich Sean Kidd (Kidd 2004) mit Suizidalität unter wohnungslosen Jugendlichen – ausschlaggebend waren empirische Studien, in denen Suizid als häufigste Todesursache unter diesen aufschien. Kidd beforschte mögliche Gründe dafür, und identifizierte als zentralen Aspekt das ohnmächtige Gefühl, in der Wohnungslosigkeit „gefangen“ zu sein. Damit verbunden beschrieben die Jugendlichen Gefühle von Hilflosigkeit, Einsamkeit, Wertlosigkeit und die Belastung durch Gewalterfahrungen und Substanzabhängigkeit. Angesichts dieser scheinbar ausweglosen Situation verfallen viele Jugendliche in eine oft selbstzerstörerische Gleichgültigkeit, die von manchen als passive Art des Selbstmords bezeichnet wurde. (vgl. Kidd 2006: 396)

In einer quantitativen Folgestudie gaben von 208 befragten Jugendlichen 46% an, in ihrem Leben bereits einen Selbstmordversuch unternommen zu haben, 78% sogar mehr als einen. Kidd untersuchte im Besonderen den Zusammenhang zwischen Drogenkonsum, traumatischer Vergangenheit, Einsamkeit, negativem Selbstbild und Hoffnungslosigkeit und die sich daraus ergebende Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordversuchs. (vgl. ebd.: 402-405) Das schon in der qualitativen Studie primär genannte Gefühl der Hoffnungslosigkeit, des „Gefangenseins“ steht auch in den quantitativen Ergebnissen in klarem Zusammenhang zur Suizidalität. Dieses Gefühl wird durch Leben auf der Straße verstärkt, und die Wahrnehmung ist geprägt von einem Mangel an Selbstwirksamkeit und Kontrolle über die eigenen Belange. Kidd benennt folglich vor allem jene Hilfestellungen als sinnvoll, die den Jugendlichen Gemeinschaft, Selbstwirksamkeit und Selbstwert vermitteln. (vgl. ebd.: 416-417)


5. Forschungsperspektiven für das Feld der Wohnungslosigkeit im Jugendalter
Der Blick auf den englischsprachigen, respektive angloamerikanischen, Fachdiskurs bietet vielfältige Anregungen, die vernachlässigte Forschung zur Jugendwohnungslosigkeit zu intensivieren. Der Mangel an bundesländerübergreifenden, quantitativen Überblicksdaten zu registrierter Wohnungslosigkeit macht zunächst deutlich, dass keine Entwicklungstrends für Österreich beschrieben werden können. Erhebungen in Kanada, den USA oder Australien weisen darauf hin, dass zudem komplexe Designs entwickelt werden müssen, um sich dem Phänomen angemessen annähern zu können: Die Kombination von sektorenübergreifenden Zählungen der staatlichen Stellen und Sozialversicherungsträger, Daten sozialer und niederschwelliger Anlaufstellen, Erhebungen in öffentlichen Räumen und die zielgruppennahe Rekonstruktion von verdeckter Wohnungslosigkeit sind wesentlich, um das Phänomen quantitativ in unterschiedlichen Dimensionen und im zeitlichen Verlauf einschätzen zu können.

Um die komplexen Wechselwirkungen der Ursachen von Wohnungslosigkeit im Jugendalter zu verstehen und die Verwobenheit von biografischen Ereignissen, vielfältigen Brüchen und strukturierenden Pfaden analysieren zu können, sind qualitative und rekonstruktive Forschungsansätze unverzichtbar. Gerade aus den individuellen Verläufen in die Wohnungslosigkeit und aus dieser heraus lassen sich u. a. Bedarfslagen und Bewältigungsstrategien der Betroffenen, soziale Ausgrenzungsdynamiken oder Selektivitäten des Hilfesystems ebenso erfassen wie Muster gelingender Lebensführung und produktiver Unterstützungsleistungen. Dabei scheint es wesentlich, den Forschungsfokus nicht ausschließlich auf die High Risk Group – Chronically Disconnected Group zu legen, die aufgrund ihrer manifesten Ausgrenzungssituation als Adressat_innen Sozialer Arbeit häufig sichtbar werden, sondern auch Lebenswege der vielen anderen wohnungslosen Personen in ihren de- und restabilisierenden Erfahrungen zu begreifen.

Die zahlreichen, von uns rezipierten Beiträge zeigen auch, dass themenspezifische und adressat_innenorientierte Forschungsperspektiven besonders innovative Erkenntnisse generieren. Erst ein geschlechterkritischer und genderreflexiver Fokus hat die Situation von LGBTQ-youth als besonders vulnerable Gruppe belegen können. Der Blick auf das Mobilitätsverhalten der jungen Menschen hat zudem wesentlich dazu beigetragen, Stadt-Land-Relationen oder urbane Ordnungspolitiken als Strukturierungsrahmen von junger Wohnungslosigkeit zu verstehen. Zudem scheinen erst interdisziplinäre Studien zur Gesundheitssituation der Betroffenen genauere Differenzierungen treffen zu können, ob und wie psychische Belastungen vor und während der Wohnungslosigkeit miteinander in Wechselwirkung stehen. Gerade für eine adressat_innenorientierte Forschung scheinen aktionsforschende Ansätze, partizipative Forschungsdesigns oder gemeinsame Reflexionselemente von Forschungsergebnissen innovativ, um prekarisierte Lebensführungen abseits gesellschaftlicher Normalitäten verstehen und nachvollziehen zu können.

In unserer Auseinandersetzung sind u. a. folgende relevante Forschungsthemen sichtbar geworden: Quantitative Erhebungen zum Ausmaß von Jugendwohnungslosigkeit nach unterschiedlichen Risikogruppen; die Analyse der Dynamiken und Wechselwirkungen von Ursachen und Risikofaktoren in den biografischen Verläufen von Jugendlichen; die Identifikation von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wohn- und Betreuungssituation; das Erfassen vielfältiger Bewältigungsstrategien und Bedarfslagen in den unterschiedlichen Phasen der Wohnungslosigkeit; das Verstehen von Mustern der Hilfeannahme im Jugendalter; das Erforschen von Interaktionen zwischen Adressat_innen und Fachpersonal in unterschiedlichen Settings; Erhebungen zur Situation besonders vulnerabler Gruppen; die Analyse kommunaler Angebote mit Blick auf niederschwelligen Zugang zu Infrastruktur und Hilfen; Untersuchungen von begleitenden Maßnahmen, insbesondere bei Übergängen in eigenständigere und stabilere Wohnformen; das Identifizieren von Selektivitäten und sektoralen Schnittstellenproblemen sozialstaatlicher Angebote.

Die Praxis Sozialer Arbeit ist in vielen Handlungsfeldern in relativer Nähe zu Lebenssituationen junger, wohnungsloser Menschen positioniert. Das sozialarbeitswissenschaftliche Erfassen von Problem- und Bedarfslagen sowie das Entwickeln adaptierter oder spezifischer Angebote für vulnerable Adressat_innengruppen kann insofern als ein disziplinäres und professionstheoretisches Projekt betrachtet werden. Mit Blick auf die angloamerikanische Fachdebatte bleibt zu hoffen, dass staatliche Stellen und sozialpolitische Akteur_innen in Österreich Verantwortung übernehmen, das große Dunkelfeld der Wohnungslosigkeit im Jugendalter zu erhellen. Auf Basis einer intensivierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden wichtige Impulse zur Adaptierung des sozialstaatlichen Hilfesystems gesetzt und Sozialplanungen kommen in die Position, bessere bedarfsorientierte und präventive Angebote für dieses Feld zu entwickeln.


Verweise
1 Siehe hierzu: Bodenmüller/Piepel 2003, Bozenhardt/Lindenthal 2002, Dücker 2001, Flick/Röhnsch 2008, Hansbauer 2000, Landesstiftung Baden-Württemberg 2006, Mücher 2010, Napolitano 2005, Romahn 2000, Steckelberg 2010, Thomas 2005.
2 Beispielsweise werden obdachlose Jugendliche in der Forschung auch als „street-involved youth“ oder „runaway youth“ bezeichnet, oder wird verdeckte Obdachlosigkeit auch unter dem Begriff „Couchsurfing“ behandelt.
3 Für Kanada siehe z. B. „The Homelessness Hub“ vom Canadian Observatory on Homelessness (COH) www.homelesshub.ca
4 Aufgrund unserer leitenden Kategorien wurden Forschungsberichte, die etwa einen vorwiegend medizinischen/psychiatrischen oder kriminologischen Fokus aufwiesen, ausgeschieden.
5 Siehe: Durso/Gates 2012, Dworsky et al. 2013, Kidd 2006, MacKenzie/Chamberlain 2008, Rosario et al. 2012.
6 Für die USA siehe: Bernstein/Foster 2008, Ferguson et al. 2014, Gwadz et al. 2009; für Kanada siehe: Gaetz/O'Grady 2002.
7 Siehe: Abramovich 2013, Farrugia 2011, Gibson 2011, Karabanov et al. 2010, Kennelly/Watt 2011, Kidd 2004, McLoughlin 2013, O'Reilly et al. 2009, Smith 2008, Tyler/Schmitz 2013, Watson 2011.
8 Auch die hier beschriebenen empirischen Forschungen weisen zum Großteil sehr breite Altersbegrenzungen auf, die sich am Übergang von Adoleszenz zum Erwachsenenalter (emerging adulthood) orientieren und meist zwischen 15 und 25 Jahren liegen. Unter den so erfassten wohnungslosen Jugendlichen finden sich also rechtlich minderjährige und volljährige Personen.
9 Bezugnehmend auf Toro et al. (2011: 5-6), Gaetz (2014: 16) und die NAEH (2012: 1-2) können die Gruppen in Relation zueinander folgendermaßen charakterisiert werden:
Personen der “Low-risk – Temporarily Disconnected Group“ sind tendeziell jünger, sind nicht so häufig und weitreichend von Wohnungslosigkeit betroffen, verfügen über stabilere Beziehungen (insb. in familiären Bezügen), verbleiben häufig im Schulsystem und ihr Gesundheitszustand sowie ihre Lebensführung sind weniger stark von riskantem Gesundheitsverhalten gekennzeichnet.
Personen in der „Transient – Unstably Connected Group“ sind durch diskontinuierliche und instabile Wohnverhältnisse sowie Brüche in der schulischen Sozialisation stark beeinträchtigt; zugleich verfügen sie aber über weitgehend kohärente soziale Beziehungen, auch familiär; ein prekärer Gesundheitszustand und Suchtproblematiken sind weniger präsent.
Personen in der „High Risk – Chronically Disconnected Group“ sind oft wiederkehrend und längerfristig von Episoden der Wohnungslosigkeit betroffen; sie haben häufiger familiäre Gewalt erfahren, ihr psychischer und physischer Gesundheitszustand ist stärker beeinträchtigt; im Vergleich zu den anderen Gruppen stellen sich ihre sozialen Beziehungen (insb. zur Familie) am instabilsten dar und auch der Schulbesuch ist meist unterbrochen.
10 Zum Zusammenspiel von Familienkonflikten und Drogenkonsum differenzieren Shelley Mallett, Doreen Rosenthal und Deborah Keys (2005: 185) anhand ihrer Befragung von 302 jungen, wohnungslosen Australier_innen folgendermaßen:
„One-third of the participants indicated that personal or familial drug use was a critical factor in them leaving home. Of these, just over half indicated that personal drug use was a direct or indirect cause of their homelessness and one-quarter indicated that familial drug and alcohol use was the critical factor that led them to leaving home. One-quarter indicated that their drug use only began after they became homeless. Family conflict, if not family breakdown, was implicated in all four pathways out of home.“
11 In Kanada wird der Anteil von LGBTQ-youth, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, zwischen 20% bis 40% geschätzt. Siehe http://www.homelesshub.ca/solutions/population-specific/lesbian-gay-bisexual-transgender-transsexual-queer-questioning-and-2 (09.02.2014), bzw. Abramovich 2013: 387.
12 Abramovich (2013: 389-391, 396) nennt als innovatives Beispiel das – nach einem ermordeten Transgender-Jugendlichen benannte – Ali Forney Center in New York City. LGBTQ-Jugendliche können dort zahlreiche Angebote nutzen (beispielsweise ein Drop-In-Center, Notschlafstätten und Übergangs-Wohngemeinschaften) oder auch einen 6-monatigen Lehrgang besuchen. Siehe dazu: http://www.aliforneycenter.org/programs/ (16.02.2015)


Literatur

Englischsprachige Literatur

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Über die AutorInnen

FH-Prof. Dr. Marc Diebäcker
marc.diebaecker@fh-campuswien.ac.at

Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialen Arbeit in Duisburg, Edinburgh und Wien. Lehrt, forscht und publiziert am Fachbereich Soziale Arbeit an der FH Campus Wien zu Staat, Sozialpolitik, Sozialraum und Soziale Arbeit.

Anna Voggeneder, BA
anna@voggeneder.net

Studium der Sozialen Arbeit in Wien. Derzeit tätig als Unterstützerin im Selbstvertretungszentrum für Menschen mit Lernschwierigkeiten im WUK – Werkstätten und Kulturhaus. Schwerpunkte: Bedeutung der „Restorative Justice“ im Strafrecht, Stadt- und Regionalentwicklung, inklusive Forschung und Rechte von Menschen mit Behinderungen.