soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 1 (2008) / Rubrik "Nachbarschaft" / Standortredaktion Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/39/34.pdf


Hermann Denz (1949 - 2008):

Konfliktgesellschaft und Sozialsystem - Widersprüche, Verwerfungen, Bruchlinien1

Eine Gesellschaftsanalyse zum Beginn des 21. Jahrhunderts


0. Abschied von Hermann Denz (Vorwort von Frederic Fredersdorf)
Mit diesem Artikel verabschiedet sich Hermann Denz von uns.

Als international anerkannter Soziologe, geschätzter Kollege und Freund, geliebter Partner und geliebtes Familienmitglied schenkte uns Hermann Denz einen reichhaltigen intellektuellen Nachlass, den wir nicht nur verbreiten dürfen sondern auch guten fachlichen Gewissens verbreiten sollten. Auf einer persönlichen Ebene spricht hierfür die Nähe vieler österreichischer Kolleginnen und Kollegen zu einem Fachmann und Menschen, der ihnen trefflicher Mentor, Doktorvater, Diskussionspartner und Ratgeber in Fragen theoretischer und empirischer sozialwissenschaftlicher Arbeit ebenso gewesen ist wie in Fragen von Studiengangs- und Fachbereichsentwicklungen. Auf einer fachlichen Ebene sprechen hierfür seine empirischen Diagnosen, die er - wie im hier präsentierten gesellschaftstheoretischen Ansatz - stets stringent mit Aspekten von Lebenswelt(en) und Sozialpolitik zu verknüpfen vermochte.

Die fachlichen Schwerpunkte von Hermann Denz beliefen sich auf Fragen zur gesellschaftlichen Integration, z.B. in den Themenbereichen Sozialkapital, Netzwerke, Werte und Wertewandel im europäischen Vergleich, Werte und Religion. Da er sich auch in der - damals in Österreich noch jungen - empirischen soziologischen Methodologie hervortat, gelang es ihm stets, seine gesellschaftlichen Entwürfe auf eine (eigene) empirische Basis zu stellen und damit argumentativ abzusichern. Einige Beispiele seiner Publikationen belegen sein eindrucksvolles fachliches Spektrum:

Hermann Denz wurde 1949 in Kennelbach (Vorarlberg/Österreich) geboren. Nach Studium der Soziologie in Innsbruck und Linz (1967-1971) arbeitete er von als Assis-tent an den Universitäten Trier (1971/1972) und Linz (1973-1979, 1981-1985). Von 1979 bis 1980 leitete er die Abteilung Soziale Verwaltung im Amt der Stadt Bregenz. Nach einer Gastprofessur an der Katholischen Universität Eichstätt in den Jahren 1982/83 kehrte er erneut nach Vorarlberg zurück, wo er zwischen 1985 und 1992 im Studienzentrum Bregenz leitend tätig war. Anschließend wirkte Hermann Denz seit 1992 als Dozent am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck und nahm dort zwischen 2001 und 2003 die Funktion des Institutsvorstandes ein. Neben der Lehre und Forschung war er in Innsbruck maßgeblich an der Entwicklung der Soziologie-Curricula beteiligt.

Seit 2005 stellte ihn die Universität Innsbruck vom Dienst frei, damit Hermann Denz als Hochschullehrer an der Fachhochschule Vorarlberg wirken konnte. Hier brachte er sich mit seiner umfassenden Fachkompetenz und stets ausgleichenden wie zurückhaltenden Art äußerst fruchtbar in die Lehre und Weiterentwicklung des Vorarlberger Sozialarbeitsstudiums ein. Bis zuletzt war Hermann Denz für Studierende und Kolleginnen/Kollegen ein verlässlicher und vertrauensvoller Ansprechpartner.

Hermann Denz starb im Januar 2008 an den Folgen seiner schweren Erkrankung. Er verabschiedete sich von uns aufrecht und in Würde.

Wir haben alle viel von Hermann Denz lernen dürfen und vermissen ihn sehr.


1. Zeitdiagnose: Gesellschaftliche Ordnung im Umbruch
Die traditionelle Gesellschaft hatte klare Strukturen, z.B. Stände und meist eine so eindeutige Rechtfertigung dieser Strukturen ("von Gottes Gnaden"), dass die Menschen nicht daran zu zweifeln wagten. Die technisch/industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts schuf neue Strukturen, z.B. Klassen. Die Aufklärung zeigte auf, dass die gesellschaftlichen Strukturen weder von der Natur noch von Gott vorgegeben sind, sondern von den Menschen geschaffen, wobei in der Realität allerdings nicht so sehr die Vernunft, sondern die Macht die entscheidende Rolle spielte.

Es gab wahrscheinlich nie eine Gesellschaft, die so pluralistisch in der sozialen Differenzierung in Schichten, Lebensstile und gleichzeitig so offen war wie die Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Es gilt Wertepluralismus, jede/r kann nach seiner Fasson selig werden. Es gibt eine breite Streuung von gesellschaftlichen Optionen und Chancen. Aber gerade hier stellt sich die Frage, was diese Gesellschaft zusammenhält, wenn es nur mehr wenig allgemeinverbindliche Normen und Institutionen gibt. Der soziale Wandel wird als so grundsätzlich wahrgenommen, dass diese Zeit als Postmoderne bzw. reflexive Modernisierung (U. Beck) bezeichnet wird, die durch die Auflösung von allgemeinverbindlichen Deutungsmustern, die Befreiung des Individuums von institutionellen Zwängen und normativen Vorgaben charakterisiert ist ("Multioptionsgesellschaft" nach P. Gross). Die Gesellschaft 2000 zerfällt in viele soziale Einzelteile, ohne dass ein Mainstream zu erkennen wäre, wie "Der Spiegel"2 etwas resigniert feststellt.

Aber gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat sich grundlegend etwas geändert, das in der Politikwissenschaft z.B. als Wandel von der Konsens- zur Konfliktdemokratie beschrieben wird.3 Ähnliches spielt sich auch auf der Ebene der Werte ab, um die es in der folgenden empirischen Analyse geht, man könnte dies analog als Wandel hin zu einer Konfliktgesellschaft bezeichnen.


2. Das Ende der Leiter?
Waren die Analysen 1990 noch bestimmt durch die Vorstellung einer ungebrochenen Entwicklung zu mehr Freiheit,4 so zeigen die Umfragen seit Mitte der 90er Jahre, dass sich dieser Trend zum Teil umgekehrt hat. Für die Zeit bis 1990 sprach U. Beck vom Fahrstuhleffekt nach oben5, heute diagnostiziert er eine Gesellschaft des Weniger: "Bis in die 1980er Jahre fuhr unsere Gesellschaft in einem Fahrstuhl nach oben. Die Ungleichheiten blieben zwar bestehen, aber es ging für alle aufwärts. Aber jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts drohen überall Gefahren - und der große Fahrstuhl führt nach unten. Und wir haben den Eindruck, kaum noch zwischen Chancen wählen zu können, sondern uns immer öfter zwischen Übeln entscheiden zu müssen, das gilt in allen Bereichen: ... An die Stelle von Verheißungen sind Angstszenarien getreten - auch weil wir letztlich wissen: Es gibt diesen Zwang zum Weniger"6.

Viele Daten zeigen, dass sich in den letzten Jahren das Muster des gesellschaftlichen Wandels deutlich veränderte hat, das Neue kann nur als Post-Postmoderne bezeichnet werden. Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung brachten auch viele neue Ungleichheiten, nicht nur ökonomische, in die Gesellschaft: Für die Gruppe, welche diese Chancen nützen konnte, waren diese Veränderungen ein Zugewinn von Freiheit in der Lebensgestaltung. Die anderen fühlten sich in ihrer gesellschaftlichen Position durch Abstieg bedroht oder erlebten einen Verlust der bisher gewohnten Orientierungsmuster, sie blieben im sozialen Wandel zurück. Nun - so die Hypothese - erfolgt ein "Kampf" um neue Strukturen der Gesellschaft unter den Vorzeichen einer Wiedergewinnung von als hilfreich erlebten Sicherheiten: Normen und Institutionen werden wieder mehr bejaht; man zieht sich wieder mehr auf die kleinen Lebensräume (Familie, Gemeinde, Region) zurück; autoritäre und fundamentalistische Tendenzen verstärken sich. Wird unsere Gesellschaft - in dem so beschriebenen Sinne - nun post-postmodern? Kann man den Begriff vom "Europa der zwei Geschwindigkeiten" übertragen auf ein "Österreich der zwei Geschwindigkeiten" mit allen Reibungen und möglichen Brüchen, die dieser Prozess für die Gesellschaft mit sich bringt? Man könnte die als postmodern bezeichnete Periode dadurch charakterisieren, dass es zumindest den Grundkonsens gab, dass niemand eine absolute Wahrheit besitzt. Dadurch standen unterschiedliche Wertvorstellungen relativ konfliktfrei nebeneinander. Was sich geändert hat, ist das Ende dieses Konsenses und ein Kampf um die Hegemonie eines bestimmten Wertemodells hat begonnen. Fundamentalismen gab es schon länger, aber sie waren noch auf den religiösen Bereich beschränkt (z.B. "Neuer Kirchenkurs"). Was sich zu ändern scheint, ist, dass sich die Verlierer (und Verliererinnen?) dieser Phase organisieren (nun auch publizistisch und politisch) und den Konsens aufgekündigt haben: Es geht nun sehr stark darum, welches Wertemodell in der Gesellschaft dominant wird. Die Bruchlinien können beschrieben werden, aber was aus diesen entstehen wird, muss offen bleiben.

Diese Tendenzen und Trends können in einer Tabelle zusammengefasst werden. Durch die Kombination von Individuum und Gesellschaft auf der einen Seite mit Werte und Strukturen auf der anderen ergeben sich vier Felder, in denen sich die Dynamik abzeichnet. In jedem dieser Felder gibt es zwei Extremmöglichkeiten (und sicher viele Zwischenformen): Oben die Optionen für die Modernisierungsgewinner/innen, unten die Optionen der Verlierer/innen. Um im Bild des Fahrstuhls zu bleiben: Für einen Teil der Gesellschaft geht er tatsächlich immer noch nach oben. Damit vergrößern sich die Optionen, neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung eröffnen sich, was sich z.B. in einem Zunehmenden Luxuskonsum niederschlägt. Für eine zweite Gruppe geht der Fahrstuhl aber nach unten, die Optionen werden kleiner, die Lebensräume verengen sich, Klassengrenzen schließen sich wieder. Diese Auseinanderentwicklung lässt sich auch in den Statistiken zur Einkommens- und Vermögensverteilung nachweisen: Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen öffnet sich immer weiter, es erfolgt eine Umverteilung der Vermögen von Unten nach Oben, die Finanzierung des Staates verschiebt sich immer mehr von den Vermögens- und Gewinnsteuern zu den Einkommens- und Konsumsteuern.

Tab. 1: Gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken und Bruchlinien

Die Tabelle zeigt nun in vier Segmenten die Folgen der gesellschaftlichen Öffnungs- und Schließungstendenzen: Auf der individuellen Ebene sind es Möglichkeiten der Lebensgestaltung in Identität und Biographie, während auf der anderen Seite nur mehr Anpassung an die Notwendigkeiten der Existenzsicherung und eine entsprechende Unsicherheit folgen. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist es vor allem der Unterschied zwischen einem Segment der Gesellschaft, das sich in immer wieder neuen Lebensstilen Möglichkeiten der Gestaltung des Daseins schafft, während auf der anderen Seite eine neue Klasse von Armen entsteht (Arme, von Armut gefährdete, "prekärer Wohlstand" - je nach Definition 15% - 25%) - eine Klasse , aus der es fast kein Entkommen mehr gibt, wenn man einmal dort gelandet ist (siehe auch z.B. Hartz IV).

Diese Teilung spiegelt sich auch im Zugang zu neuen Medien wider ("digital divide"7): Arme haben weniger Zugang zu neuen Medien. Das führt zu beschränkten Berufsmöglichkeiten der Erwachsenen und eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen, wodurch sich die soziale Ungleichheit "vererbt" weiter verfestigt.8


3. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - Gesellschaftsmodelle im Widerstreit
Als Lösungsmodelle und Richtungsweiser für diese Entwicklungsdynamiken bieten sich unterschiedliche Gesellschaftsmodelle an. War die österreichische Gesellschaft bis in die 90er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass es eine politische Leitkultur gab, ein Gesellschaftsmodell, über das ein recht breiter Konsens herrschte, stehen nun mehrere Modelle, die jeweils ihre eigenen historischen Wurzeln haben, im Ringen um die Vorherrschaft nebeneinander. Keines dieser Modelle hat eine Mehrheit, so müssen sich politische und wertmäßige Koalitionen aus diesen Modellen im Kampf um die politische Macht bilden. Dieser Prozess spielt sich nicht nur zwischen den Parteien - schwarz/blau, rot/grün, schwarz/grün usw. - ab, sondern auch innerhalb der Parteien.9

Empirisch kann man vier Modelle unterscheiden, die gleichzeitig existieren, aber in ihren Wurzeln völlig ungleichzeitig sind:

Tab. 2: Typen von Gesellschaftsmodellen10


4. Eine theoretische Strukturierung
Diese Gesellschaftsmodelle stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sie sind das Produkt ganz zentraler gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen.

Man kann davon ausgehen, dass die Gesellschaft zwei zentrale Aufgaben zu lösen hat:

Tab. 3: Typen von Gesellschaftsmodellen

Das autoritäre Wir:
Dies war die formierte Gesellschaft der 50er Jahre. Die Ordnung der Gesellschaft über gemeinsame Werte und allgemeinverbindliche Institutionen, Abweichungen werden nicht toleriert, sondern führen zum Ausschluss aus dieser Wertegemeinschaft. Doch diese gemeinsamen Werte können in einer offenen Gesellschaft nicht mehr erzwungen werden, wenn sie nicht allgemein als legitim angesehen werden. Dieser Versuch kann nur zu einem Fundamentalismus als "rückwärtsgewandter Utopie" führen und produziert mehr Spaltung und Desintegration als die gesellschaftliche Integration, die er herzustellen versucht. Heute findet sich diese Ideologie vor allem in der Form eines "neuen Konservativismus", der diese traditionalen Elemente aufgreift (Familie, Autorität, Trachtenmode usw.). Manche Vorstellungen von Ehrenamt und Bürgergesellschaft basieren auf diesem Gesellschaftsmodell.

Das freiheitsorientierte Wir:
Im Mittelpunkt steht die Idee eines gerechten Gemeinwesens. Die Begriffe soziale oder ökosoziale Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat, Kommunitarismus, Mitbestimmung, politische Partizipation, Chancengleichheit usw. symbolisieren unterschiedliche Schwerpunkte und Perspektiven, meinen aber im Prinzip alle das gleiche Modell der Gesellschaft als gemeinschaftliches Projekt. Diese Begriffe deuten aber auch die große ideologische Bandbreite dieses Konzepts an. Es geht um Solidarität (soziale Netzwerke, Sozialkapital, Engagement für die Schwächeren, Umverteilung), Engagement. Gerechtigkeit, Ausgleich, Partizipation werden über das konkrete Handeln in kleinen (lokalen) Zusammenhängen selbst hergestellt. Eine wichtige Triebfeder dieser neuen Begeisterung für die Zivilgesellschaft war die große Skepsis gegenüber dem "Big Government" (small is beautiful). Diese Staats und Demokratiekritik führte zur Aufbruchsstimmung der 70er Jahre, in der Bürgerinitiativen, Mitbestimmung, Basisdemokratie usw. als neue Formen der politischen Artikulierung allgemein anerkannt wurden, z.B. wurde in allen Verfassungen eine Erleichterung der direkten Demokratie verankert. Daraus wuchsen neue politische Inhalte wie Ökologie, Bürgerrechte, Mitbestimmung und neue politische Gruppierungen unter dem Stichworten grün und alternativ. "Die Grünen tragen noch immer die Ideale der 68er Generation vor sich her: ein großes WirGefühl, das sich um alles und für alle sorgte. Doch eine Generation nach der Revolte der Studenten, in einer Welt des harten globalen Wettbewerbs, geht es erst mal ums eigene Leben: Die Generation Ich gibt den Ton an."11

Die Ego-Generation - das freiheitsorientierte Ich:
Eine verstärkte Mobilität, die Öffnung der Grenzen, die neuen Kommunikationsmöglichkeiten durch das Internet usw. haben eine Fülle von neuen Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten geschaffen. Es gibt eine Vielzahl von Jungunternehmerinnen und -unternehmern, die es in diesem neuen Markt innerhalb weniger Jahre geschafft haben, zu Millionären zu werden - ganz im Gegensatz zur modernen Wir-Gesellschaft. "Ähnlich wie 1968 erlebt die Republik einen Aufstand der Jungen gegen die Alten, aber leise und unaggressiv. Diesmal funktioniert der Kulturkampf nach den Gesetzen des Kapitalismus. Es ist der Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung - befördert durch die Börse und das Internet."12 Was übersehen oder bewusst ausgeblendet wird, sind die vielen, die es nicht schaffen, innerhalb kurzer Zeit eine expandierende Internet-Firma aufzubauen, die es vielleicht gar nicht schaffen, an dieser Technologie teilzunehmen (es gibt große schichtspezifische Unterschiede im Besitz von PC und Zugang zum Internet in Österreich, es gibt noch größerer Unterschiede zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern). Was auch übersehen wird, ist dass auch das Risiko keine Grenzen mehr kennt (U. Beck "Risikogesellschaft"), Auswirkungen von Pannen wie Tschernobyl, Bhopal, Seveso usw. und Sabotage, z.B. Computerviren machen nicht mehr an Staatsgrenzen halt, sondern betreffen immer eine Vielzahl von Ländern. Aber: "Die Welt wird nicht mehr kritisiert, um sie grundsätzlich zu verändern - sie wird vielmehr zum Ausgangsmaterial für kreative Versuche geformt, um aus ihr - materiell wie immateriell - Profit zu schlagen, so gut es eben geht".13 Das Modell könnte man als Neoliberalismus plus fun beschreiben, es gibt kaum kollektive Verantwortung, der Staat soll nur Rahmenbedingungen für die individuelle Konstruktion des Lebens schaffen.

Das autoritäre Ich:
Es gibt auch eine völlig andere Ich-Generation, nämlich eine, die sich verängstigt auf ihre kleinen Inseln der Sicherheit (auch wenn sie nur scheinbar ist) zurückzieht. Es ist nicht das selbstbewusste Ich, das aufbricht, und sich - ohne viel Rücksichten zu nehmen müssen - selbst verwirklichen will. Es gibt auch ein Ich-Modell gibt, das diese Freiheiten in erster Linie als Bedrohungen erlebt. Im Mittelpunkt steht der Wunsch nach klaren und eindeutigen Ordnungen. (Autoritarismus, Institutionen, Moralität usw.). Aber man zieht sich angesichts der Unsicherheit nicht nur auf sichere Werte zurück, sondern auch auf bekannte und überschaubare Strukturen wie die Familie und kleine räumliche Einheiten, denen man noch vertrauen kann, oder setzt seine Hoffnung auf autoritäre Strukturen ("Führer" oder "starker Mann"). Auch das ist eine Form von Ich-Orientierung, weil alle diese Strukturen nicht zu gesellschaftlicher Vernetzung und Solidarität, sondern zu einer rein hierarchischen Orientierung auf einen Führer hin führen. Das autoritäre Ich hält andere Modelle neben sich nur sehr schwer aus, der Fundamentalismus ist rechthaberisch und kann deshalb nicht liberal sein. Aus diesen Gründen tendiert dieses Modell immer - abhängig von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen - in ein autoritäres Wir umzukippen (hin zu autoritär/faschistischen Gesellschaftsmodellen).


5. Die historischen Wurzeln - Struktur des gesellschaftlichen Wandels
In der Tabelle 2 wurde schon angedeutet, dass diese Gesellschaftsmodelle, welche den Wertkonflikt in der heutigen Gesellschaft markieren, nicht neue Erfindungen sind, sondern auf historischen Wurzeln beruhen. So ist es nicht nur wichtige die historische Dimension zu betrachten, um besser zu verstehen, was heute ist, sondern auch dahingehend, dass die Konzepte der Vergangenheit auch immer wieder als Versatzstücke des politischen Diskurses der Gegenwart verwendet werden. Es gehört vielleicht sogar zu einem Charakteristikum der aktuellen weltanschaulichen Auseinandersetzung, dass der historischen Dimension eine besondere Qualität zugeschrieben wird. Es scheint als ob in der Orientierungslosigkeit der Gegenwart, die Orientierung an der Vergangenheit wiederum eine besondere Qualität bekäme.14

Man kann ganz typische Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, die in der Vergangenheit durch jeweils eine vorherrschende ideologische Grundorientierung gekennzeichnet sind, und Brüche, welche von einer Grundorientierung zur nächsten überleiten, ausmachen. Sie können etwa so beschrieben werden:

Tab. 4: Phasen der Veränderung


6. Konfliktgesellschaft und Sozialpolitik/Sozialarbeit
Dem vorherrschenden Gesellschaftsmodell entsprechend haben sich auch die Sozialpolitik und die der Sozialarbeit zugeschriebenen Aufgaben verändert.

Tab. 5: Der Sozialen Arbeit zugeschriebene Aufgabe

Diese Analyse der verschiedenen Gesellschaftsmodelle könnte historisch erfolgen, indem die Entwicklung von der Fürsorge der 50er Jahre bis zum Sozialmanagement der 90er Jahre nachgezeichnet wird. Dies ist für Vorarlberg im Buch "Sozialpolitik und Sozialarbeit in Vorarlberg 1970 - 2010"15 geschehen. Diese Analyse zeigt aber nur, wie sich die vorherrschenden Modelle abgelöst haben. Heute - so die These - stehen wie im gesamtgesellschaftlichen Bereich so auch im Sozialbereich die Wertemodelle nebeneinander und prallen auch hier konflikthaft aufeinander. Und parallel zum allgemeinen Wertewandel zeichnet sich auch in Sozialpolitik und Sozialarbeit ein Trend zurück zu ordnungsorientierten Modellen der 50er ab.

Eine kurze Diagnose der heutigen Situation: Die Vorstellung, dass Sozialpolitik und Sozialarbeit in erster Linie für Ordnung und zwar eine ganz bestimmte Ordnung der Gesellschaft zu sorgen haben, ist weit verbreitet ("autoritäres wir"). Typische Bereiche sind Migration und Wohnungslosigkeit. Und gerade in diesen Feldern gibt es auch eine deutliche Gegenposition, die vor allem Menschenwürde und Menschenrechte, die jedem Menschen unabhängig von jeder Leistung zustehen, betonen. Die Diskussion um das Grundeinkommen ist ein typisches Beispiel ("demokratisches wir"). Mit der Begründung, dass das Grundeinkommen zum Nichtstun einlädt, wurde tatsächlich ein Modell einer an die Sozialhilfe angelehnten Grundsicherung realisiert, was die vollständige Kontrolle (und damit die Vorstellung der Treffsicherheit) sicherstellt ("autoritäres ich"). Eher auf dem Rückzug sind die Positionen, die Sozialarbeit und Sozialarbeit als vernünftiges Aushandeln von Positionen zum gegenseitigen Nutzen interpretieren ("demokratisches ich"). In einer gesellschaftlichen Situation, in der Politik sehr stark über Symbole und Gefühle vermittelt wird, ist eine solche Position nur schwer zu vermitteln. Dazu kommt die inhärente Schwäche dieses Modells, dass es sehr wohl Elemente der Macht enthält, diese mit dem Verweis auf Rationalität (fast Naturgesetzlichkeit) aber ausblendet und damit nicht sehr glaubwürdig ist.

Das ist das Spannungsfeld, in dem Sozialpolitik und Sozialarbeit konzeptualisiert und durchgeführt werden müssen. So kann es keinen Konsens über "richtig und falsch" geben. Im Gegenteil, es wird es kaum eine Maßnahme geben, die nicht von zumindest einer Position her kritisiert werden wird.


Verweise
1 Dieser Text ist eine Weiterführung von Denz, H. u.a.: Die Konfliktgesellschaft, Wien 2000 (2.Auflage). Darin sind auch empirische Daten, ebenso in: Denz, H.: Konfliktgesellschaft und politisches System, Linz 2005
2 Der Spiegel, 22.5.2000, 25.
3 Beispiele dafür sind: Pelinka, A., Plasser. F., Meixner, W.: Von der Konsens- zur Konfliktdemokratie, in: Pelinka, A., Plasser. F., Meixner, W. (Hg.): Die Zukunft der österreichischen Demokratie, Wien 2000; oder auch: Dachs, H.: Was die Demokratie zusammenhält? ORF, Ö1, Salzburger Nachtstudio 31.5.2000. In Österreich könnte man diesen Bruch an der Wahl 1999 festmachen, die zum ersten Mal eine Koalition aus ÖVP und FPÖ in die Regierung gebracht hat, welche das erklärte Ziel einer Umgestaltung der Gesellschaft nach neoliberalen Grundsätzen, aber unter Beibehaltung konservativer Grundmuster hatte (Familie, Religion) - ein Modell, das schon von M. Thatcher in England und R. Reagan in den USA verfolgt worden war.
4 Die Analyse der Wertestudie 1990 war gekennzeichnet durch den Optimismus, dass es zwar im Augenblick Probleme mit der neugewonnen Freiheit gibt, dass aber nach einiger Zeit den Menschen gelingen wird, damit souverän umzugehen - eben Freiheitskünstler zu werden: Zulehner, Paul M. u.a.: Vom Untertan zum Freiheitskünstler, Wien 1991.
5 Es änderten sich zwar nicht die Ungleichheiten, aber durch ein Insgesamtes Mehr an Möglichkeiten erlebten alle gesellschaftlichen Gruppen größere Spielräume in ihrer Lebensgestaltung: Beck, U.: Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 122
6 Beck, U.: Die Gesellschaft des Weniger, ZDF-Interview am 17.1.2005 (abgedruckt in: Was zur Wahl steht, Frankfurt 2005)
7 Im multinationalen OECD-Projekt "IT and the quality of learning" wurde besonders auf diesen Aspekt geachtet. In Österreich war dieser "digital divide" entlang der sozialen Stratifikation besonders stark. Eine Zusammenfassung: Venezky, R. L., Davis, C.: Quo Vademus? The Transformation of Schooling in a Networked World, OECD/CERI-Report, August 26, 2001, für Österreich: Baumgartner, P., Denz, H., Oberhauser, I., Hoffmann, K.: A Case Study of ICT and School Improvement, Innsbruck 2001
8 Darauf, dass dieser Mechanismus in Österreich besonders ausgeprägt ist, hat auch die aktuelle PISA-Studie hingewiesen.
9 Auch innerhalb der Parteien findet man, allerdings in unterschiedlicher Verteilung, diese vier Modelle. Ausführlich: Denz, H.: Konfliktgesellschaft und politisches System, Linz 2005. Am deutlichsten wurde dieser Kampf innerhalb einer Partei in der Trennung von FPÖ und BZÖ sichtbar. Aber man soll auch die Flügelkämpfe innerhalb der Grünen zwischen Realos und Fundis nicht vergessen, die im Augenblick durch die Person van der Bellens und die Chance auf Regierungsbeteiligung kaschiert werden. Auch innerhalb der ÖVP zeigen sich diese Bruchlinien, markiert durch die Bünde (vor allem die Unterschiede zwischen Wirtschaftsbund und ÖAAB), ebenso in der SPÖ (der Zickzackkurs bei der Formulierung des neuen Wirtschaftsprogramms ist ein deutlicher Ausdruck dieser unterschiedlichen Positionen).
10 ↑↑↑= Zunahme um mehr als 10%, ↑↑= Zunahme um 4% bis 10%, ↑= Zunahme um 2% bis 4%, ↓↓↓= Abnahme um mehr als 10%, ↓↓= Abnahme um 4% bis 10%, ↓= Abnahme um 2% bis 4%
11 Der Spiegel, 22.5.2000, 22.
12 Der Spiegel, 22.5.2000, 29.
13 Der Spiegel, 22.5.2000, 34.
14 Es gab nach dem zweiten Weltkrieg keine Dekade, in der mehr Heimatmuseen eröffnet wurden als die letzte. Auch in der Mode finden sich pseudovolkstümliche Elemente im sog. Landhausstil, in der Musik im kommerziell höchst erfolgreichen Bereich des neuen deutschen Schlagers (einschließlich der dazu gehörenden Fernsehsendungen mit extrem hohen Einschaltquoten wie Musikantenstadel usw.). Ein ähnliches Phänomen finden wir aber historisch auch schon in der Heimatschutzbewegung vor allem in den 20er und 30er Jahre.
15 Allgäuer-Hackl, H., Denz H., Greussing, K., Matt, H. Sozialpolitik und Sozialarbeit in Vorarlberg 1970 - 2010, Regensburg 2006


Über den Autor

Hermann Denz (1949 - 2008)

  • Studium der Soziologie in Innsbruck und Linz (1967-1971)
  • Assistent an den Universitäten Trier (1971/1972) und Linz (1973-1979, 1981-1985)
  • Leitung der Abteilung Soziale Verwaltung im Amt der Stadt Bregenz (1979/80)
  • Gastprofessur an der Katholischen Universität Eichstätt in den Jahren 1982/83
  • Leitung i Studienzentrum Bregenz (1985-1992)
  • Dozent und ao. Univ.-Prof. am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck (1992-2005)
  • Hochschullehrer an der FH Vorarlberg (2005-2008)