soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/394/678.pdf


Stephan Sting:

Disziplin und Differenz

Soziale Arbeit in Österreich jenseits disziplinärer Identitätszwänge


Der Versuch, die disziplinäre Entwicklung der Sozialen Arbeit in Österreich zu beschreiben, stößt auf zwei grundlegende Schwierigkeiten: Erstens ist die Herausbildung sozialer Berufe in Österreich in besonderer Weise von praktischen Anforderungen geprägt. Das gilt zwar auch für Deutschland; doch während sich in Deutschland relativ breite Berufsprofile etablieren konnten, entstanden in Österreich sehr differenzierte, mehr oder weniger qualifizierte Ausbildungen, die zum Teil nur regionale Verbreitung haben. Unterhalb und neben Sozialarbeit und Sozialpädagogik gibt es z. B. SozialbetreuerInnen, Sozial- und LebensberaterInnen, FamilienhelferInnen, Tagesmütter oder Ausbildungen für Frühförderung und außerschulische Jugendarbeit. Es existiert ein unübersichtliches Feld an Sozialberufen, in dem sich bisher kein verbindliches Einheitskonzept durchsetzen konnte (vgl. Scheipl/Heimgartner 2004: 132).

Zweitens hat sich das Feld der sozialen Berufe erst seit wenigen Jahrzehnten stärker akademisiert und bisher noch keine eigenständige wissenschaftliche Thematisierung und Theoretisierung erreicht. Dies führt dazu, dass theoretische Diskurse in Österreich sehr stark mit der gesamten deutschsprachigen Diskussion verschränkt sind. Die österreichischen Beiträge sind in diesem Kontext nicht als solche erkennbar. Diese Situation führt zu einem Import von Begriffen und Theorien, die spezifisch österreichische Entwicklungen verdecken (vgl. Winkler 2010: 45f, Scheipl 2011: 1342f). Z. B. ist die Verwendung des deutschen Begriffs der „Jugendhilfe“ mit der österreichischen Situation inkompatibel, da hier im Unterschied zu Deutschland zentrale Bereiche wie die Kindergartenarbeit oder die außerschulische Jugendarbeit aus der Jugendhilfe herausfallen.

Im Zuge dessen hat sich in Österreich im Verlauf der 2000er-Jahre der aus Deutschland übernommene Begriff der „Sozialen Arbeit“ verbreitet, der als übergreifendes Konstrukt Sozialarbeit und Sozialpädagogik umfassen soll. „Soziale Arbeit“ beinhaltet nach einer Definition von Füssenhäuser und Thiersch eine breite Palette an sozialen und pädagogischen Unterstützungsformen, von der Kinder- und Jugendhilfe über unterschiedliche Beratungsangebote bis zur Straffälligenhilfe oder zur Arbeit im Sucht- und Drogenbereich. Sie wird als „Begriff und Feld“ verstanden, in dem sich in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen „Aufgaben der Unterstützung und Förderung in belasteten Konstellationen mit den Lern- und Bewältigungsaufgaben im Lebenslauf“ (Füssenhäuser/Thiersch 2011: 1638) verbinden.

In meinem Beitrag vertrete ich die These, dass sich in der Bezugnahme auf den Leitbegriff „Soziale Arbeit“ in Österreich eine Konkurrenz um berufliche Positionen und Hierarchien verbirgt, in der sich keine eindeutige Konvergenz im Feld der sozialen Berufe abzeichnet. Eine Integration von Sozialpädagogik und Sozialarbeit mit Hilfe des Konstrukts der „Sozialen Arbeit“ ist bisher nicht gelungen. Ein Verständnis für diese Situation möchte ich durch eine Skizzierung des Konzepts der „Sozialen Arbeit“ selbst sowie durch einen Blick in die historische Entwicklung der sozialen Berufe und Ausbildungswege in Österreich gewinnen, um letztlich dann doch für die Verwendung des Begriffs der Sozialen Arbeit als übergreifendem, integrativen Konzept zu plädieren.


1. Zum Konzept der „Sozialen Arbeit“
Unstimmigkeiten zeichnen sich bereits im Konzept der Sozialen Arbeit selbst ab, das sich aus unterschiedlichen Quellen speist. Ein wichtiger Begründer des Rahmenkonzepts der Sozialen Arbeit ist Hans Thiersch, der seit den 1980er-Jahren den Begriff der „lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ geprägt hat (vgl. Thiersch 1992). Soziale Arbeit umfasst für ihn die unterschiedlichen Traditionslinien des Fürsorgewesens, womit er in erster Linie die Traditionen der Armen- und der Jugendfürsorge meint (vgl. Münchmeier 2005, Rauschenbach/Züchner 2005). Soziale Arbeit wird von Thiersch als System „professionell-institutionalisierter Hilfe“ beschrieben, das die Gewährleistung materieller und sozialer Unterstützung mit erzieherischen und bildungswirksamen Interventionen verbindet. Sie entsteht parallel zu sozialpolitischen Regelungen und sozialen Sicherungssystemen als Antwort auf die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen der modernen Industriegesellschaft, auf das Versiegen naturwüchsiger Formen der Solidarität und gegenseitigen Unterstützung. Mit der Pluralisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse im gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozess breiten sich Situationen der Desorientierung und Instabilität, des Nicht-mehr-Zurechtkommens und der Unterstützungsbedürftigkeit bis in die Mitte der Gesellschaft aus, sodass Soziale Arbeit zu einem selbstverständlichen, integralen Bestandteil moderner Gesellschaften wird (vgl. Thiersch 2004: 147-153).

Der gesellschaftstheoretisch begründete Zugang Thierschs erfährt in der Begründung der „Sozialen Arbeit als Wissenschaft“ durch Engelke eine etwas andere Akzentuierung. Soziale Arbeit wird hier als wissenschaftliche Disziplin verstanden, die sich mit „sozialen Problemen und ihren Lösungen“ befasst. Die Problemorientierung wird mit der Betonung der „Multidisziplinarität und systemhaften Verflechtung der Probleme“ verknüpft. Soziale Arbeit ist demnach eine Verflechtungsdisziplin, die sich gegen ihre „theoretische Kolonialisierung“ durch „PädagogInnen, SoziologInnen, PsychologInnen, JuristInnen usw.“ zu wehren hat (Engelke 1992: 307f). Sie versucht ihre Eigenständigkeit zu behaupten, indem sie als „Wissenschaft von der Sozialen Arbeit“ oder „Sozialarbeitswissenschaft“ eine Metaperspektive gegenüber anderen Disziplinen einnimmt, die zu bloßen Bezugswissenschaften erklärt werden (vgl. ebd.: 308, vgl. auch Lambers 2013: 214). Während Thiersch ein eher integratives Konzept der Sozialen Arbeit favorisiert, das einen engen Bezug zur Erziehungswissenschaft unterhält, plädieren Protagonisten der „Sozialarbeitswissenschaft“ für eine disziplinäre Eigenständigkeit, die sich gegen eine vermeintliche oder befürchtete Kolonialisierung durch die Pädagogik richtet, zugleich aber einen umfassenden Anspruch auf Zuständigkeit für das gesamte Feld der sozialen Berufe stellt.

Der Hinweis auf die beiden unterschiedlichen Fassungen des Konzepts der Sozialen Arbeit macht deutlich, dass die theoretische Integration als wissenschaftliche Disziplin nicht abgeschlossen ist. Die Soziale Arbeit ist kein homogenes Feld, sondern von den zum Teil „sehr unterschiedlichen Binnenlogiken“ der jeweiligen Handlungsbereiche bestimmt. So wie es keine „Leitprofession für die Soziale Arbeit“ (Heimgartner 2009: 8) gibt, so kann auch die wissenschaftliche Kontroverse um die theoretische Bestimmung der Sozialen Arbeit nicht stillgestellt werden. Bestrebungen, eine eindeutige disziplinäre oder professionelle Identität durchzusetzen, die die Uneindeutigkeiten der bisherigen Theoriediskurse aufhebt (vgl. Otto 2011: 33ff), sind vor diesem Hintergrund kritisch einzuschätzen. Sie enthalten die Gefahr der Selbstbeschränkung, die zukünftige Entwicklungspotentiale zu verspielen droht (vgl. Schröer/Sting 2006: 17). Keupp wendet sich aufgrund der Erfahrungen in der Psychologie kritisch gegen „Identitätszwänge“, die Vereinseitigungen nach sich ziehen und die disziplinäre Entwicklung durch „imperiale Dominanzansprüche“ in Verbindung mit „institutionellen Machtpraktiken bei der Besetzung wichtiger Positionen“ (Keupp 2011: 31f) blockieren.


2. Unterschiedliche Professionalisierungslinien im Feld der Sozialen Arbeit
Die Professionalisierungslinie der Sozialarbeit war in Österreich mit der Konstituierung einer gesamtstaatlichen Sozialpolitik in den 1880er-Jahren verbunden. Parallel zur Einführung finanzieller Sicherungssysteme (wie z. B. der gesetzlichen Krankenversicherung) entstanden unterschiedliche Formen der Fürsorge im Hinblick auf soziale und gesundheitliche Aspekte. Die Fürsorgearbeit im Rahmen der sozialen Verwaltung erfuhr eine erste theoretische Fundierung und Professionalisierung durch Ilse Arlt, die 1912 „Vereinigte Fachkurse für Volkspflege“ einführte und damit die Ausbildung zur Sozialarbeit begründete (vgl. Scheipl 2011: 1344). Ilse Arlt verstand Fürsorge als „angewandte Armutsforschung“. Sie begründete die Fürsorge in einer umfassenden menschlichen Bedürfnistheorie, um daraus eine Systematisierung der Hilfeleistungen abzuleiten und Fürsorge konsequent als personenbezogene Einzelfallarbeit zu konstituieren (vgl. Arlt 2010: 25ff). In Anlehnung an die in Wien eingerichteten Kurse breiteten sich bis in die 1940er-Jahre in verschiedenen Bundesländern Österreichs Schulen für Sozialarbeit aus. Die Trägerschaft war teils privat, teils öffentlich und sie unterlagen Regelungen der jeweiligen Länder (vgl. Scheipl/Heimgartner 2004: 117).

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben diese Schulen bestehen. Sie gingen 1975 in die postsekundären „Akademien für Sozialarbeit“ über (vgl. ebd.: 117f). Eine Akademisierung der Sozialarbeit gelang durch die Verankerung an Fachhochschulen ab dem Jahr 2001 (vgl. ebd.. 118). Mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses durch die Einführung von Bachelor- und Masterstudien wurden die Studienprogramme an Fachhochschulen von „Sozialarbeit“ in „Soziale Arbeit“ umbenannt und mit einem umfassenden Qualifizierungsanspruch für das Feld der Sozialarbeit und Sozialpädagogik verbunden (vgl. Austro-Bachelor-Team 2005). Dies geschah allerdings ohne Bezugnahme auf sozialpädagogische Ausbildungstraditionen, sondern rein aus der Professionalisierung und Akademisierung der Sozialarbeit heraus, die von Ilse Arlts „Vereinigten Fachkursen“ bis zu den heutigen FH-Studien für „Soziale Arbeit“ einem zwar allmählichen, aber relativ kontinuierlichen Entwicklungsverlauf folgen.

Der Beginn einer Professionalisierung der Sozialpädagogik lässt sich mit den beiden Kinderschutzkongressen 1907 in Wien und 1913 in Salzburg markieren. Hintergrund der Kongresse und damit Ausgangspunkt sozialpädagogischer Perspektiven in Österreich war der Eindruck einer zunehmenden „Verwahrlosung der Jugend“ (Baernreither 1907: Vf). Probleme in der Erziehung der heranwachsenden Generation wurden als die gesamte Gesellschaft betreffende Aufgabe wahrgenommen und zum Gegenstand einer systematischen, staatlichen Erziehungspolitik erklärt, die sich auf drei Felder konzentrierte: auf den Kinderschutz, bei dem es vor allem um Regelungen für Pflegekinder und Pflegeeltern ging, auf die Fürsorgeerziehung, die sich mit der Heimerziehung befasste, und auf das Jugendstrafrecht, in dem der „Standpunkt der Erziehung“ gestärkt werden sollte (vgl. ebd.: 19f).

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese ersten sozialpädagogischen Impulse vor allem in Wien aufgegriffen und weiterentwickelt. Eine theoretische Beschäftigung mit sozialpädagogischen Fragestellungen fand insbesondere im Kontext der psychoanalytischen Bewegung statt. Wichtige Leitfiguren waren Siegfried Bernfeld und August Aichhorn, die sich in den 1920er-Jahren um eine „Theorie der Verwahrlosung“ und um die Reform der Heimerziehung bemühten (vgl. Scheipl 2011: 1343). Besonders einflussreich war Aichhorn, der schon vor dem Ersten Weltkrieg beim Aufbau des Hortwesens in Wien mitwirkte. Nach dem Krieg entwickelte er ein psychoanalytisch orientiertes Erziehungskonzept für die Heimerziehung, bei dem er davon ausging, dass es sich in der Fürsorgeerziehung in erster Linie um eine „Nacherziehung“ handelt: „Verwahrloste“ sind für Aichhorn keine Angelegenheit des Arztes, sondern der Erziehung (vgl. Aichhorn 1951: 14). Auch handelt es sich um keine „Verbrecher“, „vor denen die Gesellschaft geschützt werden“ muss, sondern um „Menschen, denen das Leben eine zu starke Belastung gebracht hatte, deren negative Einstellung und deren Hass gegen die Gesellschaft berechtigt war; für die daher ein Milieu geschaffen werden musste, in dem sie sich wohl fühlen konnten“ (ebd.: 130). „Verwahrloste“ werden als normale Kinder und Jugendliche betrachtet, deren Probleme aus belastenden sozialen Milieus und traumatisierenden Lebenserfahrungen resultieren und deren Nacherziehung durch die Schaffung eines positiven sozialen Milieus und die Ermöglichung positiver sozialer Erfahrungen erfolgen sollte.

Der in den 1920er-Jahren zu erkennende sozialpädagogische Aufbruch führte zu keiner dauerhaften Etablierung von Sozialpädagogik in Österreich. Erstens blieben die psychoanalytisch orientierten Reformbestrebungen auf Wien beschränkt, in anderen Regionen fanden sie nur geringe Resonanz. Zweitens richtete Aichhorn für seine Mitarbeiter zwar bereits 1921 Fachkurse ein; auch parallel entstanden andere Lehrgänge für ErzieherInnen, z. B. in kirchlichen Institutionen. Aber es konnte sich keine einheitliche und übergreifende sozialpädagogische Berufsausbildung etablieren (vgl. Scheipl/Heimgartner 2004: 129). Drittens setzte sich in der zunächst stark sozialpädagogisch ausgerichteten Fürsorgearbeit gegen Ende der 1920er-Jahre eine zunehmend sozialhygienisch und medizinisch ausgerichtete Sichtweise durch, die die sozialpädagogische Fachlichkeit dominierte (vgl. Scheipl 2003: 31). Viertens führte der Nationalsozialismus schließlich zum Ende der psychoanalytischen Bewegung. Zahlreiche Protagonisten wurden von ihren Wirkungsstätten verbannt oder mussten emigrieren. Die Fürsorgeerziehung wurde in eine traditionelle Anstaltserziehung auf Grundlage nationalsozialistischer Ideologien umgestaltet. Das führte z. B. im Wiener Erziehungsheim „Am Spiegelgrund“ in der Zeit von 1942 bis 1945 zur Tötung von ca. 700 Kindern (vgl. Neugebauer 2000: 149).

Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich keine kontinuierliche Professionalisierung im Bereich der Sozialpädagogik erkennen. Bis zu Beginn der 1960er-Jahre fand die sozialpädagogische Ausbildung in Form von Kurzkursen und Mitarbeiterschulungen statt, die meist von den Einrichtungen und Trägern selbst organisiert wurden. Dies hatte nicht nur eine mangelhafte Qualifikation zur Folge, sondern ebenso eine enorme Abhängigkeit der sogenannten „ErzieherInnen“ von ihren Arbeitgebern (vgl. Gnant 2003: 464f). Eine erste österreichweite Verberuflichung der Erziehertätigkeit zeichnete sich im Jahr 1962 mit der Einführung einer Fachschulausbildung ab (vgl. ebd.: 463). 1993 wurden diese Einrichtungen durch eine Schulgesetz-Novelle in „Bildungsanstalten für Sozialpädagogik“ umbenannt (vgl. ebd.: 467ff). Laut Schulorganisationsgesetz haben diese Bildungsanstalten das Ziel, „Erzieher“ heranzubilden, „die Erziehungsaufgaben in Horten, Heimen, Tagesheimstätten und im Betreuungsteil ganztägiger Schulformen sowie in der außerschulischen Jugendarbeit“ (SCHOG zit. in Gnant 2003: 462) erfüllen.

In der Praxis der Heimerziehung dominierten bis Anfang der 1970er-Jahre Großheime mit Anstaltscharakter. 1972 wurde in Wien die erste betreute Wohngemeinschaft eröffnet, weitere Wohngemeinschaftsgründungen folgten in anderen Bundesländern. Diese Entwicklung führte zu einer schrittweisen Auflösung der Großeinrichtungen und zu einer Ausdifferenzierung der Betreuungsangebote, die zunehmend von privaten Trägern übernommen wurden (vgl. Scheipl 2007: 149ff). Zugleich entstanden wesentliche Impulse für die Einrichtung ambulanter Formen sozialpädagogischer Unterstützung. Die Sozialpädagogik war damit mit einem sich zunehmend pluralisierenden Feld pädagogischer und sozialer Tätigkeiten konfrontiert.

Die Sozialpädagogik an österreichischen Universitäten baut nicht auf die berufsbezogenen Ausbildungen auf, sondern sie entsteht parallel als eigenständiges akademisches Feld und folgt selbst einer eher diskontinuierlichen Entwicklung. Eine erste explizite Erwähnung findet Sozialpädagogik als Studienschwerpunkt im Rahmen des Pädagogik-Studiums in Graz ab 1978. Weitere sozialpädagogische Studienschwerpunkte entstanden in Innsbruck, Wien, Salzburg und Klagenfurt. In Innsbruck wurde der sozialpädagogische Schwerpunkt 2002 wieder aufgelöst (vgl. Scheipl/Heimgartner 2004: 135f). In Wien beschränkt sich Sozialpädagogik auf einzelne, optionale Studieninhalte in erziehungswissenschaftlichen Studien. Nur in Graz und Klagenfurt gibt es gegenwärtig Professuren und Studiengänge mit sozialpädagogischer Ausrichtung. Eine weitere Professur mit sozialpädagogischer Ausrichtung wurde im Herbst 2013 in Salzburg eingerichtet. Alle Sozialpädagogik-Schwerpunkte an österreichischen Universitäten sind sehr eng mit bestehenden erziehungs- oder bildungswissenschaftlichen Fachbereichen verbunden.

Sozialpädagogik ist demnach im Unterschied zur Sozialarbeit eng an pädagogische Tätigkeiten und Perspektiven gebunden. Dennoch lässt sich insgesamt erkennen, dass die Etablierung der Sozialpädagogik keiner eindeutigen und kontinuierlichen disziplinären Entwicklung folgt (vgl. Ebner 2013:18).


3. Aktuelle Tendenzen: Soziale Arbeit plus?
Die tradierten Professionalisierungslinien der Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind in der ausdifferenzierten Berufslandschaft sozialer Berufe nicht mehr trennscharf. Die historisch separierten Berufsgruppen mischen sich in der Praxis, wobei allerdings im Bereich der Ausbildung nach wie vor unterschiedliche Binnenlogiken und Professionalitätsprofile vorherrschen (vgl. Heimgartner 2009: 14). Eine Sichtung der Curricula der verschiedenen Ausbildungsstätten bringt zum Vorschein, dass die österreichischen Fachhochschulen mit relativ geringen Pädagogik- bzw. Sozialpädagogik-Anteilen auskommen. Pädagogik gehört nicht zum Kern der FH-Studien für „Soziale Arbeit“; sie stellt bestenfalls eine Bezugswissenschaft dar. Demgegenüber beruhen die universitären Studiengänge in Graz und Klagenfurt auf einer breiten erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Grundbildung. Die Ausbildung an Kollegs oder Bildungsanstalten für Sozialpädagogik enthält in ähnlicher Weise in einem erheblichen Ausmaß pädagogische Anteile. An den Fachhochschulen wird der geringe Anteil pädagogischer Inhalte durch den Bereich des Rechts kompensiert. Rechtsveranstaltungen zu unterschiedlichen Themen sind in beachtlichem Ausmaß verbindlich vorgeschrieben. Im Gegensatz dazu spielt Recht in den sozialpädagogischen Universitätsstudien und in der Sozialpädagogik-Ausbildung an Kollegs und Bildungsanstalten für Sozialpädagogik nur eine marginale Rolle.

Vor dem Hintergrund wird deutlich, dass es nach wie vor getrennte Professionalitätsmodelle gibt. Die an Universitäten und Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik angestrebte Professionalisierung begreift sich im Kern als pädagogische Professionalität. Die an Fachhochschulen angestrebte Professionalisierung ist keine pädagogische, sondern es geht um ein personenbezogenes, rechtlich fundiertes Verwaltungshandeln. Das bringt der Leitbegriff der auf den Einzelfall bezogenen Sozialarbeit zum Ausdruck: „Case Management“ statt Erziehungs- und Bildungsarbeit (vgl. Sting 2011: 44).

Die unterschiedliche Gewichtung von Recht und Pädagogik in den jeweiligen Ausbildungsgängen in Österreich dient als Indikator dafür, dass der integrative Anspruch einer umfassenden „Sozialen Arbeit“ bisher nicht eingelöst worden ist. Angesichts der geringen Trennschärfe im Feld der praktischen Berufstätigkeiten scheint mir die Aufrechterhaltung getrennter Disziplinentwicklungen nicht sinnvoll zu sein. Zwänge zur Vereinheitlichung führen jedoch zu Vereinseitigungen und zum Ausblenden möglicher fachlicher Entwicklungspotenziale. In der Polarisierung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik geht z. B. unter, dass sich spätestens seit den 1920er-Jahren neben den Traditionslinien der Armen- und der Jugendfürsorge die „Gesundheitsfürsorge“ als dritte Entwicklungslinie der Sozialen Arbeit etabliert hat, die gegenwärtig unter der Perspektive der „Gesundheitsförderung“ eine starke Expansion vollzieht (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 10f). Stark problemfokussierende Bestimmungen der Sozialen Arbeit verkennen, dass professionelle pädagogische Begleitung und soziale Unterstützung inzwischen zur Normalität geworden sind, auch unabhängig von „einer Gefahren- und Problemsicht“ (Heimgartner 2009: 178). Das Aufwachsen von Kindern in Familien und Betreuungseinrichtungen sowie die Übergänge Jugendlicher und junger Erwachsener in Arbeit und Beschäftigung sind auch ohne spezifische Krisen und Probleme Gegenstand von Aktivitäten der Sozialen Arbeit.

In diesem Kontext scheint mir eine eher lockere Integration auf einem Kontinuum zwischen den Polen Sozialarbeit und Sozialpädagogik angebracht zu sein, auf dem unterschiedliche Akzentsetzungen möglich sind und das zugleich offen bleibt für neue, zukünftige Themenfelder (vgl. Schröer/Sting 2006: 19).

Gegenwärtige Entwicklungen an Fachhochschulen zeigen, dass die dortigen AkteurInnen sich dessen bewusst sind, dass sie den Anspruch einer umfassenden „Sozialen Arbeit“ bisher nicht eingelöst haben und dass es neben der Ausbildung in „Sozialer Arbeit“ auch einer qualifizierten und akademischen Ausbildung in „Sozialpädagogik“ bedarf – eine Forderung, die vor allem von Praxisinstitutionen gestellt wird. Ein erstes sozialpädagogisches Studienprogramm, zunächst als Weiterbildung konzipiert, wurde im Herbst 2012 an der Fachhochschule Linz eingerichtet. Ein Bachelor- und Masterstudium in Sozialpädagogik, auch als Weiterbildung angeboten, startete im Herbst 2014 an der Fachhochschule St. Pölten. Ob die neu konzipierten Studien an der FH Burgenland den mit ihnen explizit verbundenen Anspruch einer integrativen Ausbildung in Sozialarbeit und Sozialpädagogik einlösen, bleibt abzuwarten.

An den Universitäten Graz, Klagenfurt und neuerdings Salzburg lässt sich eine zunehmende Etablierung sozialpädagogischer Forschung erkennen, die unterschiedliche Themen des umfassenden Felds der Sozialen Arbeit aufgreift.

Die Ressourcen für Forschung zur Sozialen Arbeit sind in Österreich bisher relativ gering, und die Forschungszugänge sind aufgrund der dezentralen Struktur des sozialen Sektors oft regional begrenzt. Eine Übersicht über die österreichische Forschungslandschaft brachte zum Vorschein, dass derzeit nur wenige fundierte Daten und übergreifende Forschungsaktivitäten vorhanden sind (vgl. Heimgartner/Sting 2012). Dennoch wird auch in Österreich immer deutlicher, dass die Weiterentwicklung des sozialen Sektors nicht ohne fundiertes Wissen gelingen kann. In Graz hat sich in dem Zusammenhang ein Schwerpunkt im Bereich der partizipativen Forschung herausgebildet. In Klagenfurt gibt es einen Schwerpunkt in qualitativer Forschung, der sich durch eine Orientierung an Bildungsfragen und Kinderschutz, einen Bezug zu Gesundheitsthemen und eine Nähe von Sozial- und Integrationspädagogik auszeichnet.

Soziale Arbeit etabliert sich damit in Österreich als heterogenes Ausbildungs- und Wissenschaftsprofil mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Im Unterschied zu Deutschland und im Verein mit zahlreichen anderen europäischen Ländern bleibt eine Polarität zwischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik bestehen, die unterschiedliche Professionalitätsmodelle enthält, die jedoch nicht trennscharf ist. Die Integration zu einem umfassenden Feld der „Sozialen Arbeit“ erscheint mir damit gerechtfertigt, der Anspruch der Konstitution einer einheitlichen Disziplin mit einer eindeutigen professionellen Identität eher nicht.


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Über den Autor

Univ.-Prof. Dipl.-Päd. Dr. Stephan Sting
Stephan.Sting@aau.at

geboren in Balingen/Württemberg, studierte Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. 1990 promovierte er und habilitierte sich 1996 in Erziehungswissenschaft. Seine Lehrtätigkeit im Bereich der Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik führten Stephan Sting an die Universitäten in Berlin, Leipzig, Dresden, Klagenfurt Zürich und Graz. 2005 wurde Stephan Sting als Universitätsprofessor für Sozial- und Integrationspädagogik an das Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt berufen.
Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Sozialpädagogische Bildungsforschung, die Sozialpädagogik im Kindes- und Jugendalter, Soziale Arbeit und Gesundheit sowie die Suchtprävention.