soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/398/690.pdf


Fabian Reicher:

Deradikalisierung und Extremismusprävention im Jugendalter

Eine kritische Analyse


Seit die Propaganda des „Islamischen Staates“ begonnen hat, Menschen aus Europa für den Krieg in Syrien anzuwerben und im Februar 2014 zwei 14-jährige Mädchen von Wien nach Syrien ausreisten, wurde die islamistische Radikalisierung von Jugendlichen zu einem der Hauptthemen in der öffentlichen Debatte. Anfangs dominierte dabei vor allem ein sicherheitspolitischer Diskurs, Mitte 2014 verschob sich dieser etwas in Richtung Prävention und Deradikalisierung, allerdings weiterhin fokussiert auf (muslimische) Jugendliche und ohne dass die polizeilichen Implikationen überwunden worden wären. Begriffe wie Extremismus, Salafismus, Islamismus oder Dschihadismus wurden dabei sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs entweder gar nicht oder unterschiedlich definiert und gedeutet. Als Beispiel kann der vom Wiener Stadtschulrat an alle Wiener Schulen verschickte Leitfaden Deradikalisierung Prävention genommen werden, der die „Radikalisierung, insbesondere den Dschihadismus, von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Schulbereich“ (Zeman 2014: 2) als ein aktuelles gesellschaftspolitisches Phänomen bezeichnete, ohne diese Begriffe zu definieren und ohne dass Ähnliches in der Vergangenheit einmal in Bezug auf den mehrheitsösterreichischen Rechtsextremismus formuliert worden wäre. Der Leitfaden sieht vor, bei Verdacht auf islamistische Radikalisierung die Anlassfälle dem Stadtschulrat zu melden, der im Bedarfsfall das Landesamt für Verfassungsschutz einschaltet, was bis Jänner 2015 in 20 Fällen erfolgte. (vgl. o. A. 2015)

In Bezug auf Dschihadismus wurden in Österreich 211 Personen bis April 2015 gezählt, unterteilt in aktuelle Kämpfer (92), Rückkehrer (62), Verstorbene (31) und Verhinderte (20). Nach Altersgruppen unterteilt waren davon 21 Personen unter 18 Jahre alt. Die meisten vom Verfassungsschutz als Dschihadisten bezeichneten Personen waren zwischen 18 und 25 Jahre alt, also junge Erwachsene und Erwachsene. (vgl. Henckel 2015)

Dass sich der öffentliche Diskurs über Radikalisierung so auf Jugendliche fokussiert, ist in Bezug auf die Zahlen des Verfassungsschutzes schwer nachzuvollziehen. Im folgenden Artikel soll dieser Diskurs daher kritisch hinterfragt sowie der konkreten Frage nachgegangen werden, ob, wie und wo Deradikalisierung in Bezug auf Jugendliche eingeordnet werden soll. Dazu werden soziologische und psychologische Erkenntnisse über die Jugendphase, jugendkulturelle Inszenierungen und die politische Sozialisation von Jugendlichen mit Blick auf Ziele, Haltungen und Strukturen von Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen vorgestellt und kritisch analysiert.


1. Jugend und Identität
Spricht man von Jugendlichen, unterscheidet das österreichische Bundesgesetz zwischen Unmündigen, die das vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, und Jugendlichen, die das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben. Für diese Altersgruppen gibt es besondere gesetzliche Bestimmungen, die unter anderem in den Jugendschutzgesetzen sowie im Jugendgerichtsgesetz (JGG) festgehalten sind. Als junge Erwachsene gelten Personen bis zum vollendeten 21. Lebensjahr, auch für diese Gruppe gibt es besondere gesetzliche Bestimmungen im Jugendgerichtsgesetz.

Im 19. und 20. Jahrhundert entstand ein pädagogisch geprägtes Bild von Jugend als eine individuelle Lern- und Entwicklungsphase, die durch die zentralen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Medien und Gleichaltrigengruppe beeinflusst wird. Historische Konzepte beschreiben die Jugendphase allerdings auch als eine Phase der Abhängigkeit und Unterordnung in Bezug auf die Erwachsenenwelt. Insbesondere männliche Jugendliche aus niedrigen sozialen Schichten gelten als schwer in die herrschende Ordnung zu integrierende Gruppe. (vgl. Scherr 2009: 29f)

Die fließende Abgrenzung dieser Lebensphase zur Kindheit erfolgt durch die Pubertät, die vor allem durch eine Erweiterung der Handlungsspielräume sowie eine Vergrößerung der Rollenvielfalt, mehr Möglichkeiten der Selbstbestimmung, verbunden mit höheren Anforderungen an die Selbstverantwortung charakterisiert wird. Als eines ihrer besonderen Kennzeichen gilt die stärkere Hinwendung zur Gleichaltrigengruppe, die damit verbundene Distanzierung von den Eltern und deren Einfluss. (vgl. Hurrelman 2007: 32)

Beim ebenfalls fließenden Übergang ins Erwachsenenalter unterscheidet man normativ vier Teilbereiche, in denen sich der Prozess vollziehen soll (vgl. Hurrelmann 2007: 34ff):

Um diese Entwicklungsaufgabe meistern zu können, ist es für Jugendliche entscheidend, sich vom Elternhaus abzunabeln und über die Entwicklung eigener Werte ein Selbstbild aufzubauen.

Dieses Selbstbild entsteht durch eigene positiv bewertete Eigenschaften und Verhaltensweisen, durch positive Beurteilung von Verhaltensweisen der jeweiligen Bezugspersonen und durch Selbstwert verteidigendes Verhalten als Reaktion auf Selbstwert gefährdende Ereignisse oder Umstände. (vgl. Einetter 2007: 62f)

Moderne westliche Gesellschaften erfordern aufgrund ihrer pluralistischen Strukturen Mehrfach-Identitäten. Die Ausbildung dieser Identitäten ist mit zahlreichen Ambivalenzen verbunden, die gerade in der Jugendphase eine Überforderung darstellen können, verbunden mit dem Gefühl, dass das Ich zerfällt. (vgl. Ottomeyer 2014: 217ff) Die vermeintliche Lösung ist das Anknüpfen an Weltbilder, die diese Ambivalenzen auflösen und aufwertende Einfach-Identitäten anbieten.

Diese Einfach-Identitäten, oder auch Vereindeutigungen, werden von autoritären Ideologen befördert. (vgl. Eckert 2013: 12)

Für die Bewältigung jugendlicher Entwicklungsaufgaben gewinnt die Orientierung an Gleichaltrigen immer mehr an Bedeutung. Im Gegensatz zu den anderen Sozialisationsinstanzen berücksichtigen diese die jugendspezifischen Interessen stärker und bieten größere Entfaltungsmöglichkeiten.

Die Zugehörigkeit zu einer Subkultur bzw. zu einer Jugendkultur erfüllt für Jugendliche die Funktion der Orientierung und Identitätsstiftung, einerseits durch das Auffinden von Gleichgesinnten, mit denen die Freizeit gemeinsam verbracht werden kann und andererseits durch die Abgrenzung nach außen, gegenüber anderen Gleichaltrigengruppen und Erwachsenen. Die Abgrenzung erfolgt durch einen speziellen jugendkulturellen Stil. (vgl. Farin 2008: 23f)

Welche Jugendkulturen für unterschiedliche Jugendliche Anknüpfungspunkte bieten, hängt stark von biografischen Vorerfahrungen, Selbstbildern und Problemlagen ab. Ist die Ausbildung der eigenen Identität von negativen Zuschreibungen gekennzeichnet und werden bestimmte identitätsstiftende Merkmale als problematisch und dadurch als Selbstwert gefährdend erlebt, sind oft solche attraktiv, die diese negativen Zuschreibungen idealisieren und überhöhen, sei es durch öffentliche Selbstinszenierung, durch Rituale und Auseinandersetzungen, oder durch einen Hang zu delinquentem Verhalten. Das hat in Bezug auf diese Gruppen eine integrative Funktion und kann einen Ersatz für fehlende Bindungen, soziale Anerkennung und Teilhabe darstellen. (vgl. Wensierski/Lübcke 2013: 63ff)


2. Prävention von politischem und religiösem Extremismus
Der Begriff Prävention, aus dem Lateinischen übersetzt, bedeutet Vorbeugung.

Präventive Handlungen oder Maßnahmen sollen demnach verhindern, dass individuell, sozial oder gesellschaftlich unerwünschte Zustände oder Entwicklungen eintreten. (vgl. Bröckling 2008: 38f) In der Rechtswissenschaft werden unter Prävention Maßnahmen verstanden, die der vorsorglichen Abwendung delinquenter Handlungen oder Aktivitäten dienen. (vgl. Kommission „Rechtsextremismus“ o.J.: 64) Für Ulrich Bröckling (2008) stellt Prävention stets auch ein Herrschaftsinstrument dar; individuelle Hilfen werden mit kollektivem Wohlbefinden verknüpft, gesellschaftliche Normen und Werte durchgesetzt. (vgl. Bröckling 2008: 43)

Im pädagogischen Präventionsverständnis wird zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention differenziert.

Primäre Prävention meint die grundsätzliche Vermittlung von Werten und Normen, die der Förderung von Lebensbedingungen und sozialen Kompetenzen, die der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne mehrheitlich geteilter Normen, dienen. Primäre Prävention hat keine spezielle Zielgruppen, da sie ansetzten soll, bevor abweichende Handlungen passieren. Sekundäre Prävention setzt bei identifizierten Ziel- und Personengruppen an und soll Hilfe in schwierigen Lebenssituationen anbieten, um dadurch problematischem und von gesellschaftlichen Normen abweichendem Handeln entgegenwirken. In Bezug auf Jugendliche stehen hier delinquente Jugendszenen besonders im Fokus, sei es im Bereich der Gewaltaffinität oder mit politischer Konnotierung. Die Zielgruppe tertiärer Prävention sind Personen, die gegen bestimmte gesellschaftlichen Normen und Werten verstoßen. Sie hat zum Ziel, diese Personen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. (vgl. Kommission „Rechtsextremismus“ o.J.: 64ff)

In der Stufe der tertiären Prävention ist auch Deradikalisierung anzusiedeln.

„Die auf den ersten Blick einfachste Betrachtungsweise der Deradikalisierung ist die als Umkehrung des Prozesses, durch den eine Person zum Extremisten wurde.“ (Neumann 2013: 7)
In diesem Sinne kann Deradikalisierung als Dekonstruktion eines extremistischen Weltbildes bezeichnet werden.

Im Bereich der Prävention von politischem Extremismus gibt es zumindest in Deutschland eine Tradition, die bis in die 1950er-Jahre zurückreicht. Pädagogische Maßnahmen reichen dabei von Vermittlung von Wissen, Sensibilisierungsprozessen, dem Erwerb von Kompetenzen, bis zu Anerkennungs- und Partizipationserfahrungen. Primäre Prävention soll dabei bestehende oder erwünschte Haltungen bestärken, sekundäre und tertiäre Prävention sollen das Verfestigen von problematischem Verhalten verhindern oder Ablösungsprozesse unterstützen. (vgl. Glaser et al. 2011: 15)

In Bezug auf Jugendliche ist die Institution Schule die zentrale Instanz, welche primäre Prävention leisten kann. Hier ist es möglich, dem Anspruch von primärer Prävention, eine breite Zielgruppe anzusprechen, gerecht zu werden.

Eine weitere Instanz ist die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die sich durch Offenheit für alle auszeichnet und daher ebenfalls eine breite Zielgruppe erreicht. Offene Jugendarbeit hat das Ziel, Jugendliche dabei zu begleiten, in der Gesellschaft bewusst und aktiv mitzuwirken; Partizipation ist ein grundlegendes Charakteristikum.

Sekundäre und tertiäre Prävention von Extremismus ist von einem individuumszentrierten Zugang geprägt, welcher die Ursachen in individuellen Problemen sieht. Der Fokus liegt daher hauptsächlich auf spezifischen Hilfen, aber auch in der Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft im Allgemeinen. (vgl. Kleeberg-Niepage 2012: 7)

Instanzen, die in Bezug auf Jugendliche im Allgemeinen diesen Stufen zugeordnet werden können, sind im schulischen Bereich Schulsozialarbeit, SchulpsychologInnen sowie BeratungslehrerInnen. Außerhalb des Schulsettings gibt es hier wiederum die Offene Jugendarbeit, sozialräumlich-orientiertes Streetwork und Mobile Jugendarbeit, Jugendcoaching sowie Bewährungshilfe und Jugendgerichtshilfe. In diesen Bereichen sind hauptsächlich SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen und JugendarbeiterInnen beschäftigt.

In Österreich gab es im Gegensatz zu Deutschland bis vor kurzem keine spezifischen auf Extremismus fokussierten Einrichtungen, eine Ausnahme stellt Streetwork Wien dar. Im Dezember 2014 wurde in Österreich zudem die von bOJA (Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit) getragene Beratungsstelle Extremismus etabliert. Diese richtet sich an Angehörige und Bezugspersonen von vermeintlich radikalisierten Personen und bietet Beratung online, telefonisch und persönlich an. Die BeraterInnen helfen, Situationen richtig einzuschätzen und unterstützen falls erforderlich bei der Umsetzung eines Unterstützungsumfeldes für einen umfassenden Deradikalisierungsprozess.


3. Fokussierungen des Diskurses über Extremismus
Der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Extremismus und Prävention hat sich in den letzten Jahren durch den verstärkten Bezug zu Terrorismus gewandelt. Das Forschungsinteresse hat sich von gesellschaftlichen und politischen Ursachen hin zu konkreten Entwicklungswegen von einzelnen Personen verschoben. (vgl. Glaser 2015: 6)

Ursachen werden bei Andersartigkeiten, wie prekären, sozioökonomischen oder kulturellen Eigenschaften, in den individuellen Biografien gesucht (vgl. Fahim 2013: 47ff); auch jugendkulturelle Inszenierungen stehen im Fokus.

Eine Strömung, welche im öffentlichen und auch teilweise im wissenschaftlichen Diskurs in Bezug auf Terrorismus als problematisch eingestuft und als Zielgruppe für Deradikalisierungsmaßnahmen identifiziert wird, ist der Neosalafismus.

Jugendliche, die sich in neosalafistischen Szenen bewegen, werden oft als dschihadistisch-ideologisiert und gewaltaffin beschrieben. Religion und Gewalt werden im öffentlichen Diskurs als die Faktoren bezeichnet, wodurch diese Szenen anziehend wirken. Die Vermeidung von ideologisch motivierter Gewalt soll das Ziel, die Arbeit an der Ideologie der zentrale Anknüpfungspunkt für Präventionsmaßnahmen, insbesondere von Deradikalisierungsmaßnahmen, sein.

Die neosalafistische Strömung grenzt sich sowohl gegen islamische als auch gegen nicht-islamische Teile der Gesellschaft ab. Bekannt geworden sind verschiedene neosalafistische Szenen vor allem durch ihre Internetpräsenz, ihre charismatischen deutschsprachigen Prediger sowie ihre Verbindungen zu islamistisch-terroristischen Gruppierungen. Der neosalafistischen Strömung liegt eine puristische Auslegung des sunnitischen Islams zugrunde, deren Lebensweise sich am Leben der ersten drei muslimischen Generationen in der Nachfolge des Propheten Mohammed orientiert und jegliche zeitgemäße Interpretationen islamischer Quellen strikt ablehnt. Im Mittelpunkt der Abgrenzungsmechanismen stehen die Abwertung von Andersgläubigen sowie der Ausschluss aller Muslime, die der reinen Lehre nicht folgen; diese werden systematisch exkommuniziert. Die Einstellungen bezüglich Gewalt sind allerdings äußerst heterogen und offene Aufrufe zur Gewalt sind aus diesem Spektrum kaum zu verzeichnen. (vgl. Wensierski/Lübcke 2013: 68)

Attraktiv werden diese Szenen laut Claudia Dantschke (2007 zit. in Wensierski/Lübcke 2013) für Jugendliche aber vor allem durch die bewusste Abgrenzung nach außen und dementsprechende Stilmerkmale, wodurch das Bedürfnis nach Protest und Provokation bei Jugendlichen befriedigt wird. Damit verbunden ist auch der Wunsch, Teil einer scheinbar imperialismus- und kapitalismuskritischen, revolutionären Protestbewegung zu sein. (vgl. Herding 2013b: 32)

„Dantschke (2007) geht davon aus, dass viele der interessierten Jugendlichen nur bestimmte Aspekte der religiösen Ideologie der Salafisten in ihr Weltbild integrieren – je nach milieu- oder geschlechtsspezifischen Orientierungen der jungen Muslime“ (Wensierski/Lübcke 2013: 69).

Nach Hans Jürgen von Wensierski können neosalafistische Jugendszenen in der Tradition anderer klassischer subkultureller Erscheinungsformen gesehen werden, da die bereits beschriebene Negativ-Identität ihr zentraler Anziehungspunkt ist. (vgl. Wensierski/Lübcke 2013: 70)

Jugendlichen, die mit der von der Gesellschaft erwarteten Entwicklung von Mehrfach-Identitäten überfordert sind, bietet diese Szene die Möglichkeit, auf Vereindeutigungen von selbstgewählten Autoritäten zurückzugreifen.

Dem individuumszentrierten, problemorientierten Zugang widerspricht in Bezug auf Jugendliche, dass jugendliche Delinquenz nicht aufgrund einer individuellen Störung entstehen muss. Im Prozess des Normenlernens ist eine zeitweilige Grenzüberschreitung in Form verschiedener Verhaltensweisen notwendig. (vgl. Rettenwander 2007: 71f)

Um Normen erlernen zu können, ist es also notwendig, sie auch zu spüren, was durch Übertretung derselben in unterschiedlichen Kontexten geschehen kann.

Jugendliche Delinquenz und Risikoverhalten lassen sich in substanzbezogenes Risikoverhalten und in explizit risikokonnotatives Verhalten unterteilen. (vgl. Einetter 2007: 64f) Dazu kann man auch das Verweilen in delinquenten Jugendszenen zählen.

Dauer und Intensität des Verweilens in solchen Jugendszenen hängt wie bei allen übrigen Jugendkulturen von biografischen Vorerfahrungen und Problemlagen ab, Ablösungsprozesse finden meist mit Ende der Adoleszenz und dem bereits beschriebenen Übergang ins Erwachsenenalter statt. (vgl. Wensierski/Lübcke 2013: 63f)

Ein Zusammenhang zwischen neosalafistischen Jugendszenen, neosalafistischen Organisationen und terroristischen Gruppierungen ist wissenschaftlich umstritten. (vgl. Pisoiu 2013: 74)

Wenn Jugendliche sich jugendkulturell-neosalafistisch inszenieren, bedeutet das nicht automatisch, dass sie sich auch in neosalafistischen Jugendszenen oder Organisationen bewegen, dort fest angebunden sind, oder die neosalafistische Ideologie vollständig in ihr Weltbild integriert haben.

Alles in allem besteht nach wie vor eine große Forschungslücke zu Jugendlichen bzw. der Jugendphase und der Hinwendung zu extremistischen Weltbildern sowie zum Eintritt in terroristischen Gruppierungen. (vgl. Herding 2013b: 23 und 35, Wensierski/Lübcke 2013: 57f)


4. Politische Sozialisation von Jugendlichen
Eine der Hauptfragen in Bezug auf extremistische Einstellungen ist, wie diese entstehen. In einer qualitativen Studie zur Entwicklung politischen Denkens bei jungen rechtsextremen StraftäterInnen, welche im Folgenden auf religiös legitimierte extremistische Einstellungen umgelegt wird, kommt Andrea Kleeberg-Niepage (2012) zu der Erkenntnis, dass für deren politische Sozialisation die bereits beschriebenen Sozialisationsinstanzen Schule, Familie, Peer Group sowie die Medien in gleicher Weise relevant sind. (vgl. Kleeberg-Niepage 2012: 18f).

Diesen Instanzen schreibt sie aber eher einen indirekten oder latenten Einfluss auf die politische Sozialisation zu, wesentlich ist vor allem das von Albert Bandura beschriebene „Lernen am Modell“. Direkte Einflussnahme über plakative Bekenntnisse, spezifische Projekte oder Workshops haben weit weniger Bedeutung als strukturelle Begebenheiten wie eine respektvolle und offene Kommunikationskultur, vertrauensvolle Beziehungen sowie Möglichkeiten zur Mitbestimmung. (vgl. Kleeberg-Niepage 2012: 13)

Präventionsmaßnahmen sind allerdings meist in zeitlich begrenzten Projekten organisiert, wodurch eine indirekte, langfristige Einflussnahme nur sehr begrenzt möglich ist. (vgl. Holthusen/Hoops 2011: 13f) Abgesehen davon haben die meisten Projekte kaum Einfluss auf bestehende Strukturen.

Sekundäre und tertiäre Präventionsprojekte führen zwar demokratische Standpunkte und Argumentationen an Jugendliche heran und hinterfragen extremistische Begründungen und Weltbilder, der Anteil der gesellschaftlichen Mitte mit ihren menschenfeindlichen und autoritären Strukturen und Diskursen, wird aber meist nicht thematisiert oder verändert. (vgl. Kleeberg-Niepage 2012: 21)

Kleeberg-Niepage betont, dass ExtremistInnen ihre Aktivitäten häufig mit der Überzeugung begründen, im Namen einer schweigenden Mehrheit zu handeln, ihnen also die Dominanzkultur die argumentative Basis liefert, nach der sie dann selektiv und zugespitzt handeln. (vgl. ebd.: 6f)

Zustimmung von Erwachsenen zu Autoritarismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in verschiedenen Ausprägungen, könnte bei Jugendlichen den Eindruck erwecken, dass darauf aufbauende extremistische Ideologien richtig seien. (vgl. ebd.: 18f)

Diesen Mechanismus bezeichnet man als Anpassungsfunktion von Vorurteilen – demzufolge ermöglichen Vorurteile eine schnelle Anpassung an die jeweiligen sozialen Lebensbedingungen. So wird durch die Zustimmung zu diesen Einstellungen einerseits soziale Belohnung, wie Zuwendung und Anerkennung, maximiert, andererseits soziale Bestrafungen minimiert. (vgl. Thomas 2006: 5) Exemplarisch kann man hierfür die Studie Autoritarismus in Österreich und Zentraleuropa von Günther Ogris und Oliver Rathkolb nennen, die zu dem Ergebnis kommt, dass autoritäres Gedankengut seit 2004 in Österreich ansteigt. 59 Prozent der Befragten wünschen sich strengere Strafen und 53 Prozent ein härteres Einschreiten gegen Außenseiter und Unruhestifter. (vgl. Latcheva/Ogris/Rathkolb 2010: 5) Auch die Ablehnung von Minderheitenrechten ist in Österreich vergleichsweise hoch, beispielsweise wollen immerhin 36 Prozent traditionellen Minderheiten das Recht auf Schulunterricht in eigener Sprache verwehren. (vgl. ebd. 2010: 7)


5. Gefahren von Präventions- und Deradikalisierungmaßnahmen bei Jugendlichen
Für Bernd Holthusen ist die grundsätzliche Schwierigkeit des Präventionsgedankens, dass bestimmten, als Problemgruppe definierten Menschen eine mögliche negative Entwicklung unterstellt wird, was eine Art Generalverdacht darstellt. (vgl. Holthusen et al. 2011: 23)

Sowohl für sekundäre als auch für tertiäre Prävention ist es wesentlich, sowohl Zielgruppen als auch Einzelpersonen zu identifizieren, um Maßnahmen entwickeln und anwenden zu können. In diesem Sinne arbeitet Prävention mit Zuschreibungen, den Zielgruppen wird zumindest mittelbar unterstellt, dass sie sich bereits problematisch verhalten oder zukünftig problematisch verhalten werden.

Eine andere Frage ist, welche gesellschaftlichen Institutionen welches Verhalten als problematisch definieren und daher Präventionsmaßnahmen implizieren. Am Beispiel der Gewaltprävention wird deutlich, dass der öffentliche Diskurs eine entscheidende Rolle spielt. In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich Jugendgewalt drastisch erhöht, empirisch belegbar ist das allerdings nicht. Als Grund dafür wird unter anderem eine erhöhte Sensibilisierung der Gesellschaft auf Gewalt beschrieben. (vgl. Holthusen/Hoops 2011: 12)

Prävention stellt für Michaela Glaser einen Eingriff in das Leben der Betroffenen dar und braucht daher eine besondere Begründung und Legitimation. Problematisch wird Prävention, wenn nicht genügend zwischen zulässigen, durch die Verfassung geschützten Formen radikaler Gesellschaftskritik und menschen- und verfassungsfeindlichen Aussagen und Aktivitäten differenziert wird. (vgl. Glaser et al. 2011: 17)

Neben pädagogischen Präventionsmaßnahmen stehen der Gesellschaft auch repressive Maßnahmen zur Verfügung, deren Ziel es ist, strafrechtlich relevante Handlungen durch Kontrolle und Sanktionen zu verhindern. (vgl. ebd.: 16) Die repressiven Maßnahmen im Rahmen des Strafrechts sollen spezial- oder generalpräventive Wirkung erzielen und dadurch zukünftige strafrechtlich relevante Handlungen verhindern.

Bei einem erweiterten oder entgrenzten Problemfokus im Rahmen pädagogischer Prävention besteht die Gefahr, Maßnahmen auf nonkonforme Einstellungen und Werte, mitunter auch auf radikale Gesellschaftskritik, zu beziehen. So wird der Normierungsanspruch in einen Bereich vorverlegt, der nicht strafrechtlich relevant ist, im Gegenteil – sogar durch die Verfassung geschützt wird. (vgl. ebd.: 16) Für die Jugendlichen wird dadurch intransparent, welches Verhalten mit welcher Begründung als problematisch eingestuft wird, so geht Vertrauen verloren.

Der Präventionsbegriff wird mittlerweile für fast jede Maßnahme als Begründung verwendet. Möglichen negativen Entwicklungen vorzubeugen, wird gesellschaftlich positiv bewertet. Prävention als Versprechen ermöglicht es, Projekte gefördert finanzieren zu lassen. So sind es laut Holthusen oft die PräventionsexpertInnen selbst, die Probleme und Zielgruppen definieren und sich ihre Gegenstände schaffen. Damit besteht die Gefahr, indirekt Normen zu setzen, ohne sie demokratisch auszuhandeln und entsprechend zu definieren. (vgl. Holthusen et al. 2011: 23)

Für eine demokratische Legitimation ist es notwendig, dass zivilgesellschaftliche und staatliche ExpertInnen sowie handelnde AkteurInnen im jeweiligen Bereich einen kritischen wissenschaftlichen Diskurs über Begriffe, Zielgruppen, Zugänge und Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen führen. Über einen solchen Diskurs müssen zivilgesellschaftlich und staatlich handelnde AkteurInnen ihre Arbeit legitimieren und evaluieren. Wichtige Kriterien für demokratische Legitimation sind außerdem Transparenz und Nachvollziehbarkeit über Inhalte, Ziele und Zielgruppen von Maßnahmen, um sie auch weiterhin öffentlich auf Wirksamkeit und Zulässigkeit kritisch diskutieren zu können. Außerdem müssen die Einrichtungen, die Präventionsarbeit leisten, selbst demokratisch organisiert sein, was unter anderem von den MitarbeiterInnen die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in Bezug auf Machtverhältnisse fordert. Grundvoraussetzungen für professionelle Präventionsarbeit sind Offenheit, Respekt und das Ernstnehmen des Gegenübers.

Die in Österreich 2014 begonnene aufgeregte und unwissenschaftliche öffentliche Debatte über islamistisch bedingte Radikalisierung sowie Präventionsmaßnahmen, welche sich stark auf die Religion fokussieren, sind äußerst kritisch zu betrachten. Wird der Islam nur mit negativen Zuschreibungen wie Gewaltaffinität oder der Unterdrückung von Frauen in Verbindung gebracht, kann das für junge Muslime, die sich wenig mit dem Islam auseinandergesetzt haben, sozialisierend beziehungsweise stigmatisierend wirken. So kann auch ohne Kontakt zu fundamentalistischen Gruppierungen eine solche Auslegung des Islams verinnerlicht werden. (vgl. Herding 2013a: 12f)


6. Zusammenfassende Kritik
Dass sich der öffentliche Diskurs über (De-)Radikalisierung so auf Jugendliche kapriziert, ist empirisch oder wissenschaftlich nicht haltbar. Wie bereits angeführt ergeben sich die Anknüpfungspunkte zu verschiedenen Jugendkulturen aus den unterschiedlichsten Faktoren. Szenen, die sich über eine negative Identität inszenieren, können für Jugendliche anziehend sein, deren Identitätsausbildung durch negative Zuschreibungen geprägt ist. Am Beispiel der Anziehungskraft der neosalafistischen Szenen können es unterschiedliche identitätsstiftende Eigenschaften sein, die als problematisch erlebt worden sind, wie zum Beispiel Religion, Geschlecht oder Gesellschaftskritik. Allerdings sind auch diese Szenen sehr vielschichtig und bieten unterschiedliche Anknüpfungspunkte, die jugendlichen Bedürfnissen nach Abenteuer, Gesellschaftskritik und Abgrenzung nachkommen.

Werden pädagogische Präventionsmaßnahmen mit sicherheitspolitischen Diskursen verknüpft, besteht Etikettierungsgefahr:

„Sie kann zum Beispiel bei jungen Muslimen genau jene Diskriminierungswahrnehmungen fördern, die die Forschung als einen Faktor für die Attraktivität gewaltorientierter islamistischer Gruppen betrachtet.“ (Glaser 2015: 7)

Werden Maßnahmen in der sensiblen Jugendphase gesetzt, die sich nur auf bereits als problematisch erlebte Eigenschaften beziehen, besteht die große Gefahr, einen Entfremdungsprozess weiter zu verstärken und so eine positive Ausbildung der Identität zu gefährden sowie die Anziehungskraft der Szenen, die diese Eigenschaften idealisieren, zu vergrößern.

Präventionsmaßnahmen haben oft einen defizitären und individuumszentrierten Blick auf politischen Extremismus. Die Ursachen und Gründe für den Einstieg in politisch extremistische Gruppierungen werden sehr oft auf negative Einflüsse in den individuellen Lebenswelten reduziert, wie beispielsweise Gewalt in der Familie oder ökonomische Benachteiligung. Durch die Identifizierung von Zielgruppen, wie zum Beispiel Jugendliche, besteht die Gefahr, dass diese als ausschließliche TrägerInnen extremistischen Gedankengutes angesehen werden.

Diese Projektion kann auch unter dem Begriff des Generationenkonflikts betrachtet werden, womit defizitäre Beschreibungen von Jugendlichen als eine gefährliche Generation gemeint sind. Abgesehen davon, dass in einer individualisierten Gesellschaft Beschreibungen, die eine ganze Generation betreffen, sehr zu hinterfragen sind, drängt sich auch die Frage auf, wer, und aus welcher Motivation heraus, diese Beschreibungen vornimmt. Meist sind es Fremdbeschreibungen von VertreterInnen der älteren gegenüber der jüngeren Generation. Diese Beschreibungen drücken immer auch gesellschaftliche Trends und Veränderungen aus. (vgl. Moser 2010: 61f)

Dadurch erspart sich die Gesellschaft die Frage, welche menschenfeindlichen Strukturen in der gesellschaftlichen Mitte vorhanden sind und wie wir als Gesellschaft mit marginalisierten Gruppen umgehen. Diese Projektion hat also eine Entlastungsfunktion für die Gesellschaft.

Präventionsmaßnahmen oder Deradikalisierungsmaßnahmen werden in der öffentlichen Debatte als simple Lösung von außen beschrieben, was in mehrerer Hinsicht problematisch ist. Zum einen besteht die Gefahr, dass hier ein Markt für DeradikalisierungsexpertInnen ohne demokratische Legitimation entsteht. Zum anderen, dass mangels gesellschaftlicher Definition von Radikalisierung und unterschiedlichen Ausprägungen von Extremismus tatsächliche Gefahrenmomente nicht erkannt werden. Auch kann der ständige Fokus auf diese Thematik dazu führen, dass Prävention als Aufgabe für alle missverstanden wird. (vgl. Holthusen et al. 2011: 24) Schließlich droht, dass Unterschiede und Andersartigkeiten von Jugendlichen sowie jugendadäquates Verhalten und jugendkulturelle Inszenierungen dramatisiert und als extremistisch eingestuft werden.

Im Gegensatz zu dem Begriff Extremismus umfasst der Begriff Radikalisierung keine Einordnung von Denk- und Handlungsweisen, sondern Prozesse mit bestimmten Dynamiken, deren Endpunkte allerdings unterschiedlich sein können. (vgl. Glaser 2015: 6)

Das ist insofern problematisch, da sich die neosalafistische Subkultur grundlegend von anderen muslimisch geprägten Jugendkulturen, wie z. B. den Pop-Muslimen, unterscheidet, es aber bei der Inszenierung nach außen Ähnlichkeiten gibt, wie z. B. die Verwendung von muslimischen Alltagsbegriffen. Diese Alltagsbegriffe werden auch von islamisch-terroristischen Gruppierungen verwendet. So ist es nicht verwunderlich, wenn von Laien Zielgruppen von Präventionsmaßnahmen nicht entsprechend identifiziert werden können. Der erwachsene Blick auf Jugendkulturen ist im Allgemeinen ohnehin ein verzerrter, was wiederum die Gefahr birgt, dass jugendkulturelle Normen und Symbole oder muslimische Gemeinschaftsmerkmale falsch gedeutet werden. In diesem Kontext sollten auch Interventionen wie der Leitfaden Deradikalisierung des Wiener Stadtschulrates äußerst kritisch betrachtet und evaluiert werden.

Politische Sozialisation erfolgt zum Großteil über latente, indirekte Einflüsse, hauptsächlich über das oben erwähnte Lernen am Modell. Jugendliche werden also auch darüber politisch sozialisiert, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Werden sie und wichtige Eigenschaften ihrer Identität als problematisch definiert? Vor allem: Wie erfolgt diese Definition und wie wird sie ausverhandelt? Und: Leben wir Jugendlichen durch ihre Identifizierung und Behandlung als Problemfälle nicht undemokratisches Verhalten vor?

Deradikalisierungsmaßnahmen, die gegen den Willen von Jugendlichen erfolgen, widersprechen einerseits der UN Kinderrechtskonvention – Artikel 13:1 „Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäußerung“ (UNICEF Österreich o.J.) –, andererseits können sie gar keinen positiven Erfolg erzielen, wenn Jugendliche nicht mitwirken wollen.

Präventionsmaßnahmen, die meist in zeitlich begrenzten Projekten organisiert sind, können nur kurze direkte Einflüsse auf die identifizierten Gruppen ausüben. Aufgrund von meist kurzfristigen Projektfinanzierungen stehen sie außerdem unter einem hohen Legitimationsdruck, was eine kritische Auseinandersetzung über Zielgruppen und Wirksamkeit erschwert. Eine solche Simplifizierung wird der Komplexität von politischer Sozialisation nicht gerecht und ändert nichts an den problematischen Strukturen innerhalb der individuellen Sozialisationsinstanzen und der gesamten Gesellschaft.


7. Empfehlungen und Ausblick
Eine Grundfrage bleibt: Ist Deradikalisierung von Jugendlichen und die damit oft verbundene Entwertung von deren Weltbildern überhaupt notwendig und in welcher Form macht sie Sinn? Deradikalisierungsmaßnahmen von außen sollen das bisherige Weltbild von identifizierten Jugendlichen entwerten und ihnen sogenannte Gegenerzählungen anbieten. Die Jugendlichen sollen dann die Gegenerzählungen in ihr Weltbild integrieren. Kommen diese von außen, besteht die Gefahr, dass Anknüpfungspunkte fehlen, wenn der Bezug zu jugendlichen Lebenswelten und den Strukturen der jeweiligen Sozialisationsinstanzen nicht gegeben ist. Außerdem werden Jugendlichen diese Gegenerzählungen ebenfalls von erwachsenen Autoritäten näher gebracht, im Gegensatz zu den bisherigen sind diese allerdings nicht selbst gewählt. Sie unterscheiden sich zwar inhaltlich von ideologischen Vereindeutigungen, die Weitergabe erfolgt strukturell aber ähnlich. Daher können derartig konzipierte Maßnahmen zwar kurzfristig erfolgreich sein, eine nachhaltige Veränderung werden sie aber nicht bewirken können.

Das Weltbild von Jugendlichen ist kein gefestigtes, es entwickelt sich im Laufe der Adoleszenz und der Identitätsausbildung und teilt sich im Übergang zum Erwachsenenalter in verschiedene Rollen auf. Auch das Verweilen in jugendkulturellen Szenen löst sich mit diesem Übergang langsam auf, außerdem weisen sie eine hohe Durchlässigkeit auf. Es ist in der Jugendphase ganz normal, zwischen verschiedenen Szenen zu wechseln, in das Weltbild der Jugendlichen werden jeweils aber nur bestimmte Teilaspekte übernommen. Wird Deradikalisierung der tertiären Prävention zugeordnet, welche das Ziel verfolgt, Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, stellt sich außerdem eine weitere wichtige Frage: Sind Jugendliche, welche an gesellschaftlichen Institutionen wie Schule, Ausbildungsstätten oder Jugendeinrichtungen angebunden sind und dort radikale Gesellschaftskritik äußern, nicht durch diese Anbindung per se bereits in die Gesellschaft integriert? Und inwieweit gefährdet ihre mögliche Identifizierung durch Erwachsene als Problemfälle diese Anbindung und wirkt einer weiteren gesellschaftlichen Integration dadurch entgegen?

Es wäre anzudenken, für die größte Gruppe von Personen, die vom Verfassungsschutz als Dschihadisten bezeichnet werden, die der jungen Erwachsenen und Erwachsene, gesellschaftliche Institutionen verstärkt zu öffnen. Mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres fallen Menschen aus vielen Bildungs- und Unterstützungsangeboten, was in dieser schwierigen Übergangsphase zum Erwachsenenalter biographische Brüche begünstigen kann.

Zusammenfassend wäre es sinnvoll, Projekte im Bereich der politischen Bildung bei den Stärken und Interessen der Jugendlichen anzusetzen und die dahinter liegende Haltung von einem Problem- zu einem Ressourcenfokus zu verschieben. Derartige Projekte sollten etwas schaffen und nicht verhindern.

Die Grundfrage politischer Bildung sollte nicht sein, wie der Mensch richtiges politisches Denken lernt, sondern wie er politisches Denken lernt. (vgl. Kleeberg-Niepage 2012: 10)

Jugendliche sollten über Teilnahme, Dauer und Intensität sowie die allgemeine Gestaltung mitentscheiden können. Welches Verhalten als problematisch eingestuft wird, muss sowohl für die Jugendlichen, als auch für die Öffentlichkeit transparent sein. Das Einfordern von Respekt darf nicht nur auf die eigene Funktion als LehrerIn, SozialarbeiterIn oder muslimischeR GelehrteR gegründet sein, Begegnungen müssen auf Augenhöhe erfolgen. So werden demokratische Prinzipien Jugendlichen nicht nur vorgelebt, sie können sie auch selbst erfahren und kritisches Denken lernen, was ein Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft ist. Das gemeinsame Hinterfragen von menschenfeindlichen und autoritären Strukturen in der gesamten Gesellschaft und den individuellen Sozialisationsinstanzen der Jugendlichen sowie deren Veränderung sollten mit individuellen Hilfen das Ziel von Präventionsmaßnahmen sein. Ein Anfang wäre, den Lerngegenstand Politische Bildung für alle Schulen Österreichs einzufordern und zu einem kritischen Unterrichtsprinzip zu transformieren.


Literatur

Bröckling, Ulrich (2008): Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. In: Behemoth. A Journal on Civilisation, 1, S. 38-48.

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Über die Autorin

Fabian Reicher, BA
f.reicher@backbone20.at

Sozialarbeiter bei Back Bone – Mobile Jugendarbeit 20, mit den Schwerpunkten Burschenarbeit, Einzelfallarbeit in den Bereichen Delinquenz und Arbeit/Berufsausbildung; Teil des Fortbildungsteams der Beratungsstelle Extremismus.