soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/400/735.pdf
Simone Wührer:
1. Einleitung: Der öffentliche Raum „Markt“
Die Auseinandersetzung mit – und Begegnungen in – öffentlichen Räumen gehören zum Alltag in vielen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Die Perspektiven, aus welcher die Beschäftigung mit öffentlichen Räumen erfolgt, und die AdressatInnen, die im Zentrum der Auseinandersetzung stehen, sind vielfältig. Unabhängig von den konkreten Rahmenbedingungen ist davon auszugehen, dass es für eine Arbeit im Sinne der jeweiligen Zielgruppen notwendig ist, die Qualitäten des öffentlichen Raumes zu kennen und die Prozesse vor Ort zu verstehen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen ein spezifischer Typ öffentlicher Räume und dessen Qualitäten: der Markt.
Märkte nehmen im Diskurs um öffentlichen Raum eine spezielle Rolle ein. In Form der griechischen Agora und des römischen Forums stellen sie einen der ältesten Typen von öffentlichen Räumen dar. (vgl. Fritsche 2010: 194) Hans Paul Bahrdt (1998) beschreibt den Markt als „früheste Form einer Öffentlichkeit im soziologischen Sinne“ (Bahrdt 1998: 83).
Lange waren Märkte in Wien die wichtigsten Bezugsquellen für Lebensmittel. (vgl. Bauer 1996: 68) Obwohl Menschen inzwischen aufgrund zahlreicher Alternativen nicht mehr auf den Einkauf auf Märkten angewiesen sind, haben diese trotzdem Bestand. Die Gründe dafür sind vielfältig – ein wesentlicher Anreiz dürfte das „Ambiente“ von Märkten sein. Das Einkaufen am Markt ist mit einem gewissen „Erlebnis“ verbunden. Der Marktbesuch wird als „Repräsentation einer urbanen Kultur“ beschrieben. (vgl. Hatz/Schwarzenecker 2009: 281-282)
Aus der Perspektive der (sozialraumorientierten) Sozialen Arbeit ist besonders die soziale Funktion von Märkten relevant, zu der es inzwischen eine beachtliche Zahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt. Bereits in der Antike waren Märkte nicht ausschließlich auf ihre Versorgungsfunktion reduziert. Sie bildeten auch das soziale Zentrum von Städten. (vgl. Weyand 2012: 243) Das Potenzial von Märkten, das Zusammenleben von Menschen positiv zu beeinflussen, wird in Untersuchungen auch für die Gegenwart als sehr hoch eingeschätzt, wie die folgenden Ausführungen noch verdeutlichen werden. In diesem Zusammenhang werden Märkte zwar oftmals als „soziale Räume“ bezeichnet, eine raumtheoretische Auseinandersetzung bleibt bislang aber weitgehend aus.
Diese Ausgangslage bildet die Basis für die von der Autorin dieses Beitrags an der FH Campus Wien verfassten Masterarbeit mit dem Titel „Sozialraum Markt. Eine Analyse der sozialräumlichen Bedeutungen des Wiener Viktor-Adler-Marktes“ (vgl. Wührer 2014). Die wesentlichen Erkenntnisse aus dieser Arbeit werden nachfolgend zusammengefasst. Der Schwerpunkt liegt auf den Ergebnissen bisheriger Studien zum sozialen Potenzial von Märkten, dem Defizit ihrer sozialräumlichen Betrachtung und der Beschreibung einer ebensolchen sozialräumlichen Untersuchung eines Wiener Marktes, dem Viktor-Adler-Markt. Ziel der wissenschaftlichen Betrachtung war die Ermittlung der sozialräumlichen Bedeutungen des Marktes für seine unterschiedlichen NutzerInnengruppen.
2. Die soziale Bedeutung von Märkten
Studien zeigen, dass Märkte für ihre BesucherInnen eine wichtige soziale Rolle einnehmen können. Besonders hervorgehoben wird ihre Funktion als Treffpunkt für Personen aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft. Märkte werden als „ebenbürtige Spielfelder“ bezeichnet, die Begegnungen begünstigen. (vgl. Pottie-Sherman 2011: 20, 12) Beim Zusammentreffen auf Märkten werden Ungleichheiten relativiert und Interaktionen gefördert, hält Alfonso Morales (2011: 7f) fest.
Der eingangs bereits zitierte Hans Paul Bahrdt (1998) beschreibt in diesem Zusammenhang das Phänomen der „unvollständigen Integration“. (vgl. Bahrdt 1998: 86) Märkte sind Orte, an denen eine Kontaktaufnahme zwischen einander nicht bekannten Personen möglich sei, wobei die einzelnen AkteurInnen entscheiden können, ob und wie sie mit anderen Personen interagieren möchten. Die Beteiligten sind zwar Teil des Systems des Marktes, können aber selbst darüber bestimmen, welche Informationen sie über sich selbst preisgeben. (vgl. ebd.: 83)
Sophie Watson und David Studdert (2006) haben sich mit Märkten als Orte der „sozialen Interaktion“ auseinandergesetzt. Sie beschreiben Märkte als öffentliche Orte, deren soziale Relevanz sich durch unterschiedliche Dimensionen auszeichnet: Soziale Interaktionen, die Entstehung sozialer Bindungen, das Zusammentreffen und Vermischen unterschiedlicher Gruppen sowie soziale Inklusion. (vgl. Watson/Studdert 2006: 14) Es wird betont, dass auch minimale Formen von Kommunikation zur Verminderung von Vorurteilen gegenüber anderen Menschen beitragen können. Die Forschungsergebnisse heben zudem hervor, dass Märkte die gesellschaftliche Integration unterstützen. Vor allem für SeniorInnen wird diese Rolle unterstrichen. (vgl. Watson 2009: 1581-1583) StandbetreiberInnen sind dabei ein besonders wichtiger Faktor, die Beziehung zu den VerkäuferInnen ist ein wesentlicher Grund für den Marktbesuch (vgl. Watson/Studdert 2006: 16) Als Faktoren, die Interaktionen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen fördern, identifiziert Watson (2009) die Formlosigkeit des Markthandels, die räumliche Offenheit von Märkten, die Nähe der Marktstände zueinander und den einfachen Zugang. (vgl. Watson 2009: 1581-1582)
Neben diesen äußerst positiven Positionen gegenüber Märkten existieren auch kritischere Beiträge, die das Potenzial zwar nicht grundsätzlich negieren, aber darlegen, dass auf Märkten auch gegensätzliche Tendenzen beobachtet werden können, die in der Exklusion von Mitgliedern der Bevölkerung resultieren. (vgl. etwa Gonzalez/Waley 2013, Janssens/Sezer 2013, Shaw/Bagwell/Karmowska 2004) Dieses Risiko wird besonders jenen Märkten attestiert, deren BesucherInnen ein verhältnismäßig niedriges Einkommen haben. Wird die wachsende Popularität von Märkten dafür genutzt, diese Orte auch für wohlhabendere Zielgruppen zu erschließen, besteht die Gefahr, dass damit einhergehende Änderungen des Warenangebots und Preisniveaus zu einer Verdrängung der ursprünglichen KundInnen führt. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang auch der Trend, benachteiligte Gebiete einer Stadt mit hohen Migrationsanteilen als „exotische“ Orte zu definieren, um diese für einkommensstärkere Gruppen interessanter zu machen. (vgl. Gonzalez/Waley 2013: 970) Es wird vor einer Gentrifizierung der betroffenen Märkte und ihrem Umfeld gewarnt. (vgl. Janssens/Sezer 2013: 169)
3. Die sozialräumliche Betrachtung von Märkten
Wie einleitend erwähnt wurde, ist in Forschungsarbeiten von Märkten zwar vielfach von Märkten als „soziale Räume“ beziehungsweise „social spaces“ (vgl. Pottie-Sherman 2011: 10) die Rede, aber in nur wenigen Ausnahmen erfolgt eine Diskussion des verwendeten Raumbegriffes (vgl. etwa Stillerman 2006, Ünlü-Yücesoy 2013).
Seitdem der viel zitierte „spatial turn“ Eingang in die Disziplin der Sozialen Arbeit gefunden hat, sind eine Vielzahl an unterschiedlichen Zugängen, Konzepten und Methoden im Hinblick auf soziale Räume entstanden. Die Entwicklung dieser Methodenvielfalt wird kritisch betrachtet, da sie zu divergierenden Diagnosen über die Gesellschaft und deren räumliche und soziale Organisation führe. (vgl. Holzinger 2007: 66) Dies unterstreicht die Relevanz einer bewussten Auseinandersetzung mit dem Begriff Sozialraum.
Die „fast inflationäre Rede“ (Kessl/Reutlinger 2010: 39) von Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit ist verknüpft mit unterschiedlichen Raumvorstellungen, die sowohl materialistische, konstruktivistische und relationale Zugänge beinhalten. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt auf der relationalen Betrachtung von Räumen, die zwischen konstruktivistischen und materialistischen Zugängen vermittelt. Sie inkludiert sowohl räumliche Konstruktionsprozesse als auch vorgegebene Ordnungen des Räumlichen. (vgl. ebd.: 28-29)
Bei einer sozialräumlichen Analyse von konkreten Orten – wie etwa Märkten – muss demnach diese Wechselwirkung berücksichtigt werden: Ein Ort wird zum einen durch soziale Praktiken produziert und zum anderen erfolgt eine strukturelle Beeinflussung der Handlungen durch bestehende Ordnungen. Diesen Anspruch hat auch die Untersuchung des Wiener Viktor-Adler-Marktes. Bevor auf die dafür angewandten Forschungsmethoden und die Interpretation der Ergebnisse eingegangen wird, erfolgt eine Beschreibung dieses Wiener Detailmarktes.
4. Der Viktor-Adler-Markt in Wien
Der Viktor-Adler-Markt ist einer von 17 Wiener Detailmärkten und liegt im Gemeindebezirk Favoriten. Favoriten ist mit 186.450 EinwohnerInnen der bevölkerungsreichste Bezirk der Stadt. (vgl. MA23 2014: 60) Die für Wien überdurchschnittlich hohen Anteile an Arbeitslosigkeit, PflichtschulabgängerInnen und Personen mit niedriger beruflicher Qualifikation weisen auf eine sozioökonomische Benachteiligung der Favoritner Bevölkerung im gesamtstädtischen Vergleich hin. (vgl. MA18 2010: 39-40)
Der Viktor-Adler-Markt wurde 1877 – drei Jahre nach der Eingemeindung des Bezirkes – gegründet. (vgl. Wolf 2006: 177) Seit dem Ende der 1970er-Jahre grenzt er an die damals errichtete Fußgängerzone der Favoritenstraße, im gleichen Zeitraum erfolgte der Anschluss an das Wiener U-Bahnnetz. (vgl. Bousska 2012: 50)
Ein Teil des Marktes besteht aus standfesten Bauten. Im anderen Teil werden mobile Stände täglich auf- und abgebaut. Laut einer Frequenzzählung, die jährlich auf Wiener Märkten durchgeführt wird, besuchen den Markt etwa 13.000 Menschen pro Woche, wobei darauf hingewiesen wird, dass diese Zahl stark von der vorherrschenden Witterung oder angrenzenden Baustellen beeinflusst ist. (vgl. Magistrat der Stadt Wien 2013)
Wissenschaftliche Beiträge zum Viktor-Adler-Markt bestehen zu einem überwiegenden Teil aus historischen Betrachtungen. Zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation muss auf Informationen der Stadt Wien, der Wirtschaftskammer und auf die mediale Berichterstattung zurückgegriffen werden. Zu sozial[räumlich]en Aspekten vor Ort gibt es bisher keine Veröffentlichungen. Die mediale Berichterstattung konzentriert sich Großteils auf die am Viktor-Adler-Platz stattfindenden Parteiveranstaltungen vor Wahlen.
5. Forschungsdesign
Zur Untersuchung der sozialräumlichen Qualitäten des Viktor-Adler-Marktes wurde auf eine Kombination unterschiedlicher Erhebungsmethoden zurückgegriffen. Die Methodenwahl richtete sich an den Forschungsfragen aus und orientierte sich an der von Marlo Riege und Herbert Schubert (2005) entwickelten Typologie von Sozialraumanalysen. Zur Differenzierung von Stadtgebieten nach innen betonen Riege und Schubert die Bedeutung der Kombination von strukturanalytischen und verhaltensanalytischen Komponenten und unterstützen damit relationale Raumbetrachtungen. (vgl. Riege/Schubert 2005: 45-46) Bei der Untersuchung am Viktor-Adler-Markt handelte es sich um eine methodische Triangulation aus einer sekundäranalytischen Strukturanalyse, Stadtteilbegehungen, Beobachtungen und Leitfaden-Interviews:
Die Auswertung der Erhebungen erlaubte eine differenzierte Beschreibung der NutzerInnen sowie deren Nutzung und Wahrnehmung des Marktes. Die Ergebnisse charakterisieren außerdem dessen räumliche Strukturen und die demographische Bevölkerungsstruktur im Umfeld. Verknüpft mit Raumtheorien lassen diese Resultate Rückschlüsse auf die sozialräumlichen Qualitäten des Marktes zu.
6. Ergebnisse der Untersuchung: Der „Sozialraum Viktor-Adler-Markt“
6.1 Raumkonstitution am Viktor-Adler-Markt
Die Raumkonstitution am Viktor-Adler-Markt wurde in Anlehnung an das relationale Raumkonzept von Martina Löw (2009) analysiert. Löw bezeichnet Raum als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten.“ (Löw 2009: 224) Sie beschreibt eine „Dualität von Raum“, die aus dem Zusammenspiel von Handeln und Struktur entsteht.
„Das bedeutet, daß räumliche Strukturen eine Form von Handeln hervorbringen, welches in der Konstitution von Räumen eben jene räumlichen Strukturen reproduziert.“ (ebd.: 172)
Die Strukturen am Viktor-Adler-Markt betreffend, zeigte die Untersuchung, dass die Handlungsoptionen von NutzerInnen durch die baulich-physischen Eigenschaften des Marktes deutlich beeinflusst werden.
Abbildung 1 und 2 veranschaulichen die Anlage des Marktes. Die einzelnen Stände sind parallel zueinander angeordnet, wobei manche versetzt platziert sind. Dies führt dazu, dass unterschiedliche Gangbreiten entstehen. Gleichzeitig wird eine Sichtachse zwischen westlicher und östlicher Seite verhindert. Aus dieser Anordnung resultiert eine gewisse Unübersichtlichkeit des Marktes. Manche der befragten NutzerInnen gaben an, sich im Markt schlecht zurechtzufinden.
Abbildung 1: Plan Viktor-Adler-Markt (Wirtschaftskammer Wien, Marktmanagement 2014)
Abbildung 2: Satellitenbild Viktor-Adler-Markt (eigene Darstellung, erstellt mit ESRI ArcMap 10.0, World Imagery)
Das Marktgebiet, das sich im Gegensatz zu den Marktständen in öffentlichem Eigentum befindet, ist jederzeit für NutzerInnen zugänglich. Auch außerhalb der Geschäftszeiten können der Markt und dessen Gänge ohne jegliche Barriere betreten werden. Auffallend ist, dass es im Markt außerhalb der Gastronomielokale keine Sitzmöglichkeiten gibt, was auf eine geringe Aufenthaltsqualität schließen lässt. Die primär vorgegeben Funktionen scheinen Einkauf und Konsum zu sein.
Blickt man auf die Handlungsdimension am Markt, stimmt die Nutzung des Marktes durch die äußerst heterogen zusammengesetzten BesucherInnen zu einem großen Teil mit diesen Vorgaben überein. Die vorrangige Bedeutung des Marktes sind wie erwähnt Einkauf und Konsum. Die Untersuchung zeigte aber gleichzeitig, dass es auch abweichende Aneignungsformen am Markt gibt. Es wurden unterschiedliche nicht-kommerzielle Nutzungen festgehalten. Eine wesentliche Bedeutung des Marktes liegt in seiner Funktion als Aufenthaltsort. Sowohl während der Öffnungszeiten als auch außerhalb wurden Einzelpersonen und Gruppen angetroffen, die am Markt oder dessen Randzonen verweilten, ohne einzukaufen oder bei Gastronomieständen zu konsumieren. Fehlende Sitzmöglichkeiten wurden dabei in manchen Fällen durch das Anlehnen an Wände kompensiert. Die verwinkelte räumliche Anlage des Marktes gewährt eine gewisse „Abschirmung“ von der stärker belebten Favoritenstraße. Ein weiteres Beispiel einer Uminterpretation der vorgegebenen räumlichen Ordnung stellt das Spiel von Kindern dar. Die Struktur der Gänge scheint sich positiv auf die Attraktivität des Marktes zum „Fangen“ oder „Verstecken“ Spielen auszuwirken.
Löw (2009: 224f) bezeichnet das Platzieren oder Positionieren von Lebewesen oder Gütern als „Spacing“. Im Zusammenhang mit dem sich platzieren der NutzerInnen am Viktor-Adler-Markt lässt sich neben den bereits genannten Tendenzen ein weiterer Einflussfaktor der räumlichen Anlage des Marktes auf die Nutzung erkennen: Es wurde eine Trennung in stärker und schwächer frequentierte Teilbereiche festgestellt. Während sich im Marktbereich, der an die Fußgängerzone angrenzt, und an den Randzonen verhältnismäßig viele Menschen aufhalten, besuchen wenige Personen Stände, die sich im inneren und westlichen Teil des Marktes befinden. Es zeigte sich außerdem in den Interviews, dass sich manche BesucherInnen oder Gruppen bewusst von anderen Gruppen entfernt platzieren, um Abstand zu ihnen zu halten. Auf diese Spannungen wird in der Folge noch eingegangen.
Neben dem Spacing spielt laut Löw (2009) die „Syntheseleistung“ für die Konstitution von Räumen eine zentrale Rolle. Erst durch „Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse“ (Löw 2009: 225) werden Güter sowie Lebensweisen miteinander verknüpft und als Raum wahrgenommen. Bei der Untersuchung wurde zwar nicht grundsätzlich die Wahrnehmung des Viktor-Adler-Marktes als Markt an sich hinterfragt. Dennoch leisteten Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse einen wichtigen Beitrag zu einem vertieften Verständnis der Raumwahrnehmung der AkteurInnen.
So zeigte sich etwa, dass die StandbetreiberInnen den Markt ausschließlich als Ort der kommerziellen Nutzung wahrnehmen, während bei Gesprächen mit BesucherInnen auch nicht-kommerzielle Nutzungen im Mittelpunkt standen. Die Tatsache, dass die Arbeit am Markt den Lebensunterhalt der StandbetreiberInnen ausmacht, scheint zu bewirken, dass sie alternative Nutzungen des Raumes weniger stark wahrnehmen.
Ein weiterer Wahrnehmungsunterschied wurde zwischen Personen mit Migrationshintergrund und Personen ohne Migrationshintergrund erkenntlich. In den Interviews wurde deutlich, dass die Zahl der MarktbesucherInnen und StandbetreiberInnen mit Migrationshintergrund im Laufe der letzten Jahre gestiegen sein dürfte. Die statistische Analyse der demographischen Daten stützt diese Angaben. Auch im Wohnumfeld wuchs der Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft oder Geburtsort im Ausland. Diese Veränderung am Markt wird unterschiedlich bewertet. Während Personen mit Geburtsort in Österreich diesen Trend tendenziell negativ beurteilen und damit einhergehend teils starke negative Zuschreibungen geäußert werden, gilt er für Personen mit Migrationshintergrund im Kontrast dazu eher als Anreiz für den Marktbesuch.
Für beide Positionen haben die von Löw (2009) diskutierten Erinnerungsprozesse eine Relevanz. In den Interviews zeigte sich, dass viele Personen ohne Migrationshintergrund die derzeitige Situation am Markt mit der persönlich wahrgenommenen Vergangenheit vergleichen, die oft als positiver beschrieben wird als die Gegenwart. Personen mit Migrationshintergrund vergleichen den Markt hingegen mit Erinnerungen an ihre „Heimat“, an die der Markt mit seinem Angebot und seiner Atmosphäre erinnert.
Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass die Wahrnehmung eines Ort zwischen unterschiedlichen Personen und Gruppen stark differenzieren kann.
6.2. Der Viktor-Adler-Markt als sozialräumliche Ressource
Die Resultate der Masterarbeit lassen nicht nur einen Blick auf die sozialräumliche Konstitution des Marktes zu, sondern geben – in Anlehnung an die raumtheoretischen Ausführungen von Pierre Bourdieu (1985) – auch einen Einblick in die individuellen Sozialräume der BesucherInnen. Der Viktor-Adler-Markt stellt eine sozialräumliche Ressource für seine NutzerInnen dar, so die These.
Die Stellung einer Person im sozialen Raum wird laut Bourdieu (1985: 10f) durch ihr ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital bestimmt. Ziel der Analyse war zu ermitteln, für welche dieser Kapitalsorten der Markt als eine Ressource fungieren kann. Die Ergebnisse zeigen, dass der Viktor-Adler-Markt primär eine Relevanz für das soziale Kapital von Menschen innehat. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass die Prozesse und Beziehungen vor Ort auch das ökonomische und kulturelle Kapital beeinflussen.
Was das soziale Kapital betrifft, ist die Funktion des Viktor-Adler-Marktes als beliebter Treffpunkt hervorzuheben. Nahezu alle Bevölkerungsgruppen, die in der statistischen Analyse des Wohnumfelds beschrieben wurden, sind am Markt vertreten, wenn auch ein verhältnismäßig hoher Altersdurchschnitt herrscht. Ebenso besuchen Personen aus anderen Bezirken den Markt. Die teils sehr niedrigen Preise ermöglichen auch Menschen mit verhältnismäßig geringem ökonomischem Kapital den Einkauf. Die Befragten zeigten sich insgesamt sehr zufrieden mit dem Markt. Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge äußerten sie nur wenige. Es wurden vielfältige soziale Interaktionen zwischen NutzerInnen beziehungsweise zwischen NutzerInnen und StandbetreiberInnen vorgefunden. Die Intensität der Beziehung ist unterschiedlich stark und reicht von der bloßen Anwesenheit am Markt um „unter Leuten zu sein“ bis zur Bezeichnung der Kontakte am Markt als „zweite Familie“. Wie auch in anderen Studien deutlich wurde (vgl. Watson 2009: 1583), spielen StandbetreiberInnen eine wichtige Rolle als AnsprechpartnerInnen und stellen für manche Personen einen zentralen Grund für den Marktbesuch dar. In manchen Interviews mit NutzerInnen wurde in diesem Zusammenhang betont, dass bewusst bei ausgewählten Marktständen eingekauft würde, um deren InhaberInnen wirtschaftlich zu unterstützen. Dieses Beispiel veranschaulicht, wie aus Sicht dieser StandbetreiberInnen soziales Kapital in ökonomisches Kapital umgewandelt wird.
Darüber hinaus dürfte der Markt auch eine Rolle für das kulturelle Kapital seiner NutzerInnen spielen. Bourdieu (2005: 52-53) geht dabei vorrangig auf die Bildung von Menschen ein, zu der etwa kulturelle Veranstaltungen zu zählen sind, die vereinzelt am Viktor-Adler-Markt stattfinden. Andere AutorInnen argumentieren, dass bereits durch das Zusammentreffen von Personen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund deren kulturelles Kapital gesteigert werden könne. Durch diese Erfahrung und die dadurch erworbenen Kenntnisse über bisher unbekannte Produkte oder Praktiken würden deren kosmopolitische Kompetenzen gestärkt, so das Argument. (vgl. Pottie-Sherman 2011:16)
Zum sozialen Kapital ist einschränkend festzuhalten, dass zwischen bestimmten AkteurInnen Interaktionen nur begrenzt stattfinden und es auch Konflikte am Markt gibt. Ein wesentliches Spannungsfeld sind die bereits erwähnten Vorbehalte und teils stark negativen Zuschreibungen der alteingesessenen NutzerInnen gegenüber der BesucherInnen und StandbetreiberInnen mit Migrationshintergrund. Kontakte zwischen Personen mit Migrationshintergrund und Personen ohne Migrationshintergrund wurden nur sehr eingeschränkt vorgefunden.
Dies verdeutlicht, dass der Viktor-Adler Markt eine sozialräumliche Ressource für die NutzerInnen darstellen kann, dass diese positive Betrachtung aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass das Potenzial in dieser Hinsicht nicht vollständig ausgeschöpft ist und am Markt auch Aus- und Abgrenzungsprozesse vorzufinden sind.
7. Fazit
Das Potenzial der Begegnung der unterschiedlichen NutzerInnen, das wie einleitend beschrieben teils als sehr hoch eingeschätzt wird, resultiert also nicht automatisch in einem konfliktfreien oder gelingenden Zusammenleben. Dennoch wurde deutlich, dass Märkte wichtige Ausgangspunkte sein können, um dieses Ziel zu verfolgen. Im Falle des Viktor-Adler-Marktes bietet die sehr heterogene Zusammensetzung der NutzerInnen, die Großteils die demographischen Strukturen des Wohnumfelds widerspiegelt, eine gute Basis um viele Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Ein öffentlicher Raum, der von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen regelmäßig aufgesucht wird und mit dem eine so hohe Identifikation besteht, kann einen wertvollen Ausgangspunkt für die (sozialraumorientierte) Soziale Arbeit oder Stadtteilarbeit darstellen, um etwa dem beschriebenen Spannungsfeld entgegenzuwirken.
Eine Möglichkeit, die sozialen Qualitäten des Viktor-Adler-Marktes durch räumliche Veränderungen zu steigern, könnte darin bestehen, an den baulichen Strukturen anzusetzen und die Aufenthaltsqualität durch Sitzgelegenheiten außerhalb der Gastronomiebetriebe zu verbessern. Angebote zum Verweilen gelten als wichtiger Faktor für sozial erfolgreiche Märkte (vgl. Watson/Studdert 2006: 52) und als eine Grundbedingung für die Entstehung von Begegnung und Integration im öffentlichen Raum (vgl. MA18 2006: 93). Neben dieser baulichen Dimension ist selbstverständlich auch die Handlungsperspektive nicht zu vernachlässigen, wenn eine Verbesserung des Zusammenlebens erreicht werden soll.
Ungeachtet der beschriebenen möglichen positiven Effekte, muss an dieser Stelle auf eine Einschränkung hingewiesen werden. Interventionen am Markt und in seiner Umgebung haben sicherlich das Potenzial, viele Aspekte des Zusammenlebens zu verbessern, strukturelle Probleme können auf dieser kleinräumigen Ebene aber nur eingeschränkt bearbeitet werden. (vgl. Reutlinger 2012: 322)
Abschließend soll der Mehrwert einer sozialräumlichen Herangehensweise zur Untersuchung von Orten hervorgehoben werden. Eine Analyse der sozialen Praxis am Markt, ohne die (demographischen und physischen) Strukturen zu kennen, hätte zu verzerrten und unvollständigen Ergebnissen geführt. Umgekehrt wäre ein ausschließlicher Blick auf die Strukturen ohne Berücksichtigung der individuellen Handlungen der relevanten AkteurInnen – aus sozialräumlicher, aber auch als sozialarbeiterischer Sicht – unzureichend. Die Verknüpfung der beiden Perspektiven und die Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen ermöglichen den Erwerb differenzierter Kenntnisse der Prozesse vor Ort und unterstützen damit das professionelle Handeln der Sozialen Arbeit.
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Über die Autorin
Simone Wührer, MA, Jg. 1985
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