soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Einwürfe/Positionen" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/401/711.pdf


Fabian Kessl & Christian Reutlinger:

„Sozialraumorientierung“: Von der Reformhoffnung zum Heilsversprechen

Die (bundesdeutsche) Situation am Anfang der 2010er-Jahre1


1. „Ein Hype, der schon fast wieder ein bisschen vorbei ist?“
Nach der Implementierungsphase sozialraumorientierter Konzepte und Modelle seit Anfang der 1990er-Jahre lässt sich 20 Jahre später von deren Etablierung sprechen. Während die Implementierung sich mit der nachfolgend beschriebenen historischen Reformkonstellation erklären lässt, ist die inzwischen erreichte Etablierung allerdings nur zu verstehen, wenn Berücksichtigung findet, dass sich (1.) das Programmversprechen einer „Sozialraumorientierung“ verselbständigt hat – ein von den Autoren befragter bundesdeutscher Experte2 spricht von einem „Hype“, der allerdings „auch schon wieder ein bisschen vorbei (sei)“ (IV 7: Z. 179); (2.) die sehr allgemeinen Programmformeln (vgl. Kessl/Reutlinger 2010: 44), die mit einer Sozialraumorientierung verbunden werden, auf einem Generalitätsniveau verbleiben, das unklar lässt, welche konkreten Veränderungsstrategien damit tatsächlich verbunden werden; (3.) die dominierenden Forderungen nach einer Sozialraumorientierung der Kinder- und Jugendhilfe zumeist nur auf die „Struktureben“ zielen, wie ein weiterer Experte formuliert (vgl. IV 4: Z. 215f), womit er auf eine Dominanz der Dezentralisierungsdynamiken im Kontext der kommunal-administrativen Diskussionen um eine Sozialraumorientierung aufmerksam macht; und dass die fehlenden externen Evaluationen schließlich (4.) keine angemessene Beurteilung der bisherigen Ergebnisse zulassen, die mit den vielfältigen Neujustierungsprozessen hin zu einer Sozialraumorientierung der Kinder- und Jugendhilfe erreicht wurden. Schließlich bezweifeln die ExpertInnen (5.), ob mit der Rede von der „Sozialraumorientierung“ überhaupt noch relevante Reformfragen des fachlichen Handlungsvollzugs verbunden seien, also die Ermöglichung pädagogischer Settings und angemessener Beziehungskonstellationen angestrebt wird (vgl. IV 5: Z. 124ff). Sozialraumorientierung scheint ihres Erachtens nach – in ihrer gegenwärtig dominierenden Version (vgl. Kapitel 2.2) – primär nicht den fachlichen Erbringungskontext und die Ebene sozialpädagogischer/sozialarbeiterischer Erbringung im Blick zu haben, sondern die Politikberatung und den damit verbundenen Berater-Markt (vgl. IV 4: Z. 499ff).

Insofern ist die feststellbare Etablierung der Sozialraumorientierung nicht mit der Etablierung eines bestimmten Niveaus der Reform der Kinder- und Jugendhilfe (im vorliegenden Fall: v. a. der bundesdeutschen) zu verwechseln, sondern zeigt sich – zumindest in ihrer vorherrschenden Form – eher als Etablierung bestimmter dominierender Beratungsprogramme.

Diese dominanten Dynamiken und Erscheinungsformen der gegenwärtig zu beobachtenden Debatten um eine „Sozialraumorientierung“ der bundesdeutschen – aber zunehmend auch der österreichischen und schweizerischen – Kinder- und Jugendhilfe bzw. Jugendwohlfahrt lassen sich in dreifacher Weise differenzieren: erstens in Bezug auf die a-historische Dimensionierung dieser Forderung nach einer „Sozialraumorientierung“, zweitens hinsichtlich des ganzheitlichen Gestus der präferierten „Sozialraumorientierung“ als einem Programm mit Heilsversprechen und drittens in Bezug auf ihre Gestalt als Produkte auf einem Beratermarkt, dessen KundInnen die kommunalen (Sozial-)Administrationen und die sozialen Dienstleistungsagenturen, z. B. große Träger und/oder Wohlfahrtsverbände, darstellen.


2. Charakteristika der vorherrschenden Sozialraumorientierungsprogramme
2.1 Die a-historische Dimensionierung „Sozialraumorientierung“

Eine A-Historizität tritt in den Sozialraumorientierungsprogrammen in zweifacher Weise auf. Erstens legitimieren sich die gegenwärtig vorherrschenden Ansätze und Positionen über eine eigene, selektive Geschichtsschreibung (vgl. demgegenüber Bingel 2011). Diese ist zumeist weder diskurshistorisch noch sozialgeschichtlich eingebettet. Wenn zum Beispiel von einem „Paradigmenwechsel vom Feld zum Fall“ die Rede ist, der in „Ausbildungsinstitutionen auch heute noch nicht rückgängig gemacht (worden sei)“ (Treeß 2002: 929), dann wird eine empirisch nicht belegte Entwicklung hin zur ausschließlichen Einzelfallorientierung zur Legitimation der präferierten „fallunspezifischen“ (Deutschendorf et al. 2006: 215) Perspektive unterstellt. Dazuhin wird mit dem Zeitpunkt einer sozialraumorientierten Neujustierung eine historische Veränderung markiert, die die tatsächliche Entwicklung im Feld der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe in weiten Teilen unberücksichtigt lässt. In der historischen Reformkonstellation seit dem Ende der 1980er-Jahre kam es zu einem Paradigmenwechsel hin zu einer konstitutiven Subjekt- und AdressatInnenorientierung ebenso wie hin zu einem konstitutiven Einbezug des Erbringungskontextes des jeweiligen Einzelfalls. Insofern ist seither in der bundesdeutschen Fachdebatte, aber auch im zeitgleich verabschiedeten Sozialgesetzbuch, eine Berücksichtigung der AdressatInnen- und NutzerInnenperspektive ebenso wie die Inblicknahme von deren Alltag und von deren Lebenswelt für die Kinder- und Jugendhilfe konstitutiv – unabhängig von der tatsächlichen oder angestrebten Präsenz von Sozialraumorientierungsprogrammen. Die Bezugnahme auf diese fachlichen Prämissen wird allerdings in diesen Programmen nicht systematisch ausgewiesen.

Eine zweite Gestalt findet die A-Historizität in den dominierenden sozialraumorientierten Konzepten dadurch, dass „Sozialraumorientierung“ immer wieder als ein Heilsversprechen präsentiert wird. Als solches wird „Sozialraumorientierung“ wie ein deus ex machina inszeniert, der aus dem Nichts aufzutreten scheint, sobald ein entsprechendes Beratungsprogramm in einer Kommunaladministration oder einem Wohlfahrtsverband eingekauft wird. Auch diese Inszenierung ist nur dadurch möglich, dass eine Einordnung und Relationierung zur vorliegenden Fachdebatte weitgehend unterbleibt oder auf nur allgemeine, reduktionistische Einschätzungen verkürzt wird (vgl. z. B. Noack 2015). Aber auch eine systematische Relationierung zentraler fachlich-konzeptioneller Forderungen zu den aktuellen (sozial- und bildungs-)politischen Auseinandersetzungen in Bundes- und Landeskontexten sowie in einzelnen kommunalen Kontexten bleiben zumeist aus: Zentrale Fragen bleiben unbeantwortet, z. B. wie die sozialraumorientierte Dezentralisierungsstrategie im konkreten urbanen Kontext zu beobachtbaren Auf- und Abwertungstendenzen (Gentrifizierung) in Beziehung gesetzt werden kann und sollte, oder wie Aktivierungsstrategien angesichts der zunehmenden Dominanz einer neuen „Aktivgesellschaft“ (Lessenich 2009) zu legitimieren sein sollen bzw. eben zu problematisieren sind.


2.2 Der ganzheitliche Gestus der „Sozialraumorientierung“: ein Programm mit Heilsversprechen
Die Basis einer Esoterik der Ganzheitlichkeit dominierender Handlungs- und Fachkonzepte einer „Sozialraumorientierung“ bildet ihr a-theoretischer Anspruch in ihrer konzeptionellen Fundierung und Legitimation (vgl. dazu auch Stoik 2013). Sie scheinen deshalb weder einem wissenschaftlichen Paradigma noch einer fachlichen Tradition, sondern vermeintlich nur der Praxis verpflichtet zu sein. Entsprechend wird auch der eigene Anspruch dahingehend formuliert, Handlungsanleitungen nur für die Praxis bereit zu stellen (vgl. Curaviva 2010). Vorgeschlagene Begrifflichkeiten, Methoden und Bausteine bleiben dabei aber generalistisch und häufig auch proklamatorisch-allgemein, d. h. systematisch unbestimmt. Mehr noch: Ihre Legitimation geschieht eher in einer alltagsweltlichen, also a-professionellen Begründungslogik. Das Ergebnis ist dann die Übersetzung von einzelnen, über Jahrzehnte hinweg propagierten Programmformeln in singuläre methodische Elemente, die für sich genommen u. U. sogar unstrittig sein können (z. B. der Bezug auf Interessen der AdressatInnen durch deren direkte Befragung), aber in ihrer Banalisierung und fehlenden Systematisierung unspezifisch und damit fachlich wie (kommunal-)politisch unscharf bleiben. Vor allem aber kann der konstitutiven Notwendigkeit jeden professionellen Handelns, sich mit den Paradoxien und Widersprüchen fachlichen Handelns (vgl. Schütze 1996) auseinandersetzen zu müssen, damit in keiner Weise Rechnung getragen werden. Das Verblüffende ist dabei nicht der Rezeptionserfolg der dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme selbst, sondern der Grund für diesen Erfolg, der nicht zuletzt in ihrer Konturlosigkeit und Generalisierung begründet zu sein scheint: Als unverbindlicher Allgemeinplatz werden solche Programme für fast jede (fach-)politische Position anschlussfähig, und vor allem auch für die unterschiedlichsten fachlichen und (fach-)politische Strategien (ver-)nutzbar. Schließlich kann niemand aus Sicht einer professionellen Kinder- und Jugendhilfe per se etwas gegen die Stärkung der Menschen und eine Berücksichtigung ihres Willens, gegen das Fördern von Gemeinschaftlichkeit, das Denken und Arbeiten in Netzwerken oder ganzheitliche Lösungen haben. Doch die für eine professionelle Kinder- und Jugendhilfe entscheidende Berücksichtigung von Sachverhalten wird damit systematisch verfehlt. Aspekte wie diejenigen, dass der Wille des Einzelnen keine unabhängige, intentionale Größe, sondern immer auch eine „adaptive Präferenz“ (vgl. Steckmann 2008) darstellt, oder dass die Förderung lokaler Gemeinschaftlichkeit im Kontext einer sich verstärkenden Klassengesellschaft Ausschließungsprozesse mit legitimieren (vgl. Groenemeyer/Kessl 2013), ja sogar verstärken kann, bleiben unberücksichtigt. Eine ebensolche Verkürzungsgefahr enthält die Reduzierung einer Ressourcenorientierung auf Checklisten.

Positionen, die auf solche Verkürzungen verweisen und damit kritische Einwände gegen die dominierenden Forderungen nach einer Sozialraumorientierung formulieren und systematische Definitions- und Reflexionsansprüche stellen, aber auch auf die bereits erreichten Differenzierungsgrade in der Fachdebatte der Kinder- und Jugendhilfe aufmerksam machen – Positionen also, die die Frage nach Differenzierung oder Spezifizierung oder nach den Möglichkeiten und dem Sinn der Verknüpfungen einzelner „sozialraumorientierter“ Elemente stellen, werden von den ProtagonistInnen der dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme, aber auch von manchen VertreterInnen in Kommunen und Verbänden als Bedrohung erlebt und als solche zurückgewiesen. Wie in einem Glaubenskampf werden diese KritikerInnen dann als „Ketzer und Häretiker“ beschimpft, scheinen sie doch den Weg ins gelobte Land einer „Sozialraumorientierung“ wieder verstellen zu wollen. Um ihre kritischen Einwände nicht berücksichtigen zu müssen, wird ihnen „Alltagsfremde“ und „Praxisferne“ attestiert. Über eine solche Dichotomisierung von „Theorie versus Praxis“ lassen sich klare Fronten zwischen den scheinbar Zugehörigen und den scheinbar bedrohlichen Fremden, den Guten und den Bösen, konstruieren. Unter Bezug auf falsche Gegenüberstellungen, wie die von „Theorie versus Praxis“ lässt sich dann eine Positionierung für diejenigen suggerieren, die sich dem Programm der „Sozialraumorientierung“ anschließen (sollen). Die AnhängerInnen der „Sozialraumorientierung“ können sich im Einflussgebiet dieser Esoterik der Ganzheitlichkeit auf dem Weg in eine adäquate und richtige Welt der Kinder- und Jugendhilfe imaginieren.

Ein weiteres wesentliches Element der Esoterik der Ganzheitlichkeit liegt in der Inszenierung, mit welcher die Allgemeinplätze einer „Sozialraumorientierung“ als Heilsversprechen präsentiert werden. Realer Hintergrund ist dabei häufig der (Veränderungs- und Reform-)Druck, unter welchem viele FachpolitikerInnen, AmtsleiterInnen und Organisationsverantwortliche gegenwärtig im kommunalen Kontext stehen: Eine unbedingte Modernisierung und der Umbau bisheriger Strukturen scheint ihnen angesichts der administrativen Sparforderungen, der Konkurrenz gegenüber anderen Anbietern oder der Platzierung gegenüber potenziellen KundInnen unausweichlich. Neue Antworten und ein anderer Weg als der bisherige scheinen damit gefragt, ja erforderlich. Damit sind diese AkteurInnen empfänglich für Heilsversprechen, simple und nachvollziehbare Generallösungen. Den Boden für den Erfolg von Heilsprogrammen, wie sie die dominierende „Sozialraumorientierung“ verspricht, bereitet somit der gegenwärtige Modernisierungs- und Spardruck, aber auch eine Suche nach Handlungssicherheit in Anbetracht der vielfältigen Anfragen nach Effektivität und Wirkung fachlicher Interventionen.

Die dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme erweisen sich damit als Versprechen eines, allerdings deutlich verkürzten „Change Managements“; und die ProtagonistInnen dieser Programme als Beratungsgurus, wie sie teilweise auch aus dem Bereich der Unternehmensberatung bekannt sind. Diese Analogie belegt auch die Erscheinungsform der konkreten Prozesse in kommunalen Administrationen und Trägern: Wie im Change Management, das in kommerziellen Industrie- und Dienstleistungsbereichen Anwendung findet, wird der Auftakt eines sozialraumorientierten „Changes“ häufig im Rahmen einer Großveranstaltung inszeniert. Im Zentrum steht dann der „Experte“ – der Protagonist eines bestimmten Konzepts der „Sozialraumorientierung“ oder/und eine charismatische Leitungsfigur einer Organisation, die sich bereits zu dieser sozialraumorientierten Neujustierung bekennt. Diese Figuren personalisieren das Heilsversprechen des zu implementierenden Programms. Die generalisierten Programmformeln werden von diesem, zumeist in leicht verständlicher Botschaft, formuliert. Immer wieder wird hierbei auch die bisherige Praxis der Anwesenden, oder zumindest ihr institutionell/organisationaler Arbeitszusammenhang deutlich kritisiert – ganz ähnlich wie in Bekehrungsveranstaltungen von manchen Glaubensgemeinschaften. Damit ist die Suggestion manifestiert, sich in eine neue Welt aufmachen zu können. Voraussetzung dafür ist es, sich der neuen Heilslehre anzuschließen. Manches Mal wird der „Heilsbringer“ noch von AkteurInnen weiterer, bereits beratener Kommunen oder Organisationen begleitet, um ZeugInnen für den Erfolg der Heilsbotschaft vorweisen zu können. Auch dieses Strukturprinzip ist von Erweckungsveranstaltungen bekannt: SkeptikerInnen und ZweiflerInnen sollen von Beginn an zum Verstummen gebracht und Einwände gleich abgewiesen werden, indem man den Erfolg des Heilsversprechens „belegt“. Realisiert wird damit allerdings nicht weniger als eine anti-professionelle und anti-intellektualistische Haltung. Damit wird der Boden für eine weitere Professionalisierung der Kinder- und Jugendhilfe tendenziell unfruchtbar gemacht.


2.3 Der Beratermarkt für „Sozialraumorientierung“
Spätestens mit der Integration von quartiersbezogenen Programmen in zahlreichen Stadtentwicklungsprogrammen, aber auch mit der Ausweitung der kommunalen Sozialpolitik, ist der Sozialraum zur adäquaten und von der politischen Administration fokussierten Steuerungseinheit geworden. Dezentralisierungsstrategien stehen seit der Diskussion um die sogenannte Verwaltungsmodernisierung der kommunalen Administration Anfang der 1990er-Jahre im Zentrum des Interesses, und kleinräumige Aktivierungsstrategien schließen an die Diskussionen um die Mobilisierung bürgerschaftlichen Engagements bzw. des sozialen Kapitals in einzelnen Nachbarschaften oder BewohnerInnengruppen an.

In diesem Kontext ist es wenig verwunderlich, dass sich Fach- und Handlungskonzepte der „Sozialraumorientierung“ zum „Verkaufsschlager“ (IV 2: Z. 470), wie es ein Fachverbandsvertreter formuliert, auf dem Beratungsmarkt für kommunale Administrationen für Wohlfahrtsverbände im Feld der Kinder- und Jugendhilfe entwickeln. Damit werden zweierlei Aspekte deutlich: Zum einen ist auch in der Kinder- und Jugendhilfe die „Wissensgesellschaft II“, wie sie Resch (2005: 81) nennt, angekommen; und zum anderen realisiert sich diese beraterbasierte Wissensgesellschaft im Modus eines „Beraterkapitalismus“ (ebd.), das heißt im Modell der Kommodifizierung von Beratungsinhalten – im hiesigen Fall des Beratungsangebots „Sozialraumorientierung“.

Entgegen der weit verbreiteten Annahme, heutige Vergesellschaftungsprozesse seien in wachsendem Maße von Information und Wissen geprägt, zeigt Resch (2005: 82), dass in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft das „Bewusstsein ihres Fehlens“ das entscheidende Charakteristikum darstellt. Nicht die Anhäufung von Inhalten, sondern der Aufbau von Beratungsangeboten ist damit strukturbildend – gerade auch auf der Ebene politischer Steuerung. Diese müssen kontinuierlich nachgehalten und angefragt werden. Genau das zeigt sich auch im Fall der dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme: Kommunen oder Verbände erhoffen sich eine zielgerichtete, effektive, schnell anwendbare Beratung. Verweise auf die Komplexität des professionellen Erbringungsverhältnisses (z. B. auf die konstitutiven Paradoxien professionellen Handelns), auf die strukturellen Einflussgrößen, die nicht auf der Ebene sozialpädagogischer Intervention lösbar sind (z. B. auf Kinder- und Familienarmut) oder auf die differenten, widersprüchlichen, eigensinnigen und keineswegs per se kurzfristig lösbaren Bedarfe der AdressatInnen (z. B. angemessene Wohnbedarfe, ausreichend existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse oder die Integration in eine De-facto-Einwanderungsgesellschaft) erscheinen dabei nur sperrig und hinderlich für die Präsentation politischer Aktionsfähigkeit. Beratungsangebote, die dazuhin in Form eines Heilsversprechens inszeniert werden, erweisen sich dagegen als passgenaues Produkt. Entsprechend werden Angebote, die eine „Sozialraumorientierung“ als Allheilmittel für die Kinder- und Jugendhilfe versprechen, nicht nur von Leitungskräften in Kommunaladministration und Verbänden nachgefragt, sondern von den ProtagonistInnen der Programme auch aufgebaut – analog zu Angebotsstrukturen in weiteren Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, z. B. im Bereich der Organisation von Fallberatungsprozessen in Jugendämtern oder der Implementierung eines wirkungsorientierten Managements. Organisiert sind diese Beratungsanfragen und -angebote marktförmig, nicht zuletzt, weil die Kommunaladministrationen seit der Etablierung der sogenannten Neuen Steuerung den Einkauf von Leistungen als effizienter und effektiver ansehen. Damit werden Fach- und Handlungskonzepte einer „Sozialraumorientierung“ zu vermarktbaren Produkten. Einer der befragten Experten spricht daher auch von einem bereits entstandenen „Beratermarkt“ (vgl. IV 4: Z. 482). Eine fachliche Auseinandersetzung über die Inhalte dieser Produkte ist damit nochmals strukturell erschwert, denn die BeraterInnen müssen jeden fachlichen Einwand sofort als Schwächung ihrer Marktposition verstehen, als Angriff also auf ihr Produkt, dessen Marktgängigkeit damit in Frage gestellt werden könnte. Aber auch die KundInnen – kommunale Administrationen wie Wohlfahrtsverbände – müssen das Produkt verteidigen, um den Kauf der Beratungsleistung auch nachträglich weiter legitimieren zu können. Die fachliche Auseinandersetzung wird allerdings nicht nur durch den Aufbau eines beraterkapitalistischen Marktes, sondern auch vonseiten möglicher KritikerInnen strukturell eingeschränkt – auch hier geht man davon aus, dass KritikerInnen potenziell am ehesten im institutionalisierten Forschungsfeld zur Sozialen Arbeit, also an Hochschulen zu finden sind. Denn dieses Feld ist am Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend in einen „akademischen Kapitalismus“ (Münch 2011) überführt worden, in dem die erkennbare Positionierung („Alleinstellungsmerkmal“) zum entscheidenden Faktor geworden ist. Somit besteht auch hier die Gefahr, dass eine Kritik einzelner Sozialraumorientierungsprogramme nur formuliert wird, um sich selbst auf dem Beratungsmarkt zu positionieren, z. B. um Drittmittel zu generieren, indem man ein eigenes, alternatives Beratungsprodukt etabliert. Oder Kritik wird nur in modifizierter Form geäußert, da eine grundlegende Herrschaftskritik die eigene Positionierung auf dem akademischen Markt strategisch gefährden könnte. Daher spricht der bereits zitierte Experte auch nicht nur vom Berater-, sondern vom „Kritiker- und Beratermarkt“ (vgl. IV 4: Z. 482).

Die dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme erweisen sich funktional somit nicht in erster Linie als professionelle Fachkonzepte, sondern als Programme der Politikberatung oder/und als Organisationsberatungsangebote im Stile von Unternehmensberatungen, deren Strukturprinzip ihre Vermarktbarkeit und damit ihre Ausrichtung an den Steuerungsvorstellungen der AuftraggeberInnen darstellt.


3. Fazit und Ausblick
Das Label der „Sozialraumorientierung“ markiert Reformprogramme, mit denen zwei unterschiedliche Entwicklungsdimensionen verhandelt werden: eine veränderte Fachlichkeit und eine veränderte Steuerung, die insbesondere als Aktivierung und Dezentralisierung umgesetzt werden (vgl. dazu ausführlich Kessl/Reutlinger 2010). Die sehr breite Präsenz der Rede von der „Sozialraumorientierung“, u. a. in der Kinder- und Jugendhilfe, beruht nicht darauf, dass sich die entsprechenden fach- und handlungskonzeptionellen Programme im Vergleich zu anderen Konzepten als fachlich-adäquater oder effizienter in der Erbringungsqualität erwiesen hätten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass entsprechende (externe) Evaluationen respektive wissenschaftliche Begleitungen bis heute weitgehend ausstehen, eine fachliche Passung oder Erbringungsqualität also gar nicht nachweisbar ist.

Die Programme einer „Sozialraumorientierung“ konnten sich in der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe aufgrund einer spezifischen historischen Reformkonstellation seit Anfang der 1990er-Jahre durchsetzen. Damals wurden bestimmte fachliche Standards neu definiert, auf die sich inzwischen auch die Konzepte der „Sozialraumorientierung“ – implizit oder explizit – berufen (können). Die nachfolgende Etablierung der dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme gelang dann, weil sie sich als ein konzeptionell unbestimmtes und generalistisches Beratungsprodukt mit Heilsversprechen auf dem entstandenen Beratermarkt platzieren konnten.

Die Reformhoffnungen, wie sie die Fachdebatten – unter der Überschrift „Sozialraumorientierung“ wie unter anderen Überschriften – in der Kinder- und Jugendhilfe der vergangenen 35 Jahre in vielfacher Weise bestimmt haben, sind dennoch nicht hinfällig. Sie erfordern allerdings eine genaue Analyse der jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Kontexte und eine damit verbundene angemessene fachpolitische, organisationale wie fachlich-professionelle Positionierung. Dass dies den dominierenden Sozialraumorientierungsprogrammen nicht ausreichend gelingt, zeigt sich anhand der unzureichenden Inblicknahme der spezifischen und zugleich differenten institutionellen, räumlichen, aber auch kommunalpolitischen und organisationalen Dimension. Es ist daher notwendig, die bestehenden Reproduktionsmuster vorherrschender institutioneller wie räumlicher Ordnungen, in die sozialpädagogische AkteurInnen wie ihre NutzerInnen permanent eingewoben sind, und die sie dadurch auch mit produzieren, genau in den Blick zu nehmen.

Für eine entsprechende Sozialraumforschung, die in kritischer Distanz die Bedingungen, Logiken und Praktiken des konkreten sozialräumlichen Tuns in der Kinder- und Jugendhilfe analysiert, wurden in den vergangenen Jahren einige weiterführende Arbeiten vorgelegt (vgl. Diebäcker 2014, Düring 2011, Langhanky et al. 2004, Landhäußer 2009, Alisch/May 2008, Sandermann/Urban-Stahl 2007). Was noch aussteht sind sowohl externe Evaluationen der bisher durchgeführten sozialraumorientierten wie sozialräumlichen Projekte, aber auch Studien im Bereich der Grundlagenforschung zur Frage der Raum[re]produktion Sozialer Arbeit, zur urbanen Transformation Sozialer Arbeit und zur transdisziplinären Dimensionierung einer Sozialraumforschung. Zugleich sind in Korrespondenz zu diesen Befunden sowie in kritischer Auseinandersetzung mit den bisher dominierenden Sozialraumorientierungsprogrammen Perspektiven für eine angemessene Weiterentwicklung sozialräumlicher, sozialraumsensibler oder sozialraumgestaltender Reformprogramme aus zu formulieren.


Verweise
1 Der vorliegende Text basiert auf einem Kapitel aus dem Beitrag „Sozialraumorientierung“ der Autoren, der im „Kompendium Kinder- und Jugendhilfe“ (hrsg. von Karin Böllert) 2016 bei SpringerVS erscheint.
2 Die Autoren haben 2013 mit mehreren VertreterInnen repräsentativer deutschsprachiger Fachverbände im Rahmen einer Vorstudie zu einer international-vergleichenden Forschungsarbeit (Deutschland/Schweiz) ExpertInnengespräche durchgeführt. Ausschnitte daraus sind mit Kürzel „IV“ ananymisiert dargestellt.


Literatur

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Diebäcker, M. (2014): Soziale Arbeit als staatliche Praxis im städtischen Raum. Wiesbaden: Springer VS.

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Über die Autorin

Dr. Fabian Kessl
fabian.kessl@uni-due.de

Erziehungs- und Politikwissenschaftler, Hochschullehrer an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen.

Dr. Christian Reutlinger
christian.reutlinger@fhsg.ch

Hochschullehrer an der FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Leiter des Instituts für Soziale Arbeit (IFSA) und verantwortlich für das interdisziplinäre Kompetenzzentrum „Soziale Räume“.