soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/402/739.pdf


Zander, Margherita (2015): Laut gegen Armut – leise für Resilienz. Was gegen Kinderarmut hilft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.


307 Seiten / EUR 24,90

Armut ist heute keineswegs ein Randgruppenphänomen, sondern Bedingung und Begleiterscheinung gesellschaftlicher Entwicklungen. Ein Aufwachsen in familiärer Armut stellt eines der zentralen Entwicklungsrisiken für Kinder und Jugendliche dar.

„Armut zeigt individuelle Gesichter, aber trägt tief eingegrabene strukturelle Züge“ (Zander 2015: 263).

Das Voranbringen einer gesellschaftlichen Praxis der Armutsbekämpfung im Allgemeinen sowie von Kinderarmut im Besonderen erfordert gebührende politische Priorität und ist Anliegen dieser Publikation.

Die Autorin Margherita Zander ist kritische Sozial- und Politikwissenschaftlerin und ausgewiesene Armutsforscherin seit Anfang der 1990er-Jahre. Zunehmend fokussierte sie ihr Forschungsinteresse auf Kinderarmut in Deutschland und führte gemeinsam mit Karl August Chassè eine der ersten Studien mit Grundschulkindern auf Basis des Lebenslagenkonzepts durch. In den fast zwei Jahrzehnten, in denen die Autorin die Armutsdiskurse in Deutschland durch Forschungsbeiträge, Präventionskonzepte und Begleitung von Modell- und Förderprojekten bereicherte, trat sie dafür ein, dass Armut nicht nur aus einem individualisierenden und biografischen, sondern auch aus einem strukturellen und gesellschaftspolitischen Blickwinkel zu betrachten sei. Im vorliegenden Sammelband zieht die Autorin mit ihren gesammelten Fachbeiträgen und Vorträgen aus dem Zeitraum von 1997 bis 2014 Bilanz, lädt zum Weiterdenken und vor allem zum Handeln ein.


Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich, nach einer persönlichen Vorbemerkung von C. Wolfgang Müller zur Person der Wissenschaftlerin, in fünf zentrale Themenfelder der Armuts- und Resilienzforschung und endet mit einem Nachwort des renommierten Kinderarmutsforschers Karl August Chassè. Jedes Hauptkapitel besteht neben einer inhaltlichen Einführung in den thematisierten Problemkreis, der zugleich den aktuellen Stand der Diskussion berücksichtigt, aus drei bis sieben fokussierten Beiträgen, die einen Bogen über fast zwei Jahrzehnte Forschungsarbeit spannen.

Im ersten Kapitel (Kinderarmut als gesellschaftliches Problem, 1997-2008) werden grundlegende Fragen zu den Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen von Kinderarmut bearbeitet und als gesellschaftliches Problem beschrieben. Dabei zeigen die unterschiedlichen Beiträge, wie es durch zunehmend besorgte Stimmen aus der sozialen Praxis zum Problembewusstsein bezüglich Kinderarmut in Deutschland kam. Wurden Kinder und Jugendliche noch in den 1990er-Jahren ausschließlich als abhängige Variablen von Familien gesehen, kommt heute eine erweiterte Perspektive zum Tragen, nämlich jene der Armut von Kindern und der Armut der Erwachsenen, die mit den Kindern leben und für sie Sorge tragen. Ein Beitrag beschäftigt sich u. a. auch mit den unterschiedlichen Armutsbegriffen und den damit kolportierten Zahlen in Medien und Publikationen, die vor allem Verwirrung in der Diskussion über das Ausmaß von Kinderarmut stiften und gesellschaftlich zur Leugnung der Existenz dieser Armutsproblematik führen. Ebenso wird Armutsprävention in verschiedenen Stufen und auf unterschiedlichen Ebenen mit Beispielen illustriert. Abgerundet wird das erste Kapitel mit einem Interview des Fernsehsenders Arte, in dem die Autorin sehr pointiert ihre Expertise zu zentralen Fragen der Kinderarmut in Deutschland darlegt.

Nach dieser eher analytischen Betrachtung von Kinderarmut in Deutschland werden im zweiten Kapitel (Subjektive Auswirkungen und Bewältigung von Armut, 2000-2007) Erkenntnisse aus einer Reihe von (eigenen) qualitativen Querschnittstudien und einer quantitativ und qualitativ angelegten Längsschnittstudie, die sich mit den subjektiven Auswirkungen und der Bewältigung von Armut auseinandersetzt, vorgestellt. Die Erkenntnisse zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie ihre Berechtigung für heute im Vergleich mit aktuelleren Studien nicht eingebüßt haben. Begonnen wird dieses Kapitel mit einem „Thesenanschlag“ über Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat, der „Armut im Reichtum als Widersinn“ definiert und gängige Deutungsmuster (erwerbsbezogen, familienpolitisch zentriert, sozialstaatskritisch, kindzentriert) zur Armutsbekämpfung zusammenfasst. Die Bewältigungsstrategien von Kindern und Familien, Kinderarmut aus Kindersicht sowie Initiativen zur Förderung von Armutsprävention sind weitere Aspekte mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt. Interessant lesen sich auch die Ausführungen über den historischen Paradigmenwechsel im Armutsdiskurs und in der Armutsforschung – nach dem Motto „Wir hören den Kindern zu“ werden Erkenntnisse aus eigener qualitativen Forschung „Was wir zu hören bekommen“ mit substanziellen Schlussfolgerungen „Auf die Kinder hören“ verknüpft. Im letzten Beitrag ruft die Autorin zu einem interdisziplinären Dialog zwischen der neuen soziologischen Kindheitsforschung, der qualitativen Kinderarmutsforschung und der Resilienzforschung auf, um neue Anstöße für die praxisorientierte sozialpädagogische Arbeit „zum Wohl der Kinder“ zu erhalten.

Das dritte Kapitel (Von der Theorie zur Praxis – Handlungsperspektiven für die Soziale Arbeit, 2004-2009) widmet sich Fragen der Armutsprävention und stellt Handlungsperspektiven für die Soziale Arbeit in den Mittelpunkt. Zentral sind demgemäß Reflexionen, wer oder was dabei die Rolle der Sozialen Arbeit bestimmt. Befassen sich die ersten beiden Artikel mit unterschiedlichen Sichtweisen zur Rolle der Sozialen Arbeit im Armutskontext, so beinhaltet der dritte Beitrag theoretische Reflexionen zum Handlungsauftrag der Sozialen Arbeit, dem Konzept der Lebenslage als zentrales Verständnis von Kinderarmut sowie konkrete Handlungsempfehlungen mit Praxisbeispielen. Der letzte Beitrag im Kapitel, der anlässlich einer wissenschaftlichen Projektbegleitung entstand, beschäftigt sich mit konzeptionellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zweier Modellprojekte in Saarbrücken.

Das vierte Kapitel (Resilienzförderung – ein neuer Weg?, 2011-2014) stellt die Resilienzforschung in den Mittelpunkt und fragt danach, warum gerade Resilienzförderung bei von Armut betroffenen Kindern als gezielte Präventionsmaßnahme erfolgreich eingesetzt werden könnte. Dabei wird das Resilienzkonzept ausschließlich in seiner Bedeutung für die (sozial-)pädagogische Praxis beschrieben. Neben kurzen Interviews, die einzelne Aspekte zum Thema sehr treffend darlegen, werden in einem ausführlichen Grundsatzbeitrag die Leitgedanken von Resilienzförderung aufgezeigt und durch ein dreijähriges Projekt mit Roma-Flüchtlingskindern, die eine besonders risikobehaftete Lebenssituation zu bewältigen haben, veranschaulicht. Ebenso wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, warum die Berücksichtigung von Genderdifferenzen in der Resilienzförderung von Mädchen und Buben bedeutsam ist und zu guter Letzt wird auch der Versuch unternommen, auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Resilienzförderung sowie der in der Sozialen Arbeit weitverbreiteten Ressourcenorientierung einzugehen.

Das fünfte Kapitel (Anforderung an die Politik, 2012-2014) fasst schließlich nötige Konsequenzen für die Politik zusammen. Die Beiträge beschäftigen sich mit der Frage: Warum bewegt sich so wenig? Dabei zeigt die Autorin unmissverständlich auf, dass bis heute keine zufriedenstellenden Lösungen für die grundlegenden sozialen Herausforderungen in Deutschland umgesetzt wurden. Im ersten Beitrag findet Margherita Zander sehr klare Worte und konstatiert fehlenden politischen Willen und fehlende wirksame Maßnahmen zur Verringerung von Kinderarmut. Es gebe aus ihrer Sicht heute nicht nur Wissen über ein

„ausgefeiltes und angemessenes Instrumentarium, Armutsphänomene und -entwicklungen quantitativ zu erfassen, sondern auch über ein empirisch fundiertes Wissen über ihre ‚qualitative Seite’, also das subjektive Erleben von Armut“ (ebd.: 257f).

Kinderarmut ließe sich deshalb auch wirkungsvoll bekämpfen. Die Autorin bündelt im letzten Kapitel die Anforderungen an die Politik in vier Leitsätze, die hier kurz mit Absicherung der materiellen Grundversorgung der Kinder (1), Bildungschancengleichheit (2), Erleichterung der Erwerbstätigkeit von Eltern mit existenzsichernden Löhnen (3) sowie wirksamen Präventionsketten bei gleichzeitiger Orientierung an Resilienzförderung als pädagogisches Konzept (4) genannt werden.


Diskussion
Mit diesem Sammelband ist es Margharita Zander sehr gut gelungen, den Kinderarmutsdiskurs mit all seinen Implikationen aus fast zwei Jahrzehnten in Deutschland darzustellen. Dabei sehe ich es als besonders verdienstvoll an, die Sicht von Armut aus unterschiedlichen Blickwinkeln – neben der Sicht von betroffenen Erwachsenen vor allem jene der Kinder – darzustellen. Ebenso wird durchgängig die Frage gestellt, wie Familien und im Besonderen Kinder bei der Bewältigung ihrer Lebenslage auf den unterschiedlichen Ebenen (materiell, konzeptionell, personell) unterstützt werden können.

Die einzelnen Problemkreise im Buch sind kompakt, anschaulich und hilfreich und bieten mit den meist für die Praxis konzipierten, aber theoretisch fundierten Texten einen komprimierten Einstieg in die jeweilige Fragestellung. Das Buch ist insofern auch gut lesbar und verständlich, weil die Beiträge zwischen Vortrag, Thesenpapier, Interview, Fachartikel, Abschlussbericht aus eigenen empirischen Forschungsarbeiten und Modellbeispielen der Sozialen Arbeit wechseln und so zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammengefügt wurden.

Dieses Buch verdient besondere Aufmerksamkeit und eignet sich sehr gut für Personen in der Sozialen Arbeit und Pädagogik, die sich einen Überblick zum Armuts- und Resilienzdiskurs verschaffen und gezielt zu wesentlichen Fragen nachschlagen wollen. Überzeugend zeigt Margherita Zander in ihrer Bilanz auf, dass im Bereich der Forschung und Berichterstattung schon vieles geleistet wurde, die Politik der Armutsbekämpfung sowie die Familien- und Kinderpolitik jedoch deutlich als defizitär einzustufen ist und deshalb großer Handlungsbedarf besteht.



Dr.in Mag.a phil. Ingrid Kromer / ingrid.kromer@kphvie.ac.at