soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/409/721.pdf


Gössl, Martin J. (2014): Schöne, queere Zeiten? Eine praxisbezogene Perspektive auf die Gender und Queer Studies. Bielefeld: transcript.


256 Seiten / EUR 29,99

Gender und Queer sind traditionelle Themen der Sozialarbeit – selbstverständlich wurden in der Geschichte der Sozialarbeitswissenschaft auch andere Begriffe dafür verwendet. Die „Frauenfrage“ z. B. war von Beginn der Sozialarbeitswissenschaft eines ihrer zentralen Themen. Gegenwärtig werden diese in verschiedenen Nachbardisziplinen intensiv diskutiert und entsprechende Forschungsfragen werden behandelt – ja, es ist schwierig geworden, zu diesem Themenbereich „am Laufenden“ zu bleiben. Ein anderes Problem besteht darin, dass Alltagspraxis, Forschung und Wissenschaft sowie Politik und Verwaltung in diesen Fragen kaum noch in Zusammenhängen arbeiten, was für eine praxisorientierte Wissenschaft wie die Sozialarbeitswissenschaft besonders problematisch ist. Daher ist es sehr hilfreich, wenn auf ein Buch zurückgegriffen werden kann, in dem der Versuch unternommen wird, in einer systematischen Zusammenschau die Thematik abzuhandeln. Mit dem Buch von Martin Gössl liegt nun ein sehr gelungener Versuch einer systematischen und gut lesbaren Zusammenschau der gegenwärtigen Debatte vor. Dazu ein kurzer Einblick in einige wichtige Diskussionsstränge seiner Argumentation:

„Diese vorliegenden Gedanken – Seitenlinien wissenschaftliche Erkenntnisse – begleiteten mich seit nahezu fünf Jahren, während ich für zwei wissenschaftliche Arbeiten klassische Forschungen durchführen durfte. Das Studium der Genderrollen und queeren Identitäten bildet meine tägliche Welt einer inneren und äußeren Auseinandersetzung. Wissenschaftliche Antworten können (und konnten) Teilgebiete erhellen und teilweise Fragen sehr weitreichend beantworten. Freilich entstanden dabei neue Fragestellungen und die Neugier nach weiteren Erkenntnissen wurde stärker und ausgeprägter.“ (Gössl 2014: 213f)

Was jedenfalls neu an der Behandlung der Themen ist, ist das Faktum, dass wesentliche Teile der Debatten im Internet „passieren“:

„Eine starke Triebfeder für diese Entwicklung stellt das Internet dar, aufgrund dessen man ohne reale Komponente, andere Personen mit gleichen Empfindungen und eventuell auch mit gleichen Lustvorstellungen finden kann. Die Gemeinschaftsbildung wurde damit besonders stark in queeren Subkulturen auf eine virtuelle Ebene gehoben. Die scheinbar einfache Form in Kontakt zu treten, subkulturelle Dimensionen in der Kultur einer Minderheit (also eine Subkultur in der Subkultur) zu schaffen und beinahe grenzenlos agieren zu können, täuschen über die Notwendigkeit einer ‚eigenen’ Realität hinweg. Denn, eine Realität gibt es und greift, früher oder später.“ (ebd.: 55)

Daraus ergaben sich neue „Realitäten“, so gibt es z. B. ein anderes Verständnis von Intimität:

„Intimität bedeutet dabei, als Name mit einem anderen Namen in Verbindung stehen zu wollen.“ (ebd.: 59)

Umgekehrt stellt der Autor fest, dass es überdauernde Haltungen und Bedürfnisse gibt:

„Es bleibt das Bedürfnis nach Vertrautheit, der historisch gewordenen Vorstellung von Romantik, von dem ‚wahren’ Gefühl in all dieser schnelllebigen Zeit. Die Freiheit der Individuen hat viele im harten Prozess der Individualisierung einer Unsicherheit ausgeliefert, die ein reflektiertes und individuelles Arbeiten an den eigenen Vorstellungen notwendig macht.“ (ebd.: 125f)

Oder:

„Doch der Mensch bleibt ein Geständnistier (Foucault, Der Wille zum Wissen) und möchte auch seine intimsten Momente mitteilen. Diese Suche nach einer Verbindung in der genau jene geheimen Emotionen und Wahrheiten Platz haben dürfen, gibt der Intimität eine besonders groteske Form der Verbundenheit zwischen Menschen, aber ebenso eine logische Komponente. Das hierfür vorhandene Vertrauen stellt einen gemeinsamen Tresor da, welcher Raum für Unaussprechliches bereithält. Vieles dessen, was gesellschaftlich als intim verstanden wird, sind natürliche Vorgänge und absolut mögliche Erlebnisse, die wiederum überall, jederzeit und von jeder/jedem gemacht werden (können).“ (ebd.: 142)

Was könnte daraus folgen?

„Der Weg einer Dekonstruktion von Kategorien birgt das Potenzial, weg von einem Ort der kollektiven Nostalgie von Liebe, ihn zu einem selbst definierten Leben und Lieben führen zu können.“ (ebd.: 206).

Dies setzt voraus, dass wir unsere herrschende eindimensionale Sichtweise auf menschliches Sein und Tun verabschieden und das Wagnis einer mehrdimensionalen Sichtweise eingehen:

„Die Ignoranz einer menschlichen Mehrdimensionalität der Identität führt fortlaufend und permanent zu Verkürzungen der Möglichkeiten und Einschränkungen der Fähigkeiten, da im traditionellen Verständnis, Zuschreibungen, wie beispielsweise anhand des ethnischen Hintergrunds, auf eine systemische, der Eindimensionalität entsprechenden, Einordnung treffen. So wird dem Geschlecht eine primär tragende (und manchmal omnipräsente) Rolle auf organisatorischer Ebene zugeschrieben, wobei die Sexualität, trotz der ebenso permanenten Relevanz, gerne einem stillen Wahrnehmungsverständnis untergeordnet wird.“ (ebd.: 183)

Es gibt neu ausgestaltete Machtkonflikte innerhalb der Gesellschaften, in deren Hintergrund jedoch der Kampf um die Erhaltung der patriarchalen Ordnung gesehen werden muss:

„Dieses Blinzeln in die Historie möglicher wagemutiger Erklärungen für die Grundlagen einer patriarchalen Ordnung, führen zumindest zu einer weiteren Mutmaßung, weswegen eine Behandlung der Geschlechterordnung so schwierig – nahezu unmöglich – werden könnte. Hierbei ist es weniger die Tradition, noch eine Determination aufgrund des langen Bestandes, als vielmehr die Tatsache, dass diese Grundlage eine erste, einfache Ordnung darstellt, auf welcher weiter aufbauende Ordnungen beruhen. Die Angst vor Anarchie, vor einer Unordnung bzw. vor Verlust, stellt die grundlegende Motivation für die Schaffung von ersten und weiter aufbauenden Strukturen – Normen – dar.“ (ebd.: 62)

Die Richtung für eine Ablösung der patriarchalen Ordnung, das Gegenbild zur scheinbaren hegemonialen Einheit wäre „eine gedrehte Spiegelung des machterhaltenden Systems, wodurch es zur Schaffung einer machtvollen Kritik auf breiter Basis kommen könnte. Eine intersektionale Machtbasis.“ (ebd.: 104)

Das wäre die Utopie, der abschließend der Autor eine Haltung der Skepsis gegenüberstellt:

„Das Zugeständnis von Macht ist niemals einer gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft und ihren Ressourcen gleichkommend. Das System der Wertung braucht, solange die Wertung aufrechterhalten bleibt, Abstufung für eine Wertschätzung. Beides sind die unbestreitbaren Essenzen von Ungleichstellungen. Essenzen der aktuellen Gesellschaft.“ (ebd.: 228)

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter – vor allem jene, die sich mit den Themen von gender und queer intensiver auseinandersetzen – können sich mit der Lektüre dieses Buches mit der gegenwärtigen Debatte vertraut machen und haben darüber hinaus beim Lesen den Genuss eines überaus differenzierten und verständlichen Schreibstils.



Klaus Posch / klaus.posch@fh-joanneum.at