soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/410/725.pdf


In der Betreuung von MigrantInnen stellt sich für SozialarbeiterInnen oftmals die Frage, ob es sinnvoll und notwendig oder umgekehrt falsch ist, KlientInnen mit Migrationserfahrungen nach ihren Erlebnissen bei der Flucht zu fragen. Die Psychotherapiewissenschaft als eine für diese Frage zuständige Nachbardisziplin der Sozialarbeitsforschung vermittelt dazu zwei widersprüchliche Ansichten: einerseits drohe die Gefahr, dass durch die Aufforderung, über ihre Flucht zu erzählen, die KlientInnen re-traumatisiert werden, andrerseits gibt es deutliche Hinweise, dass das erzählte Trauma nicht über jene krankmachende Wirkung verfügt als das nicht-erzählte Trauma. Was in diesem Dilemma weiterhelfen kann, sind ethnologische Forschungen, die den SozialarbeiterInnen einen Einblick in die strukturellen Hintergründe der individuellen Fluchterfahrungen geben. Darüber hinaus zeigt sich allgemein, dass die ethnologische Forschung für die Sozialarbeit und die Sozialarbeitsforschung und -wissenschaft ein/e überaus interessante/r interdisziplinärer Partner/in sein kann. Zwei Publikationen belegen diese Überlegungen.


Kastner, Kristin (2014): Zwischen Suffering und Styling. Die lange Reise nigerianischer Migrantinnen nach Europa. Münster: LIT-Verlag.


317 Seiten / EUR 29,90

In Kristin Kastners Buch über die lange Reise nigerianischer Migrantinnen nach Europa wird diese Reise in vier Etappen gegliedert, in denen jeweils spezifische Gefahren „lauern“:

Eine umfangreiche ethnologische Reflexion über „Beziehungen, Person, Körper“ und methodologische Überlegungen runden den Forschungsbericht ab.

Dass es sich nicht um eine distanzierte Forschungsarbeit handelt, sondern um einen sehr engagierte Arbeit, bei der die Ethnologin an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten gegangen ist, zeigen bereits die einführenden Geschichten ihrer zwölf Gesprächpartnerinnen. Ein Beispiel:

„Owens machte sich mit ihren kleinen Sohn nach Europa auf. 2001 überwanden sie den Estrecho. Ihr Mann war, wie sie später erfuhr, schon früher bei der Überfahrt ertrunken. Zuerst in Madrid, arbeitete sie dann bei Cadiz in der Straßenprostitution, wo sie nach wie vor mit ihrem Sohn lebt. Heute ist sie als Putzkraft in einem Hotel eingestellt. Owens hat durch die harten Jahre in Europa ihre Ruhe und Großzügigkeit verloren und erzählte mir mit ungewöhnlicher Offenheit von ihren Erlebnissen. ‘My son is everything for me! I left Nigeria in 1999 with my son on my back, he was one year old. I left, because I want to show my son another mentality, another culture, another education. Nigeria is not good. A man has many wife, there is lots of fight, too many babies. I want to show him another life, that is why I entered the road’“ (Tagebucheintragung vom 14.6.2006, Spanien; ebd.: 16).

Zunächst eine Übersicht zum Buch, wie sie von der Autorin vorgelegt wurde (Kastner 2014: 41ff): Der erste Teil des Buches Der Weg behandelt die Hintergründe der Reise auf dem Landweg nach Europa und zum System des Sponsoring – beides hat sich in den letzten Jahren für zahlreiche Akteure zu einer lukrativen Einkommensquelle entwickelt, da es kaum mehr möglich ist, den europäischen Kontinent auf legalem Wege zu erreichen. Es wird der schwierige und in der Literatur wenig bekannte Landweg aus Sicht der Reisenden dargestellt und mit einer körperethnologischen Perspektive verknüpft. Es geht zum einen um die Frage nach den Verbindungen zwischen der „klandestinen“ (= lt. Duden: „geheim vor anderen“; „vor der Öffentlichkeit absichtlich verborgen gehalten“; „bewusst nicht bekannt gegeben“, ein „Geheimnis“) Reise und der den europäischen Migrationspolitiken geschuldeten stetigen Verlagerung der Grenze zwischen Europa und Afrika in südliche Richtung; zum anderen um die Frage nach der Rolle des Körpers auf diesem entbehrungsreichen Weg der Frauen. Hier zeigt sich, dass der eigene Körper in vielen Situationen das einzige ist, was bleibt – als Objekt von Gewalt wie auch als Ressource.

Der zweite Teil des Buches behandelt das Leben in der Klandestinität der Hafenstadt Tanger. Auch hier, in dieser Stadt der Liminalität, zeigt sich in welch hohem Maße der Alltag und die sozialen Beziehungen der Transmigranten vom Grenzen unterschiedlicher Art geprägt sind, insbesondere von der unmittelbaren Nähe zum fast täglich sichtbaren und weniger als 20 km entfernten europäischen Kontinent, der durch immer ausgefeiltere Bewachungssysteme für die Wartenden zunehmend in weite Ferne gerückt ist. In diesem Zusammenhang wird die Rolle von „Mittlern“ beschrieben: wie sie es schon on the road waren und es auch bei der Überfahrt später in Spanien sein werden, sind die Transmigranten in Marokko auf ortskundige Mittler angewiesen, die ihnen den Weg weisen. Abgesehen von der Liminalität des Raums durchwarten die Transmigranten auch viele liminale Zeiten, die ein konkretes Ende entbehren. Es wird gezeigt, welche Taktiken die Transmigranten insbesondere die Frauen in diesem Zeit-Raum entwickelt haben, um sich trotz der Einschränkungen eine gewisse Mobilität zu bewahren und zudem neue Räume zu erobern. Neben der Flüchtigkeit ist die Gewalt eine weitere Konstante im Leben der Wartenden, die bei den Frauen untrennbar mit der Kommodifizierung ihrer Körper verknüpft ist. Doch zugleich ist der (schwangere) Körper hier erneut eine Ressource, den die Frauen zu formen einzusetzen wissen, um ihren Weg fortzusetzen, worin sich das ständige Oszillieren zwischen strukturellen Zwängen und Handlungsmöglichkeiten spiegelt.

Der dritte Teil, die Überfahrt, handelt von der Überwindung des „Estrecho“ (Straße von Gibraltar) per „Patera/Zodiac“ (= Holz- oder Hartgummiboot) einerseits auf der Grundlage eigener Beobachtungen, Außensichten der spanischen Presse und Innensichten der Protagonistinnen als verschiedene Perspektiven auf das gefährliche immer wieder tödlich endende Ereignis. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit der schwangere, kranke oder verletzte Körper für den weiteren Verlauf der Migrationsbiografie entscheidend ist. In den Beschreibungen der Überfahrt die Transmigrantinnen sind ähnliche Narrative erkennbar wie in ihren Schilderungen der Wüstendurchquerung. Im Gegensatz allerdings zu den unkontrollierbaren Weiten des saharischen Raums zeigt sich, dass der Grenzraum des Estrecho aufgrund der immer in engmaschiger werdenden Kontrolle durch eine Überstrukturierung gekennzeichnet ist und sich die Passierenden daher in einer Phase der verdichteten Liminalität befinden. Der Estrecho steht gewissermaßen zwischen Abfahrt und Ankunft und sucht diesen Grenzraum – sowohl Raum der Übergänge und Begegnungen als auch klare Trennlinie zu fassen.

Die vierte Etappe, das Leben in Spanien nimmt ihren Ausgang am Ankunftsort der Pateras/Zodiacs in Tarifa und folgt von dort aus den Lebens(um)wegen der Migrantinnen, deren Verläufe mithilfe der Kategorien acodida (=Aufnahme), prostitution und normal work skizziert werden. Zentrale, die Reise der Migrantinnen prägende Phänomene, erfahren auch in Spanien ihre Kontinuität: hier stehen den Frauen ebenfalls zahlreiche Mittler zur Seite, nimmt der Körper in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle ein und werden (subjektive) Grenzen überschritten. Auch auf der spanischen Seite begleiten Flüchtigkeit und liminale Zeiten und Phasen das Leben der Migrantinnen, deren Ziel es ist, als selbstständige business women den multiplen finanziellen Forderungen dies- und jenseits des Estrecho gerecht zu werden.

Eine zentrale These des Buches lautet, dass die Reise in den Körpern der Migrantinnen eingeschrieben ist:

„Der Körper, dem die Reise eingeschrieben ist, hat dabei für Migrantinnen eine besondere Bedeutung: obwohl einer Reihe von Zwängen unterworfen, sind die Frauen Akteurinnen. Ihre Körper sind zugleich Objekte der Gewalt und Mittel der Verteidigung: so werden Schwangerschaften oder Krankheiten fingiert, um Vergewaltigungen abzuwenden oder Beziehungen zu Landsmännern eingegangen, die das eigene Leben durch materielle Annehmlichkeiten erleichtern. Er ist ihre Ressource und ihr Kapital, das sie, wenn auch oft eingeschränkt, einzusetzen wissen.“ (ebd.: 82)

„Schon Kleinkinder müssen sich dem „System“ anpassen, wie sich Owens ausdrückt: Krabbeln statt laufen, Flüstern statt Sprechen, um nicht entdeckt zu werden. Auf die Überfahrt wartende Frauen und ihre Kinder verinnerlichen und verkörpern zugleich das Leben im Verborgenen, im Untergrund und in der Dunkelheit – sie werden auf dem Weg nach Europa zu Schattenkörpern oder sind es bereits von Geburt an.“ (ebd.: 121)

Aber es zeigt noch eine andere Seite im Umgang der Migrantinnen mit ihren Körpern:

„Zuallererst legt Mama Twins ihre großen Ohrringe und ihre goldene Uhr ab. Ihre aufwändige Zöpfchen-Frisur verschwindet unter einem Haarnetz und anschließend unter zwei alten Kopftüchern, die sie unter dem Kinn bindet. I do it the Muslim Way. Die Schminke um die Augen, auf den Wangen und den Lippenstift entfernt sie sorgfältig mit Spucke. Otherwise they would not give me ONE dirham! Ihre Brust polstert Mama Twins mit Stoffresten aus, den Bauch mit alten T-Shirts. Die so geschaffenen Rundungen werden sorgfältig in Form gestrichen und geknetet, bis die perfekte Form erreicht ist. Schließlich wird der „schwangere“ Bauch mit einem breiten Plastikband fixiert und Mama Twins schlüpft in eine abgetragene, ehemals rosarote und ziemlich löchrige Trainingshose. Nachdem sie sich eine weite Bluse, eine Jellabah und eine Sweaterjacke übergezogen hat, wirkt ihr schlanker Körper unförmig; die billigen Plastikbabuschen lassen ihre Schritte schleppend werden. Mama Twins ist nun nach knapp einer Stunde fertig gestylt und bereit für den Bettelgang. Grinsend meint sie: ‘I passed your friend […] many times. She did not recognize me!’“ (Tagebuchnotiz, 2.6.2006; ebd.: 122)

Daraus zieht die Autorin folgendes Resumé (ebd.: 125f): Verletzungen und Narben als Resultate unmittelbarer physischer Gewalt bzw. von Fluchtversuchen, abgetrennte Gliedmaßen, Abtreibungen und der Tod eigener Kinder bringen die körperliche Integrität ins Wanken, verschieben ihre Grenzen oder zerstören sie und manchmal bleibt nur das nackte Leben, wie es Giorgio Agamben (2002) mit Blick auf die Flüchtlinge von heute benennt, bei denen er die menschliche Existenz auf ihren physischen Ausdruck reduziert sieht. Zugleich sind Transmigrantinnen ihrem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert. Sie geben Regionen und Situationen, die sie durchwandert haben, einen Namen und verändern auf diese Weise die Topografie. Auch ihre Körper sind nicht nur Objekt der Gewalt. Insbesondere Frauen wissen ihren Körper und den ihrer Kinder kreativ einzusetzen. Durch ihr flexibles Handeln verweigern sie sich einer eindimensionalen Betrachtungsweise, wenn sie ein eigenes kleines business etablieren oder versuchen, sich mithilfe ihrer (ungeborenen) Kinder den Lebensunterhalt durch Betteln zu sichern, wenn sie aus taktischen Gründen Beziehungen zu Landsmännern eingehen und je nach Kontext verschiedene Kleidungsstile pflegen oder Schwangerschaften fingieren, um das enge Korsett der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten zu lockern und Vergewaltigungen abzuwehren. Die beiden Schlagworte Suffering und Styling bringen die den Lebenswelten der Migrantinnen inhärente Ambivalenz zwischen Struktur und Handlungsmöglichkeiten zum Ausdruck: zugleich enormen Zwängen und Einschränkungen unterworfen, sind sie nichtsdestoweniger Akteurinnen, die ihre Wege gehen, ihre diversen Rollen spielen und ihre Körper formen.

Ein zweiter wichtiger Aspekt der Migration ist der rechtlich-ökonomische, über den u. a. folgendes berichtet wird:

„Eine ganze Reihe von Akteuren in Nigeria profitieren von den in Europa arbeitenden Migrantinnen, deren Projekt in Zeiten großer ökonomischer Unsicherheiten verschiedensten Gruppen eine Einkommensquelle schafft: Familien, die die Migrantinnen teils zur Reise animieren und in die Organisation involviert sind, Reiseorganisatorinnen, native doctors, Pastoren unterschiedlicher Pfingstgemeinden, Anwälte und Vertreter diverser Behörden. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die in der Prostitution arbeitenden Migrantinnen in Nigeria im Gegensatz zu anderen Ländern nicht stigmatisiert werden, sondern dank ihrer finanziellen Potenz Ansehen genießen.“ (ebd.: 265f)

Unwillkürlich fragen wir uns, auf welche Weise, Verträge, die über das Leben und die gesamte wirtschaftliche Existenz einer Vertragspartnerin bestimmen, die Macht haben, von der anderen Seite durchgesetzt zu werden. Unsere säkularen Vorstellungen von Vertragsrecht sind hier falsche Analyseansätze, es spielen ebenso magisch-religiöse Vorstellungen eine bedeutende Rolle:

„Bevor ich nach Europa gebracht wurde, ging ich zum juju-Schrein und zum Anwalt und unterschrieb ein Stück Papier, auf dem ich mich verpflichtete, dieses Geld zu zahlen. Es wurde auch ein juju- Zeremonie durchgeführt, damit ich, falls ich nicht zahle, sterben würde. Das machen sie mit allen Leuten, die Leute, die Leute nach Europa bringen. […] Also, um Leute hierher nach Europa zu bringen, muss die Sponsorin zum juju-Schrein gegen. Sie sagt: ‚ich werde diese Person nach Europa bringen, und sie wird mir so und so viel bezahlen.’ Wenn das Mädchen zustimmt, hört das der juju. Man nimmt eine Kerze, Metall, Haar, Haar von deinem ganzen Körper, Nägel, alles.“ (ebd.: 248 f)

Das empirische Material zur Forschungsarbeit wurde während eines insgesamt 15-monatigen Forschungszeitraums zwischen September 2004 und September 2006 im Grenzraum des Estrecho, gesammelt. In Zeiten und Welten, die von Flüchtigkeit und Flucht gezeichnet sind, in denen auch den eigenen Landsleuten nicht zu trauen und das Ver-Schweigen fester Bestandteil der Kommunikation ist, verwundert es nicht, dass der Forscherin zunächst ebenfalls mit Misstrauen begegnet wurde und sie in Marokko zu Forschungsbeginn schlechtesten falls für eine Polizistin, bestenfalls für eine Journalistin oder einen karitativen „Gutmenschen“ gehalten wurde, durch dessen Kontakte und finanzielle Mittel man auf schnellem Wege nach Europa gelangen könnte. (vgl. ebd.: 32)

Wie häufig bei guten ethnologischen Forschungsarbeiten spiegelt sich in der Situation der Forscherin das Forschungsthema:

„Die lange Weile jenes drückend heißen Augusttages kennt weder einen spezifischen Ort noch eine konkrete Zeit. Meine Aufzeichnungen über Tanger, die Ende 2004 beginnen und dank telefonischer Kontakte wiederholter Besuche bis ins Jahr 2013 reichen, ähneln einander: innerhalb eines Zeitraumes, der für die Transmigranten ein absehbares Ende entbehrt, wechseln die Orte und immer wieder auch die Protagonisten selbst. Was konstant bleibt, ist die Atmosphäre: drückende lange Weile und die Ungewissheit, ob und wann eine Änderung des status quo eintreten wird. Zu manchen Zeiten ist die Realität in Tanger so erbarmungslos, dass sie selbst den sehnsüchtigen Blick auf die Zukunft verstellt, die die andere Seite der Meerenge bedeutet. Worte der Aufmunterung, die bessere Zeiten anklingen lassen, würden in diesem die wartenden umgebenden Vakuum der Eintönigkeit hohl und unglaubwürdig klingen. So sitzt man im Dunkeln und schweigt. Mit Glück vor einem DVD-Player und vielleicht mit einer Zigarette, die es in Marokko einzeln zu kaufen gibt. Die Zeit ist eingefroren und die Gegenwart (= Marokko) elastisch und ohne absehbares Ende, obwohl die Zukunft (= Europa) zum Greifen nahe liegt. Insbesondere Geldmangel verurteilt zum Warten und lässt einen Tag dem nächsten gleichen. Aus Tagen werden Wochen, Monate und manchmal Jahre. Money is passport, wie es Mama Aisha formulierte.“ (ebd.: 111)

Resümee: dieses Buch ist nichts für ungeduldige Leser! Die Forscherin und Autorin Kristin Kastner beschreibt nicht nur detailreich und differenziert die lange Reise der jungen Frauen von Nigeria nach Europa, sondern sie reißt die LeserInnen mit in den Strudel von Gewalt und Versuchen, Gewalt zu entkommen. Sie hat sich in ihrer Forschungsarbeit selbst vielen Belastungen ausgesetzt, beschönigt nicht und schreibt in einer nüchternen und gut verständlichen Sprache – sowohl über Erfahrungen und Erlebnisse als auch in der theoretischen Reflexion. Die Art und Weise, wie sie im Dialog mit den nigerianischen MigrantInnen lebt, zeigt viele Parallelen zu einer dialogischen Sozialarbeit. Als Leser ist man unwillkürlich herausgefordert, wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten zumindest vorübergehend zu verlassen und sich dabei jenseits einer „Metaphysik der Sesshaftigkeit“ (Jouni Häkli) wieder zu finden.




Treiber, Magnus / Grießmeier, N. / Heider, C. (Hg.) (2015): Ethnologie und Soziale Arbeit. Fremde Disziplinen, gemeinsame Fragen? Opladen: Budrich UniPress.


274 Seiten / EUR 29,90

Die interessantesten Gedanken entwickeln sich mitunter im Gespräch – zumindest müssen sie sich dort bewähren… Im Gespräch wie in der wissenschaftlichen Debatte ist der Andere als ein Anderer zu respektieren. Das Interesse, auf Augenhöhe eine Auseinandersetzung führen zu wollen, ist ein gemeinsames, verbindendes, das Andere idealerweise weder ausschließt noch zur Selbstaufgabe zwingt, sondern auf die Klärung von Argumenten und Positionen abzielt und mögliche Konsequenzen – wie teilweises Übereinkommen und zielorientiertes Miteinander – in den Raum stellt, ohne sie abzunötigen. (vgl. Treiber/Grießmeier/Heider 2015: 9). Ein Dialog zwischen VertreterInnen der Sozialarbeit und der Ethnologie auf der hier zitierten Grundlage wird jedenfalls für Theorie und Praxis der Sozialarbeit sehr bereichernd sein, nicht nur in einzelnen Themenbereichen, sondern wohl in sämtlichen Handlungsfeldern der Sozialarbeit. Das hier vorgestellte Buch dokumentiert vor allem die Bemühungen von EthnologInnen, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Es geht um Fragen der Methoden, gemeinsamer Arbeitsbereiche, Ausbildung und Institutionalisierung und nicht zuletzt um ethische Grundlagen beider Disziplinen.

Interessanterweise zeigt sich der subjektiven, nicht zuletzt körperlichen Erfahrung von Welt und Gegenstand eine grundlegende Gemeinsamkeit, die in der notwendigen fachlichen Diskussion von Erfahrungen und Interpretationen in Feldforschung und Berufsalltag gleichermaßen disziplinäre Wertschätzung wie Einhegung erfährt. In Soziologie, Politologie oder Erziehungswissenschaften spielt das Erfahren allenfalls eine untergeordnete Rolle. (vgl. ebd.: 12)

Auf dem Weg zu einer Transziplinarität der Sozialwissenschaften wird der Dialog zwischen Sozialarbeit und Ethnologie an Bedeutung gewinnen, wobei noch manche Steine aus dem Weg geräumt werden müssen, die sich in den letzten Jahrzehnten einer tendenziell auf Einzeldisziplinen reduzierten Forschungstätigkeit in den einzelnen Gehegen aufgetürmt haben und sich an manchen Stellen dieses Buches nach wie vor zeigen: der Weg, Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Kategorie Soziale Arbeit zusammen zu bringen hat sich keineswegs allseitig bewährt, wie an einer Stelle des Buches behauptet wird (vgl. ebd.: 165, Anm. 1), hat er doch den Dialog der Sozialarbeit mit anderen Nachbardisziplinen weitgehend behindert. Nicht alles kann mit der pädagogischen Brille betrachtet werden, was in der Sozialarbeit geschieht, im Gegenteil, eine kritische Forschungshaltung wird eher in der Ethnologie gefunden als in der Pädagogik.

Voneinander lernen wird wohl die Devise der nächsten Jahre sein, wobei kritische Forschung in den Konfliktfeldern der Gesellschaften in einer globalisierten Welt hilfreichere Grundlagen sein werden als Theoriearbeit in den Arbeitszimmern von WissenschaftlerInnen. Das hat die klassische Sozialarbeit, die sich als Arbeit in den sozialen Feldern und nicht in den Beratungszimmern versteht, jedenfalls gemeinsam mit der ethnologischen Forschung. Gemeinsame Wurzeln gibt es z. B. in der kritischen Stadtforschung. An einzelnen Forscher wie Roland Girtler kann von beiden Seiten her Maß genommen werden. Nicht zu vergessen sind die ethnopsychoanalytischen Arbeiten von Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler, vor allem die 1963 erschienene Arbeit „Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika.“

Magnus Treiber und seinen MitarbeiterInnen kommt das große Verdienst zu, Fäden der Kooperation aufgegriffen zu haben und in diesem Buch ForscherInnen wie Wissenschaftlerinnen die Gelegenheit gegeben zu haben, in einen offenen Dialog zu treten. Erfreulicherweise hat die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Sektion „Theorie und Wissenschaftsentwicklung“ diese Fäden aufgegriffen und 2012 Magnus Treiber zum Vortrag „Ethnologie als Bezugswissenschaft der sozialen Arbeit. Über Kartographie, Freiraum und das Unmittelbare in Stadt und Welt“ gebeten (vgl. http://www.socialnet.de/materialien/140.php).

Eine selbstbewusste Sozialarbeit wird sich auch in Österreich in diesen Dialog verstärkt einbringen können. Bereits in der Vergangenheit gab es z.B. in Graz sehr spannende Debatten zwischen SozialarbeiterInnen und EthnologInnen, aus dem das Buch Das ganz alltägliche Elend, welches 2003 von Elisabeth Katschnig-Fasch herausgegeben wurde, entstanden ist.



Klaus Posch / klaus.posch@fhstp.ac.at