soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/411/737.pdf


Schimpf, Elke / Stehr, Johannes (Hg.) (2012): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Gegenstandsbereiche – Kontextbedingungen – Positionierungen – Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.


316 Seiten / EUR 46,99

Sozialarbeitsforschung in Österreich ist in der Regel Auftragsforschung1 und somit bewegt sie sich weitgehend in heteronomen Strukturen. Wie in anderen Ländern entstand dadurch u. a.

„eine Hierarchisierung, die unter den Forschenden zu Konkurrenzen führt und generell in eine Wettbewerbssituation bringt, deren Zielorientierungen und Bewertungsmaßstäbe extern, von Seiten der Politik, definiert werden.“ (Schimpf/Stehr 2012: 8).

Spielräume für kritisches Forschen sind klein gehalten, meist handelt es sich um affirmative Forschung, wobei die externen Einflüsse der Auftraggeber variieren: sie reichen von einer tolerant-selbstkritischen Haltung bis zu dümmlich – autoritären Einflussnahmen.

Das hier rezensierte Buch beschäftigt sich mit Varianten affirmativer Forschung in methodologischer Reflexion auf den Gegenstand von Sozialarbeit und der Frage nach den Möglichkeiten und Zielen kritisch-reflexiven Forschens in der Sozialarbeitswissenschaft. Es richtet sich wohl in erster Linie an ForscherInnen und ForschungsmanagerInnen, doch ist es auch für PraxisexpertInnen der Sozialarbeit von großem Interesse, da es der Sozialarbeit einen Spiegel über die gegenwärtigen Grenzen von Sozialarbeitsforschung vorhält.

Kritische Reflexion von Forschung bewegt sich auf drei Ebenen:

„auf der Ebene der inhaltlich-kritischen Schärfung des Gegenstandes, auf der Ebene der kritischen Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Forschungsperspektiven und Forschungspraxen und auf der Ebene der Auseinandersetzung mit bereits existierenden Forschungsperspektiven; hier gilt es insbesondere herauszuarbeiten, welche Potenziale und Fallstricke diese Perspektiven beinhalten.“ (ebd.: 11)

Die AutorInnen erheben somit auch den Anspruch, die Grenzen und Schwächen ihrer Positionen herauszuarbeiten und zur Diskussion zu stellen.

„Mit Bezug auf die Arbeiten von Michel Foucault wird das forschende Handeln als ‚suchendes Handeln’ und in Bezug auf eine radikale Reflexivität als ‚erschütterbares Handeln’ und ‚riskierendes Engagement’ gekennzeichnet, um eine Wissenskultur und -praxis entfalten zu können, in welchen die Individuen und deren Interessen zur Sprache kommen.“ (ebd.: 12)

Damit werden Unterscheidungsmerkmale zwischen affirmativer und kritisch-reflexiver Forschung skizziert: es geht zunächst um das systematische Wahrnehmen von Konflikten und politischen Einflussnahmen beim Forschen. Das Konzept, das dies ermöglichen soll ist die Kategorie des „Arbeitsbündnisses“:

„Um Macht- und Konfliktverhältnisse in Forschungsprozessen der sozialen Arbeit sichtbar zu machen und Verstrickungen und Positionierungen der Forschenden zu analysieren, nutzen die AutorInnen die Kategorie des ‚Arbeitsbündnisses’. Dabei werden von ihnen drei Analyse-Ebenen ausgewählt, um unterschiedliche Arbeitsbündnisse herauszuarbeiten und zu benennen: 1/ die Selbstverständlichkeiten, von denen Forschen ausgegangen wird, 2/ die Forschungssituation als soziale Interaktion und 3/ die Positionierung der Forschenden gegenüber der Praxis (sowohl gegenüber dem Professionellen als auch den AdressatInnen).“ (ebd.: 15)

Die Autoren versprechen sich, damit, sicheres analytisches Terrain für kritisches Forschen in der Sozialarbeit zu betreten, in dessen Kern die Analyse von Konflikt- und Machtverhältnissen steht (vgl. ebd.: 110).

Allerdings ist der Begriff des Arbeitsbündnisses in der psychoanalytischen Erkenntnistheorie bereits intensiv untersucht und die Tendenz dieser Forschungen geht dahin, den Begriff des Arbeitsbündnisses wenigstens mit dem Begriff der Gegenübertragungsanalyse der forschenden Subjekte und ihren Institutionen zu ergänzen. Nicht unerwähnt in diesem Zusammenhang können George Devereuxs Reflexionen zu Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften (1973) und Ludwik Flecks Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, die bereits 1935 publiziert wurden, bleiben; Fleck wies nach, dass die Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen von Denkstil und Denkkollektiv der ForscherInnen wesentlich beeinflusst sind. Sowohl Devereux als auch Fleck haben auf die Entwicklung des Konstruktivismus in seinen unterschiedlichen Varianten großen Einfluss genommen. Damit haben sich kritisch-reflexive Forschungsstrategien auch in der Sozialarbeit ihre Wege gebahnt.

„Mit der konstruktivistisch-reflexiven Wende in der soziologischen Problemforschung wird folglich die „Politik sozialer Probleme“ als Gegenstand konturiert, als davon ausgegangen wird, dass es sich bei sozialen Problemen um Definitionen handelt, die in gesellschaftlichen Problematisierungs- und Skandalisierungsprozessen formuliert werden und der Form und Inhalt von den Interessenslagen und der Definitionsmacht der an den Problematisierungsprozessen beteiligten Akteuren abhängen. Das Konzept der „sozialen Probleme“ verweist in dieser Perspektive auf einen politischen Vorgang, in dem unterschiedliche gesellschaftliche Akteure und Institutionen versuchen, ihre Interessen im Verbund und/oder gegen andere durchzusetzen und ihre Zielsetzungen als verbindlich zu deklarieren. Soziale Probleme sind hier also Ressourcen zur Gewinnung von Macht und zur Absicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse.“ (ebd.: 30)

Noch vor zehn Jahren war der sozialwissenschaftliche Diskurs durch derlei Argumente bestimmt.

„Gegenwärtig – so unsere These – befindet sich die Problemeforschung verstärkt in der Gefahr, in eine Forschung umzuschlagen, die einerseits Ordnungs-Wissen produziert und andererseits Legitimationen für Prozesse sozialer Ausschließung bereitstellt. Diese Gefahr sich aus der eingenommen soziale-Probleme-Perspektive selbst, die auf unhinterfragten Normalitäts- und Ordnungsvorstellungen beruht und mit systematischen Blickverengungen einhergeht.“ (ebd.: 36)

„Herrschaftlich organisierte und geformte Prozesse sozialer Ausschließung werden auf diese Weise zu „Anpassungsproblemen“, die – gemäß des neoliberalen Mottos – in die Eigenverantwortung der konstruierten Problemgruppen gestellt werden.“ (ebd.: 39)

Noch einmal zurück zu Foucault und seinem Konzept von „radikaler Reflexivität als forscherische Haltung des riskierenden Engagements“, welches für kritisches Forschen in der Sozialarbeit wichtige methodologische Argumente bereit hält:

„Ich versuche meine (methodischen) Instrumente über die Objekte zu korrigieren, die ich damit zu entdecken glaube, und dann zeigt das korrigierte Instrument, dass die von mir definierten Objekte nicht ganz so sind, wie ich gedacht hatte. So taste ich mich voran und stolpere von Buch zu Buch.“

Diese Haltung eröffnet den ForscherInnen aber auch den Beforschten „Möglichkeitsräume“ (Kessel/Maurer, S. 51), eine Vorstellung, die Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930) systematisch entfaltet hat. Die Analyse der gegenwärtigen Lage der Sozialarbeitsforschung ergibt jedoch ein anderes Bild:

„Sozialarbeitsforschung – so könnte man zusammenfassen – wird in Gefolge des wachsenden Einflusses managerialistischer Steuerungstheorien auf funktionalistischen Perspektiven einer systembezogenen Wirkungs- und Effizienzsteigerung reduziert und eingehegt. […] Da Forschung sich von vornherein auf die Perspektive verpflichtet, die sozialpolitischen oder sozialarbeitspolitischen Zwecksetzungen der Praxis als notwendig anzuerkennen, bestimmen sich die Konjunkturen des Forschungsbetriebs zunehmend nach den Normativitäten, die der Politikbetrieb produziert. […] All das lässt uns zu der Schlussfolgerung kommen: affirmative Forschung ist primär Ideologieproduktion, aber mit durchaus praktischen Folgen. So befördert die sozial-technologische Sozialarbeits- und Sozialstaatsforschung letzten Endes auch noch eine Praxis, die sich auf ihre Ergebnisse nicht nur legitimierend beruft, sondern sie auch zum Maßstab der eigenen weiteren Umgestaltung macht. Was die beteiligten Forschungssubjekte nicht davon abhält, auf ihre Distanz zur Praxis und ihren kritischen Blick auf dieselbe viel zugute zu halten!“ (Dahme/Wohlfahrt, S. 88ff)

In den Einzelbeiträgen werden diverse Forschungsthemen methodologisch untersucht, hier einige Themen beispielhaft angeführt: Die Effektivitätsfalle (Schimpf/Stehr, S.119f), Kritische Institutionenforschung (Creemer-Schäfer, S. 135ff), Zurechnung von störenden Verhalten: Beschuldigungen, Entschuldigungen und Verantwortlichkeit in den Redeweisen von Professionellen (Kirsi/Hall/Raitakari, S. 181ff), die Konstruktion einer „schlechten Mutter“ oder wie in der Sozialen Arbeit ein Fall gemacht wird (Urek, S. 201ff). Dabei zeigt sich, dass sich das Konzept einer kritisch-reflexiven Sozialarbeitsforschung auch als empirisch tragfähig erweist und für die konkrete Sozialarbeitsforschung grundlegende theoretische Impulse zu geben vermag.

Es zeigt sich aber auch, dass es in der gegenwärtigen Sozialarbeit wenig Möglichkeitsräume für kritisch-reflexive Forschung gibt, hat doch auch im Forschungsalltag „Pseudokonkretheit“ (Schimpf, S. 235) Einzug gehalten; dies wird anhand des „Schicksals“ der Etikettierungstheorie gezeigt:

„eine mit bezweifelter Autorität argumentierende etikettierungstheoretisch orientierte Soziologie büßt wahrscheinlich auch gegenüber der Sozialarbeit an Achtung ein. Zumal diese – folgt man neuesten Untersuchungen – am eigenverantwortlich handelnden handeln sollenden Adressaten Gefallen findet und sich im aktivierenden Sozialstaat einzurichten beginnt.“ (Peters, S. 229)

Elke Schimpf, eine der HerausgeberInnen dieses Buches fokussiert in einem ihrer Einzelbeiträge die Anforderungen und Potenziale lebensorientierten Forschens in sehr anschaulicher Weise:

  1. „Lebensweltorientiertes Forschen ist so zu konzipieren, dass die Eingebundenheit des Alltags und der Lebenswelt in Herrschafts-, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse und die Fragmentierung von Lebensverhältnissen als soziale Prozessualität in den Blick genommen und konkretisiert werden.
  2. Lebensweltorientiertes Forschen kann nur dann den Anspruch erheben, gesellschaftskritisch zu sein, wenn die Wirkungsweisen herrschender Diskurse als Machtverhältnisse wahrgenommen und thematisiert werden. Zu analysieren ist die Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher und institutioneller Deutungsmuster und die Dominanz von Zuschreibungen und stereotypen Bildern, die die Lebenslage der Adressaten/innen verdecken und in deren Selbstbild wirkmächtig werden.
  3. Lebensweltorientiertes Forschen stellt nicht die methodischen Herangehensweisen, sondern die methodologischen Herausforderungen in den Vordergrund. Eine methodologische Herausforderung ist, mit Hierarchisierungen im Forschungsprozess umzugehen und auszuweisen, wem (wie viel) Deutungsmacht eingeräumt wird.
  4. Lebensweltliche Verhältnisse zu untersuchen, erfordert eine Rekonstruktion der Konfliktverhältnisse im Alltag. Diese sind in ihrer Dialektik als Kritik und Handeln, Zwang und Freiheit wie auch Unterdrückung und Emanzipation zu beschreiben. Um die Handlungs- und Deutungsmuster des professionellen Alltags im Kontext von Institutionen der sozialen Arbeit zu rekonstruieren, ist das Gesamtgefüge der Institution als Handlungszusammenhang in den Blick zu nehmen.
  5. Lebensweltorientiertes Forschen interpretiert Fremdbestimmung, Abhängigkeit und das Erleben von Machtlosigkeit in Bezug auf den institutionellen Alltag bzw. auf institutionelle Interventionen immer im Zusammenhang der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Die Konflikte der Adressaten mit den sozialen Institutionen und gesellschaftlichen Normen und Werten werden als Antworten auf Ausschlussprozesse wie auch als eine produktive und subversive Suche nach Lösungen verstanden. Fremddeutungen, sich nicht mit den Selbstdeutungen der Adressaten/innen.
  6. Das Verhältnis von lebensweltliche Erfahrung und sozialpädagogische Intervention ist nur über mehrperspektivische (Re)konstruktionen und Kontextuaktualisierungen zu erforschen. Der Analysefokus ist auf die Situationen im Hilfesystem und das Interaktionsverhältnis zu richten, wobei Widersprüche und Konflikte erst in der Gegenüberstellung des subjektiven Erlebens der Adressat/innen und der institutionellen Handlungszusammenhänge sichtbar werden können. Auch die Bewältigungsformen, biografischen Brüche und Wiederholungen, die den Hilfeverlauf und die Beziehungsgestaltung bestimmen, werden erst über eine (Re-)Konstruktion der Gesamtdynamik erkennbar.
  7. Lebensweltorientiertes Forschen erfordert konkrete und genaue Beschreibungen, auch der sozialen Ordnungen. Ein Verstehen der Adressaten/innen ist nur in ihren zeitlichen, räumlichen und sozialen Lebenszusammenhängen möglich. Über das Forschen sind Räume zu eröffnen, welche den Adressaten/innen Zugänge zu ihren eigenen Erleben und ihren Sichtweisen ermöglichen und in welchen sich ihr Eigensinn artikulieren kann. Ein lebensweltorientiertes Forschen erfordert eigene Zugangsweisen, bei welchen nicht nur auf bestimmte Themen oder gar „Probleme“ fokussiert wird, sondern an den Interessen und der thematischen Relevanz wie auch dem Nutzen der der Beforschten anknüpfen wird.
  8. Lebensweltorientiertes Forschen, was den Anspruch hat, Teilhabe und Gestaltung eines selbstbestimmten Lebens zu befördern, geht über ein Verstehen der Subjekte hinaus. Das Forschen selbst ist als politischer Auftrag zu verstehen, welche strukturelle Konflikte thematisiert, veröffentlicht und (re)politisiert werden.“ (Schimpf, S. 257f)

Das Buch enthält noch viele weitere wertvolle Diskussionsbeiträge zu relevanten Themen der Sozialarbeitsforschung: die Überlegungen zu den Formen der Differenz in der Forschung (vgl. Mecheril/Melter, S. 263ff) und zu den Fallstricken in der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung (vgl. Bukow/Spindler, S. 284f) möchte ich davon jedenfalls erwähnen. Insgesamt bedarf die Lektüre dieses Buches eines nicht unerheblichen Aufwands, der sich aber jedenfalls lohnt, will man in der Sozialarbeitsforschung kritische Forschungsperspektiven entwickeln. Allen, die sich daran beteiligen, muss klar sei, dass es gegen kritische Alltagsforschung „von unten“ (Bareis, S. 312) erhebliche Widerstände von allen Seiten gibt.



Klaus Posch / klaus.posch@fh-joanneum.at



Verweise
1 vgl. Fredersdorf, Frederic / Posch, Klaus (2014): Vom Nutzen der Sozialarbeitsforschung. In: soziales_kapital, 11 (2014), http://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/316 (27.9.2015).