soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/412/719.pdf


Belina, Bernd / Naumann, Matthias / Strüver, Anke (Hg.) (2014): Handbuch Kritische Stadtgeographie. Münster: Westfälisches Dampfboot.


253 Seiten / EUR 29,90

Das Thema „Sozialraumorientierung“ wird in der gegenwärtigen Sozialarbeit häufig und bisweilen sehr kontroversiell diskutiert, dementsprechend gibt es zu diesem Thema in der Sozialarbeitswissenschaft mittlerweile eine nahezu unübersehbare Fülle von Publikationen. Weniger bekannt unter SozialarbeiterInnen sind die Arbeiten der modernen humangeografischen Forschung zu diesem Themenkreis. Mit dem rezensierten Buch liegt ein umfangreiches, sehr übersichtliches und kritisch aufbereitendes Handbuch zur speziellen Thematik Stadtgeografie vor, welches von einschlägigen WissenschaftlerInnen herausgegeben wurde.

Die Position einer „kritischen“ Stadtgeografie wird anhand Foucaults Kritikbegriff entwickelt; demnach ist Kritik unter anderem Ausdruck einer „reflektierten Unfügsamkeit“. Den AutorInnen liegt daran, komplexe Argumentationen verständlich zusammen zu fassen und zum Weiterlesen einzuladen. Vorweg schlage ich vor, diese Einladung, die auch an die Sozialarbeit gerichtet ist, anzunehmen.

Im ersten Teil des Buches werden Theorien kritischer Stadtgeografie übersichtlich und verständlich dargestellt und kritisch gewürdigt: Karl Marx, Friedrich Engels, Michel Foucault, Henri Lefebvre, David Harvey und Doreen Massey haben sich schon sehr früh mit ökonomischen und politischen Fragen moderner Stadtentwicklung auseinandergesetzt. Wichtige theoretische Fragen, die gegenwärtig in der Stadtgeografie diskutiert werden – wie die nach der Politik von Messung (z. B. der räumlichen Maßstabsebenen der sozialen Welt), der unmarkierten weißen Position in den räumlichen Macht- und Gesellschaftsverhältnissen, den Folgen der „Entpolitisierung“ von Politik durch Ökonomismus und Technokratie oder nach der (umkämpften) gesellschaftlichen Produktion von urbaner Natur – sind gleichfalls unter den Theoriefragen zu finden.

Ebenso spannend sind die Beiträge im zweiten Teil zu Methoden kritischer Stadtgeografie nachzulesen: es geht z. B. um kritische Kartografien der Stadt, die den Umstand in den Mittelpunkt rücken, dass Städte umkämpfte Orte sind, an denen gesellschaftliche Machtverhältnisse auch darüber ausgehandelt werden, wie diese auf Karten visuell dargestellt und hierdurch gedacht und (re-)produziert werden. Es geht weiters um die Stadt im Diskurs im Sinne der Untersuchung von Bedeutungen, die aus teils unbewussten Regeln und Machtverhältnissen resultieren. Die Stadt im Interview, die Stadt in der Statistik sowie aktivistische Stadtforschung sind weitere Methoden der Forschung, die speziell für die kritische Stadtforschung (weiter-)entwickelt wurden.

Eine Wissenschaft bedarf neben Forschung, Methodenreflexion und methodologischem Diskurs auch einer systematischen Reflexion ihrer Begriffe. Häufig in den Mund genommene Worte aber selten verstandene Begriffe werden im dritten Teil des Buches erläutert: Governance in lokalen Räumen, die unternehmerische Stadt, deren Konzept auf der Theorie des Wettbewerbs gründet, Gentrification mit ihren Nebeneffekten, Segregation als Folge von Ungleichheiten, die zugleich Ungleichheiten bewirkt, Suburbanisierung, Schrumpfende Städte, Globalizing Cities, eine Theorie, die sich mit den Folgen von Globalisierung auf alle Städte befasst, die zunehmende Bedeutung von Informalität als Folge von Ökonomisierung, aber auch das Thema der städtischen sozialen Bewegungen werden einer begrifflichen Analyse unterzogen.

Im vierten Teil des Buches werden die Themen einer kritischen Stadtgeografie nochmals präzisiert: die ungelöste Wohnraumfrage, die auf dem Hintergrund der Wirkweise der Immobilienmärkte zu verstehen ist, die Reproduktion der Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf der Grundlage der Struktur der herrschenden Lohn- und Hausarbeitsverhältnisse in den Städten, Migration als stadtpolitisches Konfliktfeld, die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung durch die um sich greifenden Hausbesetzungen, Überwachungsinstrumente, die Folgen des Klimawandels auf Städte, Geschichts- und Erinnerungspolitiken der Städte, Obdachlosigkeit als Verkörperungsprozess gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Barrierenpolitik zum Zweck von Behinderung, Queerness welche gemeinsam mit Schicht, Race und Körper eine bedeutende Rolle für städtische Prozesse der Produktion von Ungleichheit spielen; räumliche Einschränkungen von Kindern sind Phänomene, die Ungleichheiten und Machtverhältnisse anzeigen und offene und verdeckte Konflikte im Alltagsleben der Städte nach sich ziehen.

Dieser Logik folgend enthält der fünfte und letzte Teil des Buches Beiträge zu Themen, die traditionell Hinweise auf die Tatsache sind, dass es in den Städten alltägliche Kämpfe gibt: sozialer Wohnbau, Hausbesetzungen, partizipative Planung als Ideologie, Stadtteilpolitik, Privatisierung, Illegalisierung, der Kampf gegen Rassismus und Neonazismus in den Städten und der Kampf um das Recht auf Stadt im Sinne des Capability Approach sind der Bogen, der zum Thema Konflikte in der Stadt geschlagen wird – nicht zu vergessen: im letzten Abschnitt des Buches wird Urban Gardening als sozialkritische und ästhetische Intervention behandelt.

Die Entwicklung moderner Gesellschaften zu städtischen Gesellschaften war mit ein Grund für die Bedeutungszunahme von Sozialarbeit, deren Praxis und Theorie jedenfalls von diesen Prozessen mit beeinflusst wurde. Ein kritischer Blick auf Theorie und Praxis der Sozialarbeit aus Sicht einer kritischen Stadtgeografie wäre eine notwendige Konsequenz.



Klaus Posch / klaus.posch@fh-joanneum.at