soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Werkstatt" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/413/703.pdf


Katharina Kirsch-Soriano da Silva & Christoph Stoik:

„was schafft raum?“

Evaluierung eines Vermittlungsprogramms für Architektur und Stadtplanung in Wiener Schulen zeigt demokratiepolitisches Potenzial


1. Einleitung
Die Auseinandersetzung mit einer partizipativen Stadtentwicklung und Stadtplanung wird in den letzten Jahren in der Sozialen Arbeit kontroversieller geführt. Die Ausführungen bewegen sich zwischen demokratiepolitisch-emanzipatorischen Vorstellungen und Forderungen bis hin zur kritischen Betrachtung von „Territorialisierung“ und „Responsibilisierung“ als der Verlagerung gesellschaftlicher Probleme in den physischen Raum des Stadtteils (vgl. z. B. Lüttringhaus 2000, Alisch 2001, Krummacher et al. 2003, Diebäcker 2004, 2008a, 2008b, 2014, Kessl/Reutlinger 2007, Drilling/Oehler 2013, Kirsch-Soriano/Stoik 2013).

Aus sozialraumtheoretischer Perspektive wird Raum sowohl von strukturellen Rahmenbedingungen als auch vom Handeln der Menschen beeinflusst (vgl. u. a. Lefébvre 1991, Bourdieu 1997, Löw 2001). Auf Raumproduktionsprozesse wirken Rahmenbedingungen wie das politische System, politische und administrative Abläufe, Kapitalinteressen, die Öffentlichkeit, aber auch das Handeln der unterschiedlichen AkteurInnen. Einfluss nehmen u. a. PolitikerInnen, MitarbeiterInnen der Verwaltung, InvestorInnen, PlanerInnen und ArchitektInnen, aber auch die Menschen, die Ansprüche an den Raum haben, die sich Raum entsprechend oder widersprechend zu den ihm zugeschriebenen Funktionen aneignen und ihn nutzen. Die Einbeziehung all dieser Faktoren der Raumproduktion, insbesondere die der Menschen und deren Aneignungsverhalten bei der Gestaltung von städtischen Räumen, folgt diesen raumtheoretischen Erkenntnissen. Die Partizipation der Menschen bei der Stadtgestaltung ist demzufolge eine Konsequenz, insbesondere aus einer emanzipatorischen und demokratiepolitischen Perspektive. Sollen die Interessen der Menschen bei der Planung einbezogen werden, macht es Sinn, diese in ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Mitgestaltung zu unterstützen. Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit Raum und den Einflüssen, die auf die Gestaltung von Raum wirken, erweitert die Handlungsmöglichkeiten. Es geht darum, Raum als etwas zu verstehen, das veränderbar und gestaltbar ist, zu verstehen, welche Einflüsse bei der Raumproduktion wirksam sind, und darauf aufbauend selbst Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, eigene Bedürfnisse und Interessen einzubringen. Ein Ansatzpunkt für die frühzeitige Förderung von Partizipation kann sein, SchülerInnen dabei zu fördern, sich mit Raumproduktion auseinanderzusetzen.

Das Wiener Vermittlungsprogramm „was schafft raum?“ verfolgt das Ziel, 10- bis 14-jährigen SchülerInnen Architektur und Stadtplanung näher zu bringen:

„Ziel ist es, das Interesse an Architektur und Stadt frühzeitig zu wecken, junge Menschen für ihr gebautes Lebensumfeld zu sensibilisieren und ein Verständnis für Planungsprozesse zu vermitteln, um eine Grundlage für eine qualifizierte Teilhabe an Stadtplanungsprozessen zu schaffen.“ (inspirin 2014)

Das Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit wurde im August 2013 von der Stadt Wien mit einer Evaluierung des Programms „was schafft raum?“ beauftragt. In diesem Beitrag werden die Forschungsergebnisse beschrieben. Am Beginn des Beitrags werden das Vermittlungsprogramm, die Forschungsfragen und das Forschungsdesign vorgestellt. Eine ausführlichere Darstellung des Vermittlungsprogramms und der Forschungsergebnisse wird demnächst in einem Werkstattbericht der Wiener Stadtplanung veröffentlicht.


2. Beschreibung des Vermittlungsprogramms „was schafft raum?“
„was schafft raum?“ richtet sich über LehrerInnen der Sekundarstufe 1 in Wien (Allgemeinbildende Höhere Schulen und Allgemeine Pflichtschulen) an 10- bis 14-jährige SchülerInnen. Das Vermittlungsprogramm ist ein kooperatives Projekt der Stadtplanung Wien (MA18, MA19, MA21) und des Stadtschulrats für Wien, wobei die MA19 federführend verantwortlich ist. Das Programm wird vom technischen Büro für Landschaftsplanung „inspirin“ umgesetzt. Mit „was schafft raum?“ soll das Interesse an Architektur und Stadt frühzeitig geweckt werden. Das Programm möchte dabei unterstützen, SchülerInnen für ihr gebautes Lebensumfeld zu sensibilisieren, ein Verständnis für Planungsprozesse zu vermitteln und so gleichzeitig eine Grundlage für eine qualifizierte Teilhabe an Stadtplanungsprozessen zu schaffen. Stadt soll also etwas Erfahrbares sein, das konstruiert, geplant und gestaltbar ist.

„was schafft raum?“ setzt sich aus verschiedenen Angeboten zusammen. Arbeitsblätter mit ausgearbeiteten Übungen sind verfügbar über eine Online-Plattform. Die Übungen können mit den SchülerInnen im Unterricht durchgeführt werden. Zudem werden Schulworkshops zu Architektur und Stadtplanung im Rahmen der „Roadshow“ angeboten. Darüber hinaus werden Seminare im Rahmen der LehrerInnenfortbildung an der Pädagogischen Hochschule Wien durchgeführt. Ein Newsletter informiert interessierte LehrerInnen zu Architektur und Stadtplanung sowie zum Vermittlungsprogramm.

Das Vermittlungsprogramm besteht aus drei Modulen und berührt verschiedene Themenblöcke mit architektur- und stadtplanerischer Relevanz. Modul 1 „Raum bewusst machen“ setzt sich mit Raumwahrnehmung, Raumaneignung und Orientierung auseinander. Modul 2 „Raum verstehen“ beschäftigt sich mit verschiedenen fachlichen Aspekten wie der Erhebung von Bedürfnissen, der Berücksichtigung von Bewegung und Zeit sowie Stadtplanung und Ökologie. Modul 3 „Raum schaffen“ unterstützt bei der Ausarbeitung konkreter Entwürfe für die Gestaltung des eigenen Umfelds (insbesondere des Schulumfelds) und reicht von der Bestandsaufnahme über die Konzeptentwicklung bis hin zur Visualisierung von Ideen. Die Wissensvermittlung geschieht in Form von Unterrichtsprojekten, die am Alltag der SchülerInnen ansetzen und einen persönlichen Zugang zu Raum, Architektur und Stadtplanung herstellen. Die Durchführungsdauer der Projekte reicht von einer Unterrichtsstunde bis zu sechs Doppelstunden. Zu jedem Projekt existieren Arbeitsblätter mit detaillierten Arbeitsanleitungen, Hintergrundinformationen und Bildmaterialien, die direkt von der Online-Plattform was-schafft-raum.at heruntergeladen werden können (vgl. inspirin 2014).


3. Forschungsfragen und Forschungsdesign
Ziel der Begleitforschung war es, zu erheben und zu dokumentieren, wie sich die Raumwahrnehmung von SchülerInnen im Rahmen des Vermittlungsprogramms „was schafft raum?“ verändert und welche Faktoren für diese Veränderung förderlich bzw. hinderlich sind. Es wurde erforscht, inwieweit das Programm den SchülerInnen Zugang zu Themen der Stadtplanung und Architektur sowie zur Beteiligung an Gestaltungsprozessen ermöglicht.

Zwei Forschungsperspektiven wurden dabei eingenommen: Einerseits wurde die Veränderung der Raumwahrnehmung der SchülerInnen betrachtet, andererseits das Handeln und die Interventionen der LehrerInnen.


3.1 Veränderung der Raumwahrnehmung der SchülerInnen
In Hinblick auf die Veränderung der Raumwahrnehmung der SchülerInnen wurden insbesondere folgende Fragestellungen untersucht:

Um diesen Fragestellungen nachzugehen, wurden teilnehmende Beobachtungen als qualitative Erhebungsmethode (vgl. Flick 2004: 206ff) angewendet. Beobachtet wurde, welche Auswirkungen die Anwendung der Raumübungen durch die Lehrenden auf die SchülerInnen haben. Der Beobachtungsfokus bezog sich vor allem darauf, zu welchem Handeln und zu welcher Reflexion die verschiedenen Übungen anregen. Die Beobachtungen wurden handschriftlich und fotografisch dokumentiert und inhaltsanalytisch ausgewertet. (vgl. Mayering 2002) Für die genauere Dokumentation der Beobachtungen wurden darüber hinaus Tonbandmitschnitte angefertigt.

Um ein möglichst breites Bild zu erhalten, wurden Beobachtungen in zwei kooperativen Mittelschulen und in zwei Gymnasien vorgenommen. In den beiden kooperativen Mittelschulen wurde je eine Klasse der 6. Schulstufe beobachtet, in den Gymnasien je eine Klasse der 9. Schulstufe. Diese Wahl ergab sich auch aus forschungspragmatischen Gründen des Zugangs zum Feld. Die Begleitforschung war von Kooperationen mit Schulen bzw. LehrerInnen abhängig. Diese Kooperationen wurden von inspirin organisiert. Die Schulen, an denen Beobachtungen durchgeführt wurden, befinden sich im 2., 21. und 22. Bezirk.

Die Beobachtungen wurden über ein ganzes Schuljahr verteilt. So war es einerseits möglich, die Anwendung von Raumübungen aus allen drei Modulen des Programms „was schafft raum?“ zu beobachten. Andererseits konnten die gleichen SchülerInnen und deren Veränderungen in Bezug auf die Raumwahrnehmung über einen längeren Zeitraum erfasst werden. Insgesamt wurden 9 Beobachtungen durchgeführt, je Klasse zwei bis drei. Lediglich in einem Gymnasium konnte nur eine Beobachtung durchgeführt werden.


3.2 Handeln und Interventionen der LehrerInnen
Im Zuge der Begleitforschung wurde auch das Handeln der LehrerInnen im Rahmen von „was schafft raum?“ genauer betrachtet. Im Fokus des Forschungsinteresses stand, welchen Einfluss das Handeln der LehrerInnen und ihre konkreten Interventionen auf eine veränderte Raumwahrnehmung bei den SchülerInnen haben. Das Handeln der Lehrenden ist allerdings nicht abgekoppelt von der Organisation „Schule“ verstehbar.

Die Fragestellung lautete daher:

Was führt zur Veränderung der Raumwahrnehmung im Rahmen des Vermittlungsprogramms?

Die Einflussfaktoren in Bezug auf die Sensibilisierung und Veränderung von Raumwahrnehmung sind vielfältig. In dieser Begleitforschung war von Interesse, welchen Einfluss die Übungen des Programms auf die Raumwahrnehmung haben. Daher wurde im Rahmen der Beobachtungen in den Schulen auf die Anwendung der Übungen durch die LehrerInnen ein weiterer Fokus gelegt. Mit der Betrachtung der LehrerInnen als VertreterInnen der jeweiligen Schule wurden dabei auch andere Faktoren indirekt in den Blick genommen, wie beispielsweise organisatorische Rahmenbedingungen der Schulen. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der vier LehrerInnen und der vier Schulen konnten auch unterschiedliche Formen der Anwendung der Übungen betrachtet werden, was Rückschlüsse auf die Anwendung der Übungen allgemein ermöglichte. Die LehrerInnen wurden bei der Durchführung der beobachteten Übungen teilweise durch Sabine Gstöttner von inspirin unterstützt. So konnte auch die Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und einer externen Expertin beobachtet werden.

Neben der Beobachtung der Anwendung der Übungen in den Klassen wurden darüber hinaus auch qualitative Leitfadeninterviews mit LehrerInnen sowie mit der Projektverantwortlichen Sabine Gstöttner von inspirin geführt (ExpertInnen-Interviews: vgl. Flick 2004: 139ff, Gruppeninterview: vgl. Flick 2004: 170). Diese Interviews hatten sowohl die praktische Anwendung der Übungen im Fokus als auch eine Einschätzung der LehrerInnen und der Projektverantwortlichen in Bezug auf die Veränderung der Raumwahrnehmung bei den SchülerInnen. Zudem gaben sie einen Einblick, wie das Vermittlungsprogramm funktioniert und angewendet wird und welche Erfahrungen damit gemacht werden – auch abseits von den beobachteten Workshops in den Schulen. In den Interviews wurde auch nach Veränderungswünschen und Optimierungsvorschlägen für das Programm gefragt.

Um möglichst viele unterschiedliche Sichtweisen zu erheben, wurde versucht, Interviews nicht nur mit den LehrerInnen der beobachteten Klassen zu führen, sondern auch mit anderen LehrerInnen. Der Zugang zu diesen LehrerInnen stellte sich allerdings als schwierig heraus, da die LehrerInnen, die „was schafft raum?“ anwenden, nur über den Newsletter angesprochen werden konnten. Insgesamt konnten Interviews mit 4 LehrerInnen geführt werden – wovon eine über den Newsletter erreicht werden konnte. Ein Interview konnte als Gruppen-Interview geführt werden. Ein Interview wurde mit Sabine Gstöttner geführt. Die Interviews wurden mit Tonband aufgezeichnet, teiltranskribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet. (vgl. Mayering 2002)


3.3 Methodenkritik
Die Anwendung der Übungen findet üblicherweise im Schulregelbetrieb statt, zu dem die Forschung keinen selbstverständlichen Zugang hat. Um die Anwendung der Übungen beobachten zu können, war es daher notwendig, ein spezielles Setting zu schaffen, das sich allerdings vom Regelbetrieb unterscheidet. Dieses Setting wurde von Sabine Gstöttner, der Projektverantwortlichen des Programms, organisiert. Es konnten LehrerInnen dafür gewonnen werden, Projekte in ihren Klassen durchzuführen, die über einen längeren Zeitraum (teilweise über ein ganzes Schuljahr) liefen. Die LehrerInnen erklärten sich bereit, die Anwendung der Übungen von externen ForscherInnen beobachten zu lassen. Dieser aufwändige Forschungszugang bildet zwar nur bedingt den Regelbetrieb des Programms „was schafft raum?“ ab. Da es bei dieser Forschung aber nicht darum ging, die „richtige“ oder „falsche“ Anwendung der Übungen zu untersuchen oder eine flächendeckende Evaluierung des Programms vorzunehmen, sondern vielmehr die Potenziale und Grenzen der Anwendungen von Raumübungen in der Schule zu identifizieren, war dieses spezielle Forschungssetting dennoch gut geeignet, die Fragestellungen zu beantworten. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass an einigen Stellen ungeplante Beobachtungseffekte auftraten, die sich aufgrund der Methode der teilnehmenden Beobachtung ergaben. Beispielsweise meinte einE LehrerIn, dass die SchülerInnen jetzt besonders „brav“ sein sollten, weil die ForscherInnen anwesend seien und sie daher zum „Aushängeschild der Schule“ würden. Diese Beobachtungseffekte hatten aber keine Auswirkung auf die Qualität der Ergebnisse.


4. Forschungsergebnisse
In der Folge werden die Ergebnisse der Forschung beschrieben. Am Beginn wird der Anwendungskontext des Programms dargestellt, danach die Wirkung des Vermittlungsprogramms auf die Sensibilisierung der Raumwahrnehmung bei den SchülerInnen. In weiterer Folge werden die verschiedenen Einflüsse auf diese Sensibilisierung behandelt, insbesondere die Interventionen und das Handeln der LehrerInnen bei der Anwendung der Übungen des Vermittlungsprogramms.


4.1 Anwendungskontexte in den Schulen
4.1.1 Fächer der Lehrenden
Die Raumübungen des Vermittlungsprogramms werden in folgenden Fächern angewendet: Werken, Bildnerische Erziehung, Geographie, manchmal aber auch Deutsch, Mathematik und Religion. Es bestehen Potenziale für die Anwendung in weiteren Fächern bzw. für einen fächerübergreifenden Einsatz. In den eher naheliegenden Fächern Werken, Bildnerische Erziehung und Geographie bringen viele LehrerInnen aufgrund ihrer Ausbildung ein erweitertes Raumverständnis ein.


4.1.2 Kontexte für die Anwendung der Übungen
Die Übungen werden im Regelfall in einzelnen Fächern gezielt angewendet und von einigen LehrerInnen passend zu den Inhalten des Lehrplans in die Gesamtjahresplanung integriert. Die Anwendung der Übungen im Rahmen von längerfristigen Projekten dürfte aufgrund der Rahmenbedingungen in den Schulen nur fallweise erfolgen, auch wenn das Vermittlungsprogramm große Potenziale für Beteiligungs- und Gestaltungsprojekte aufweist. Häufig finden die Übungen auch Anwendung rund um Aufgaben des sozialen Lernens in der Schule, beispielsweise in Kommunikationsstunden mit KlassenlehrerInnen, wo auch Konfliktregelungen und soziale Fragen in der Klassengemeinschaft bearbeitet werden.

Die Übungen eignen sich zudem für die spontane Anwendung in Supplierstunden. Diese Anwendungsform stellt eine niederschwellige Einstiegsmöglichkeit für LehrerInnen ins Programm dar und kann mit wenig Vorbereitung spontan durchgeführt werden, wie die Ergebnisse der Forschung zeigen. Die Anwendung in Blöcken an den Randstunden eines Schultags hat den Vorteil, dass mehr Zeit zur Verfügung steht und die Übungen teilweise besser in den Schulbetrieb integriert werden können. Allerdings sind die SchülerInnen an diesen Randstunden am Tagesende häufig weniger konzentriert.


4.2 Sensibilisierung der Raumwahrnehmung
4.2.1 Verständnis für Architektur und Stadtgestaltung
Die Übungen des Programms „was schafft raum?“ vermitteln den SchülerInnen ein Verständnis von Architektur und Stadtgestaltung. Sie sind so konzipiert, dass die Auseinandersetzung mit Raum sehr niederschwellig und lebensweltnah gestaltet werden kann. Die Lebenswelten und Interessen der SchülerInnen werden in den Vordergrund gerückt und dienen für viele der Übungen als Ausgangspunkt. Dieser Zugang ermöglicht es, dass Raum von den SchülerInnen als mit ihrem Leben und Alltag verbunden wahrgenommen wird. Die SchülerInnen erhalten so einen nachhaltigen Zugang zu Raumwahrnehmung und damit auch eine Grundlage für ein Verständnis von Stadtgestaltung und Architektur. Sie erweitern ihre Alltagskompetenzen und lernen Prozesse zu verstehen. Mit einzelnen Übungen wird zudem spezifisches Wissen über Architektur und Architekturgeschichte sowie über Stadtplanungsprozesse vermittelt.

Durch die Vielfalt der Übungen besteht für die SchülerInnen die Möglichkeit, unterschiedliche Methoden zu erlernen, um Raum darzustellen und über Raum zu kommunizieren. Die Übungen leiten beispielsweise zur Darstellung von Raum in Form von Skizzen, Plänen, Modellen und über Sprache an. Sie regen darüber hinaus dazu an, eigene Ideen und Entwürfe darzustellen. Im Rahmen des Modellbaus entstehen dabei auch (Modelle für) neue Räume, die von den SchülerInnen selbst gestaltet werden.

Die Übungen ermöglichen es den SchülerInnen zudem, sich mit öffentlichem Raum auseinanderzusetzen. Ausgangspunkt dafür ist häufig das unmittelbare Schulumfeld und der Raum vor der Schule. Durch die Anwendung der Übungen besteht die Möglichkeit, den öffentlichen Raum, dessen Gestaltung, aber auch dessen Nutzung und Aneignung ins Blickfeld der SchülerInnen zu rücken. EinE LehrerIn berichtete, wie die Auseinandersetzung mit dem Schulumfeld im Rahmen von „was schafft raum?“ nachhaltige Auswirkungen auf die SchülerInnen hatte:

„Die 2. Klasse ist immer noch dabei, den Kreisverkehr zu gestalten. Sie campieren dort, sie picknicken dort. Sie fragen: ‚Dürfen wir unsere große Pause am Kreisverkehr verbringen?' Es gibt keinen Zebrastreifen zum Kreisverkehr. Sie haben begonnen, mit Kreide einen Zebrastreifen hinzumalen.“


4.2.2 Bewusste Raumwahrnehmung und eigene Bedürfnisse
Das Forschungsprojekt zeigt, dass SchülerInnen durch die Anwendung des Programms „was schafft raum?“ für eine bewusste Wahrnehmung des eigenen Lebensraums sensibilisiert werden. Sie werden angeregt, sich mit dem Schulraum, dem Wohnraum und dem Stadtraum auseinander zu setzen, beispielsweise indem sie nach den Orten gefragt werden, an denen sie sich besonders gerne oder gar nicht gerne aufhalten, oder indem sie Mental Maps von ihrem gewohnten Umfeld zeichnen sollen, bei denen sie verschiedenen Elementen unterschiedliche Bedeutungen geben. EinE der befragten LehrerInnen erläuterte dazu:

„Die SchülerInnen werden durch die Übungen motiviert, anders durch die Stadt zu gehen, aufmerksam und verändert in der Stadt zu schauen.“

Das Programm weckt bei den SchülerInnen gleichzeitig eine Sensibilisierung in Bezug auf eigene Bedürfnisse und eine auf diese bezogene bewusste Raumwahrnehmung. Sie werden aufgefordert, eigene Bedürfnisse und Wahrnehmungen zu erforschen und zu artikulieren. Die Bedürfnisse der SchülerInnen dienen damit auch als Ausgangspunkt für den Unterricht. EinE LehrerIn beschrieb dies folgendermaßen:

„Der Lehrplan sieht normalerweise Themen vor und nicht Bedürfnisse der SchülerInnen. Bei ‚was schafft raum?’ stehen die Bedürfnisse der SchülerInnen im Vordergrund.“


4.2.3 Raum als sozialer Raum
„was schafft raum?“ vermittelt SchülerInnen, dass Raum als soziales Konstrukt zu verstehen ist. Über die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bedürfnissen, die es im Raum gibt, das Erkennen, dass persönliche Raumbedürfnisse in Bezug zu anderen Bedürfnissen stehen, wird deutlich, dass Raum (sozial) produziert wird. Die Übungen machen soziale Dynamiken sichtbar. SchülerInnen lernen, dass Raum nicht nur physisch-räumliche Dimensionen beinhaltet, sondern auch soziale Dimensionen und somit auch sozial hergestellt wird. EinE LehrerIn formulierte dies folgendermaßen:

„Der Raum ist nicht da, den produzieren wir.“

Die SchülerInnen erleben, dass die persönliche Wahrnehmung von Raum von verschiedenen AkteurInnen, sozialen Beziehungen, Interaktionen und Aneignungen geprägt wird. Ein weiteres Zitat aus den Interviews verdeutlicht dies:

„Raum ist nicht nur etwas, was man durchschreitet, sondern wo man ein Teil davon ist.“


4.2.4 Raum neu denken und Reflexion über Raum
Durch Bewegung im Raum, durch Skizzen und Modelle, aber auch durch temporäre Inszenierungen und Installationen werden SchülerInnen angeregt, zu fantasieren und zu experimentieren sowie Raum neu und unkonventionell zu denken.

Durch die Anwendung der Übungen werden auch neue Möglichkeitsräume in der Schule geschaffen. Manchmal werden neue Räume erschlossen, die die SchülerInnen vorher nicht kannten, für die sie neue Nutzungsideen entwickeln oder die ihnen aufgrund von Umgestaltungen oder auch von neuen schulinternen Regelungen wie Pausenaufsichten zugänglich gemacht werden. Es eröffnen sich aber nicht nur physische Räume, sondern auch geistige Räume und Freiräume, die gewissermaßen alternative Räume im Vergleich zum sonstigen Unterricht darstellen. Da sich die Übungen vom Schulalltag abheben, die Bedürfnisse der SchülerInnen in den Blick nehmen und eine Reflexion über den Schulalltag ermöglichen, bieten sie neue Handlungsräume für die SchülerInnen. Diese können sich dadurch stärker als handelnde Personen erleben.

SchülerInnen setzen sich mit Rahmenbedingungen im (Schul-)Raum auseinander. Gleichzeitig wird es den SchülerInnen im Rahmen von Übungen und Projekten ermöglicht, mehr über (schulinterne) EntscheidungsträgerInnen, involvierte AkteurInnen und Gremien sowie Prozesse zu erfahren.

Im Rahmen des Vermittlungsprogramms werden auch Machtverhältnisse im (Schul-)Raum thematisiert bzw. thematisierbar. Über die Beschäftigung mit Interaktionen und Interessen von AkteurInnen im Raum wird der Blick auf Regulation im und durch den Raum sowie auf Prozesse der Raumproduktion gerichtet. SchülerInnen werden dafür sensibilisiert, dass die Gestaltung von Raum prozesshaft ist, dass unterschiedliche Interessen Einfluss auf Raumgestaltung und Raumaneignung haben und dass unterschiedliche AkteurInnen mehr oder weniger Macht haben, ihre Interessen im Raum durchzusetzen. Sie können erkennen, dass Raum das Handeln beeinflusst und reguliert, dass aber auch das Handeln im Raum reguliert wird.


4.2.5 Mitsprache bei der Gestaltung von Raum
Raum wird von den SchülerInnen als gestaltbar erlebt und SchülerInnen lernen Raumbedürfnisse zu artikulieren und kollektiv auszudrücken. Durch die Auseinandersetzung mit der Gestaltung von Schulräumen werden auch die Rahmenbedingungen der Gestaltung thematisiert, d. h. was und wen es braucht, um Veränderungen zu initiieren, wie Entscheidungsprozesse in der Schule ablaufen und wie Interessen und Wünsche der SchülerInnen eingebracht werden können. Die SchülerInnen lernen dabei nicht nur, ihre individuellen Raumbedürfnisse zu artikulieren, sondern Bedürfnisse zu kollektivieren und sich gemeinsam zu organisieren. SchülerInnen können dazu angeregt werden, Forderungen zu stellen, Kontakt mit Verantwortlichen in der Schule aufzunehmen und Verbündete zu suchen – beispielsweise durch die Einbeziehung von Lehrenden oder des Elternvereins. In einer beobachteten Klasse wurden die Projektideen der SchülerInnen dem Administrator der Schule vorgestellt und die Umsetzungsmöglichkeiten der Ideen gemeinsam diskutiert. Die Handlungsmöglichkeiten der SchülerInnen werden erweitert, indem sie zu Eigeninitiative angeregt werden.

Die SchülerInnen können im Rahmen des Programms Erfahrungen sammeln, sich zu artikulieren und sich einzubringen. Sie erleben dabei auch, wie sich manche Ideen leicht umsetzen lassen, andere schwer. Die Bewusstwerdung von Grenzen in den Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten kann unterschiedliche Auswirkungen haben. Einerseits kann sie dazu führen, dass SchülerInnen besser einschätzen können, welche Veränderungswünsche umsetzbar sind und welche nicht bzw. was berücksichtigt werden muss, um Veränderungen herbeizuführen. Andererseits kann sie auch zu Frustration und Resignation führen, wenn SchülerInnen im Schulbetrieb auf Grenzen stoßen, die kaum oder gar keine Veränderungen zulassen.

Das Programm eröffnet Möglichkeiten, Themen des Schulalltags anzusprechen und Veränderungen im Schulraum und im Schulalltag zu initiieren. Konkrete Interventionen im Schulraum können dabei auch für andere SchülerInnen und LehrerInnen sichtbar werden. In einer beobachteten Klasse wurde beispielsweise durch eine Gruppe von SchülerInnen die Abhaltung von Outdoor-Unterricht organisiert. In der Reflexion zu dieser Intervention wurde folgendes Zitat eingefangen:

„Die Outdoor-Klasse war ein Erfolg. Der Kollege, der dabei war, fand es sensationell. Er hat sich wie in einem griechischen Theater gefühlt und so viel Aufmerksamkeit gehabt.“

Über die Mitsprache bei gestalterischen Prozessen innerhalb der Schule erlangen SchülerInnen gleichzeitig Wissen über Planungs- und Beteiligungsprozesse. Lerneffekte sind dabei auch an der Beteiligung in anderen Fragen erkennbar:

&„Wir verreisen für eine Woche. Da gestalten die SchülerInnen mit in Bezug auf die Auswahl der Unterkünfte. Da haben sie sich ganz stark beteiligt, das war letztes Jahr noch nicht so.“


4.3 Einflüsse auf die Sensibilisierung der Raumwahrnehmung
Es wirken vielfältige Einflüsse auf die Sensibilisierung der Raumwahrnehmung. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden die Einflüsse betrachtet, die in einem engen Zusammenhang mit dem Vermittlungsprogramm „was schafft raum?“ stehen. Ein Schwerpunkt lag dabei auf der Auseinandersetzung mit dem Handeln der Lehrenden im Rahmen des Programms. Dieses kann allerdings nicht unabhängig vom System Schule verstanden werden. Die Forschung analysierte daher auch, welche Faktoren und Rahmenbedingungen in den Schulen für die Anwendung des Vermittlungsprogramms relevant waren. Bei den Beobachtungen in den Klassen wurden zudem Faktoren identifiziert, die seitens der SchülerInnen Einfluss auf die Anwendung und Wirksamkeit des Vermittlungsprogramms haben.


4.3.1 Rahmenbedingungen in Schulen
Organisatorische und administrative Rahmenbedingungen in den Schulen, die räumliche und zeitliche Organisation des Schulalltags sowie die Aufsichtspflicht nehmen Einfluss auf die Anwendbarkeit des Vermittlungsprogramms. Die Übungen sind so konzipiert, dass sie im Rahmen der Stundeneinheiten in der Schule (50 Minuten) gut anwendbar sind. Bei der Durchführung von längerfristigen Projekten oder der fächerübergreifenden Anwendung von Übungen können diese zeitlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen allerdings hinderlich sein. Es bedarf eines hohen Engagements seitens der LehrerInnen, wenn sie umfassendere Prozesse gestalten möchten, die über den Einsatz einzelner Übungen im konventionellen Unterricht hinausgehen.

Die Aufsichtspflicht der LehrerInnen kann hemmend darauf wirken, den SchülerInnen zu ermöglichen sich im Raum zu bewegen und mit den SchülerInnen den Klassenraum oder gar die Schule zu verlassen. Die Forschung zeigt, dass LehrerInnen mit diesen Rahmenbedingungen umgehen und die Anwendung der Übungen so zu organisieren versuchen, dass sie trotzdem wirksam eingesetzt werden können.

Die Gruppengröße bzw. die Anzahl der Betreuungspersonen hat einen wesentlichen Einfluss auf die Anwendung der Übungen. Die Raumübungen setzen hohe Ansprüche an die LehrerInnen, da diese Bewegung in den Unterricht bringen, den konventionellen Schulalltag durchbrechen und die SchülerInnen sehr individuell auffordern, Bedürfnisse einzubringen. Je größer die Gruppe ist, desto mehr sind auch die LehrerInnen gefordert. Wenn mehrere Betreuungspersonen zur Verfügung stehen, kann besser mit diesen Anforderungen umgegangen und stärker auf die Bedürfnisse der SchülerInnen eingegangen werden.

Die Lehrpläne sind laut Auskunft der interviewten LehrerInnen so gestaltet, dass sich genug Freiräume für die Anwendung der Übungen finden lassen. Diese Aussage dürfte insbesondere auf Unterrichtsgegenstände zutreffen, die keine Hauptfächer darstellen. Ob dieser Sachverhalt auch für Hauptfächer gilt, konnte durch die Forschung nicht gesichert nachgewiesen werden. In der Kooperativen Mittelschule scheint es genügend Freiräume für die Anwendung der Übungen zu geben, da die LehrerInnen mehrere Fächer unterrichten.

Wenn es Umsetzungsmöglichkeiten für kleinere oder größere gestalterische Ideen von SchülerInnen gibt, wirkt dies besonders motivierend – für die beteiligten SchülerInnen, aber auch für die engagierten LehrerInnen. Die SchülerInnen fühlen sich in ihren Bedürfnissen und Anliegen ernst genommen, sie machen sich Gedanken und können einen realen Beitrag zur Gestaltung des Schulalltags leisten – manchmal schon mit ganz kleinen Veränderungen und Interventionen. Rechtliche und finanzielle Vorgaben in Schulen können auf Prozesse bzw. Projekte allerdings auch hemmend wirken. SchülerInnen können erleben, dass ihre Ideen zur Gestaltung und Nutzung von Schulräumen sehr schwer oder gar nicht umsetzbar sind, weil beispielsweise die Brandschutzordnung das Aufstellen eines Sofas am Gang behindert. Die SchülerInnen lernen durch diese Prozesse auch, dass die Gestaltung von (Schul-)Raum mit Macht und Regulierung sowie verschiedenen gesetzlichen Rahmenbedingungen verbunden ist. Werden diese Lernprozesse nicht gezielt reflektiert, können SchülerInnen allerdings frustriert und demotiviert werden. Ein interessierter und wertschätzender Umgang mit den Ideen der SchülerInnen und den jeweiligen vorhandenen Rahmenbedingungen seitens der PädagogInnen und EntscheidungsträgerInnen in den Schulen hat daher großes Potenzial für die Ermächtigung von SchülerInnen, sich in die Raumgestaltung einzubringen. Wenn EntscheidungsträgerInnen in Projekte integriert bzw. involviert sind, wirkt sich das positiv auf Umsetzungsmöglichkeiten für Ideen von SchülerInnen aus. Es wirkt motivierend auf die SchülerInnen, wenn sie von EntscheidungsträgerInnen in der Schule gehört werden und Umsetzungsmöglichkeiten – trotz schwieriger Rahmenbedingungen – gesucht werden.

Die Raumübungen stehen im Spannungsfeld zwischen dem intendierten Öffnen von Räumen und den Grenzen, die durch den Schulbetrieb gesetzt sind (Lehrplan, Stundenplan, Aufsichtspflicht etc.). Das kann gleichermaßen anregend für LehrerInnen und SchülerInnen sein wie hemmend. Mit dem Programm lässt sich der Schulbetrieb reflektieren. Raumproduktion und gesellschaftliche Prozesse können besser verstanden, Handlungsmöglichkeiten können erweitert werden. Durch das Vermittlungsprogramm können aber auch Erwartungen geweckt werden, wie z. B. zur Gestaltung des Klassenraums, die aufgrund der Rahmenbedingungen in Schulen wieder enttäuscht werden könnten. Eine unreflektierte Anwendung der Übungen kann bei den SchülerInnen also auch zu Frustration und Resignation führen. Ein sensibler Umgang mit diesem Spannungsfeld seitens der LehrerInnen ist daher empfehlenswert.


4.3.2 LehrerInnen
Großen Einfluss auf die Sensibilisierung der SchülerInnen hat die pädagogische Haltung der LehrerInnen. LehrerInnen, die Wertschätzung ausdrücken, die sich für die Bedürfnisse der SchülerInnen authentisch interessieren und den SchülerInnen etwas zutrauen, verstärken die Intention der Übungen. Umgekehrt kann eine gegenteilige Haltung der PädagogInnen von den SchülerInnen im Widerspruch zu den Übungen des Programms erlebt werden. Bei einer abwertenden Haltung der LehrerInnen gegenüber den SchülerInnen werden die Intentionen der Übungen konterkariert und können ihre Wirkung nicht oder nur begrenzt entfalten. Wenn LehrerInnen sehr disziplinierend bzw. abwertend handeln, lernen SchülerInnen, dass sie sich nicht mit ihren Bedürfnissen auseinandersetzen, nicht reflektieren, sich Raum nicht aneignen und keine neuen Handlungsmöglichkeiten entwickeln sollen. Die Beobachtungen zeigen allerdings, dass nicht nur ein sehr disziplinierendes Verhalten, sondern auch ein Laissez-faire-Verhalten im Widerspruch zu den Intentionen der Übungen stehen kann. Wenn LehrerInnen eingreifen, damit die Übungen ernst genommen werden und die SchülerInnen sich gegenseitig zuhören, wird ein Rahmen geschaffen, der einen wertschätzenden Umgang miteinander und mit den Übungen ermöglicht. Den Bedürfnissen der SchülerInnen aber auch der Auseinandersetzung mit den Übungen wird auf diese Weise Wert zugeschrieben.

Wesentlich ist auch das Raumverständnis der Lehrenden bzw. Vortragenden. Die meisten LehrerInnen, die die Übungen von „was schafft raum?“ anwenden, dürften bereits über ein sehr differenziertes und modernes Raumverständnis verfügen. Das Forschungsprojekt zeigt, dass ein Raumverständnis der LehrerInnen, das Raum nicht nur physisch-räumlich, sondern auch sozialräumlich begreift, sehr förderlich für die Anwendung und Vermittlung der Übungen ist.

Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde beobachtet, dass LehrerInnen sehr bewusst bei der Auswahl, der Anwendung und der Adaptierung der Methoden vorgehen. Die LehrerInnen sind ExpertInnen dafür, die Übungen entsprechend ihrer Zielgruppe (Altersgruppe) auszuwählen, zu adaptieren und anzuwenden. Insbesondere die niederschwellige und zielgruppengerechte Vermittlung der Übungen ist eine bedeutende Leistung der LehrerInnen.


4.3.3 SchülerInnen
In Bezug auf das Alter der SchülerInnen zeigt das Forschungsprojekt, dass die Übungen nicht nur für die Unterstufe geeignet sind. Die Übungen werden auch mit älteren SchülerInnen in der Oberstufe erfolgreich angewendet. Die altersgruppengerechte Vermittlung scheint für die Sensibilisierung entscheidend zu sein. Die Forschung zeigt aber auch, dass Dynamiken in Klassen nicht nur vom Alter beeinflusst werden, sondern auch von (bevorstehenden) Lebensphasen. Entwicklungsphasen sind beispielsweise wirksam, wenn sich SchülerInnen stark auf sich beziehen und z. B. das eigene bzw. das andere Geschlecht entdecken. In diesen Phasen wirken Gruppendynamiken in Klassen besonders stark. Die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der SchülerInnen haben jedenfalls einen großen Einfluss auf die Dynamiken, die die Übungen auslösen.

Gruppendynamiken sind in Bezug auf die Anwendung der Übungen besonders relevant, da Raum etwas sozial Konstruiertes ist. Wie sich Raum zeigt, hat mit sozialen Prozessen zu tun. Da Gruppendynamiken aber nicht selbstverständlich reflektiert und durchbrochen werden können, können sie nicht immer nutzbar gemacht werden, um die Konstruktion von sozialem Raum zu verstehen. Sie können behindernd auf Lernprozesse wirken, indem Phänomene wie Gruppendruck, Dominanz und Exklusion wirksam werden. Die Übungen haben aber auch das Potenzial – gemeinsam mit der Klasse – Gruppendynamiken sichtbar zu machen und zu reflektieren, wenn PädagogInnen dazu ausgebildet sind.

Besonderen Einfluss auf die Sensibilisierung der Raumwahrnehmung der SchülerInnen haben deren Vorerfahrungen und bereits vorhandene Raumvorstellungen. Durch Eltern, Medien oder auch Schule geprägte Vorstellungen – z. B. wie Häuser aussehen oder wie 3D-Konstruktionen „richtig“ gezeichnet werden sollen – stehen mitunter auch im Widerspruch zur Intention der Raumübungen und stellen eine besondere Herausforderung dar. Die Übungen von „was schafft raum?“ sind allerdings genau dafür konzipiert, diese „engen“ Raumvorstellungen auch ein Stück weit zu öffnen, zu reflektieren und aufzubrechen. Reale Anknüpfungsmöglichkeiten zur Raumgestaltung, z. B. die Mitgestaltung von Schulräumen oder die Mitsprache bei einer Parkgestaltung, motivieren SchülerInnen zur Auseinandersetzung mit Raum. Erlebte Frustrationserfahrungen in Bezug auf vergangene Gestaltungsprozesse – insbesondere in der Schule – wirken umgekehrt auch negativ darauf, dass sich SchülerInnen auf die Übungen und Prozesse einlassen.


4.4 Entwicklungsmöglichkeiten
Entwicklungsmöglichkeiten bestehen in einer verstärkten Auseinandersetzung mit Gender und Raum sowie mit Diversität und Raum.

Die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Gestaltung von Räumen könnte zudem unterstützt werden, wenn (finanzielle) Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Ideen der SchülerInnen im Rahmen von Projekten zum Schulraum und zum Schulumfeld vorhanden wären.

Das Programm „was schafft raum?“ verweist auf das Potenzial der Öffnung von Schulen. Es regt dazu an, dass SchülerInnen sich für das Schulumfeld sowie für den Stadtteil interessieren. Es kann außerdem dabei unterstützen, neue Räume zu erschließen – innerhalb der Schule, aber auch im Stadtteil (z. B. brach liegende, nicht genutzte Freiflächen in der Umgebung). Schule kann auf diese Weise stärker mit dem Stadtteil verbunden gedacht werden, indem sie sich einerseits selbst zum Stadtteil hin öffnet und Mehrfach- und Zwischennutzungen in bestimmten Räumen ermöglicht und andererseits auch aktiv in den Stadtteil und zu dessen Angeboten hinausgeht. Dabei zeigen sich auch Anknüpfungspunkte in Bezug auf das Modell der „Campusschulen“. Das Programm schafft für die SchülerInnen auf diese Weise zudem ganz konkrete Zugänge zu Stadtplanung, Stadtentwicklung und Beteiligungsprozessen.

Es könnte Sinn machen, sich mit Anknüpfungspunkten zwischen dem Programm und den SchülerInnen-Parlamenten bzw. anderen Angeboten der offenen Kinder und Jugendarbeit (MA13) auseinander zu setzen. Im Rahmen von SchülerInnen-Parlamenten werden Gestaltung und Aneignung von Schule und Bezirk über demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse thematisiert.

Das Programm birgt das Potenzial, dass Veränderungsprozesse und (temporäre) reale Interventionen und Installationen für die ganze Schule und deren SchülerInnen sowie darüber hinaus (Eltern, Stadtteil, Bezirk) sichtbar und erlebbar werden. Über Projekte in Schulen könnten Raumwahrnehmung und Raumgestaltung für eine breitere Öffentlichkeit thematisiert werden. Installationen und Interventionen in Schulen könnten auf der Homepage veröffentlicht werden und so als Anregung für interessierte LehrerInnen und Schulen dienen.


5. Zusammenfassung der Ergebnisse
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass das Vermittlungsprogramm Einfluss auf die Raumwahrnehmung von SchülerInnen nimmt. Die SchülerInnen werden angeregt, sich reflexiv und differenziert mit Raum auseinanderzusetzen. Die verschiedenen Übungen des Programms sind so konzipiert, dass SchülerInnen ihre (Raum)Bedürfnisse und (Raum)Wahrnehmungen einbringen können. Anhand der Übungen verstehen sie, dass sie selbst Teil von Raum sind, dass Raum auf sie wirkt und dass sie Raum auch verändern und gestalten können. Sie lernen, dass Raumwahrnehmung und Raumgestaltung mit Bedürfnissen und Interessen unterschiedlicher Menschen in Zusammenhang stehen. Sie können auf diese Weise auch erkennen, dass Raum sozial produziert wird.

Durch eine lebensweltnahe Vermittlung, die einerseits in der praxisorientierten Anleitung der Übungen grundgelegt ist, andererseits durch eine zielgruppengerechte Anwendung seitens der Lehrenden unterstützt werden kann, wird ein nachhaltiges Lernen der SchülerInnen ermöglicht. Das Vermittlungsprogramm regt dabei nicht nur zur Reflexion über Raum an, sondern auch zur aktiven Formulierung und Einbringung von Interessen der SchülerInnen in die Gestaltung ihres Umfelds. „was schafft raum?“ eröffnet den Blick auf Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Durch das Vermittlungsprogramm wird nicht nur ein Verständnis bzw. ein Interesse für Architektur und Stadtgestaltung – für Planungsprozesse und verschiedene planerische Methoden – geschaffen, sondern auch eine Grundlage für die Partizipation an Planungsprozessen. SchülerInnen lernen durch die Übungen und Projekte, dass Raum eine Bedeutung für jeden einzelnen Menschen sowie im sozialen Gefüge hat. Sie werden dazu motiviert, sich auch außerhalb der Schule mit Stadtplanung, Stadtgestaltung, Architektur, Gestaltungs- und Beteiligungsprozessen auseinanderzusetzen. Die im Rahmen des Vermittlungsprogramms initiierten Lernprozesse betreffen in diesem Sinn auch eine (demokratie-)politische Ebene.

Der Erfolg des Programms hängt in erster Linie von der Anwendung durch interessierte PädagogInnen ab. Die Anleitungen der Übungen sind so gestaltet, dass sie durch LehrerInnen prinzipiell leicht anwendbar sind. Die Forschung zeigt, dass interessierte LehrerInnen maßgeblich dazu beitragen, die Übungen so zu vermitteln bzw. so anzuwenden, dass sie den jeweiligen Fähigkeiten und Altersgruppen der SchülerInnen entsprechen. Die auf der Homepage verfügbaren Übungen werden in der konkreten Anwendung auch adaptiert und kreativ abgewandelt.

Im Rahmen der Forschung wurden die Umsetzungsmöglichkeiten von Ideen thematisiert, d. h. die Möglichkeiten, Gestaltungsprozesse im Schulraum und Schulumfeld initiieren und umsetzen zu können. Eigeninitiative und Mitsprache der SchülerInnen könnten so besonders gefördert werden und gleichzeitig zu gestalterischen Verbesserungen im Schulalltag beitragen. Dabei sind Verknüpfungen zu SchülerInnenparlamenten denkbar, aber auch zu Förderschienen (wie vom Österreichischen Institut für Schul- und Sportstätten ÖISS). Gerade die finanziellen Ressourcen sowie die administrativen und organisatorischen Rahmenbedingungen in der jeweiligen Schule sind von entscheidender Bedeutung und entsprechend mit zu bedenken, wenn nachhaltige Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten für die SchülerInnen gewährleistet werden sollen. „was schafft raum?“ steht dabei auch für eine andere Form des Unterrichts, in der Mitsprache ermöglicht und Freiräume eröffnet werden.

Über das Programm „was schafft raum?“ hinaus gedacht, stellt sich die kritische Frage, wie die Auseinandersetzung mit Raum, Architektur, Stadtplanung und Stadtgestaltung, aber auch politischer Bildung stärker in den Regelschulbetrieb aufgenommen werden könnten. Aus raumtheoretischer Perspektive ist außerdem deutlich, dass nicht nur beim Bewusstsein von SchülerInnen angesetzt werden kann, wenn Raumproduktion partizipativer gedacht werden soll. Strukturelle Rahmenbedingungen, wie Beteiligungsmöglichkeiten im Schulbetrieb, aber auch in der Stadtplanung sind zu berücksichtigen. Es stellt sich die Frage, wie Kommunalpolitik und Verwaltung organisiert sein muss, damit partizipative Abläufe tatsächlich einfließen können. Aus raumtheoretischer Überlegung heraus braucht es also ein Gesamtkonzept für eine partizipative Planung und Stadtplanung, das die unterschiedlichen Einflussfaktoren der Raumproduktion berücksichtigt. „was schafft raum?“ kann dabei einen Beitrag dazu leisten, SchülerInnen an eine partizipativ gedachte Stadtplanung und Gestaltung von Raum heranzuführen.


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Über die AutorInnen

Dipl.-Ing. Dr. Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Jg. 1979
katharinakirsch@gmx.at

Architekturstudium an der TU Wien; Forschungsaufenthalte in Deutschland und Brasilien; forscht und arbeitet in den Bereichen Stadtentwicklung, Stadterneuerung, Stadtteilarbeit und sozialer Wohnbau; seit 2014 Leiterin der Stadtteilarbeit in der Caritas Wien; Lektorin an der FH Campus Wien, Department Soziales, Masterstudiengang Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit.

Christoph Stoik, MA, Jg. 1971
christoph.stoik@fh-campuswien.ac.at

Diplomsozialarbeiter und Master of Community Development; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FH Campus Wien, Department Soziales, Masterstudiengang Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit; Arbeitsschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, Sozialraumarbeit und -orientierung, Sozialraumanalyse, Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, Stadt- und Regionalentwicklung.