soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/417/723.pdf


Loch, Ulrike (2014): Kinderschutz mit psychisch kranken Eltern. Ethnografie im Jugendamt. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.


444 Seiten / EUR 39,95

Die Habilitationsschrift von Frau Loch, die Sozialarbeit und Sozialpädagogik studiert hat und an der Universität in Klagenfurt im Fachbereich Sozialpädagogik forscht und lehrt, ist für das Fachpersonal und für Studierende der Sozialen Arbeit in mehrfacher Hinsicht lesenswert:

1. Die Autorin führt dermaßen anschaulich in die qualitative Forschungsstrategie der Ethnografie ein, dass diese auch für den konkreten fachlichen Alltag gut nachvollziehbar wird. Kurz gesagt dient dieses Forschungskonzept mit seiner Vielzahl an Methoden zur Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit, wie sie im Alltagshandeln hergestellt wird. Es geht um die Versprachlichung der „schweigenden Dimensionen des Sozialen“ (vgl. Loch 2014: 75ff). Dazu braucht es den Dialog. Deshalb greifen Interviews zu kurz. Sie werden ergänzt durch enthaltsame, aber systematische teilnehmende Beobachtungen im Feld, durch das Herausheben zentraler Situationen bzw. Formulierungen, die möglichst sach- bzw. wortgetreu zu notieren sind. Für die Analyse ethnografischer Protokolle, welche neben der Aufnahme der Gespräche der TeilnehmerInnen im Feld auch dabei aufkommende eigene Gedanken/Überlegungen/Gefühle („Mitschwingen im Feld“) an den sensiblen Stellen in den Textfluss einbauen („ethnografische Notizen“), gelten die Grundlagen der hermeneutischen Textauswertung. Das Dechiffrieren von Perspektiven und die Einschätzungen der Beteiligten (Eltern, Kinder, Fachpersonal) gehören ebenso dazu wie die Kontextualisierung des in Gesprächen/Situationen Vermittelten und die Destruktion von Verstrickungen. Bei aller Notwendigkeit entsprechender Ausbildung regt die Darstellung an, selbst – oder besser im Team – entsprechende Fälle systematisch und reflexiv aufzubereiten.

2. Sie gibt – erwartungsgemäß – eine breite und informative Einführung in den aktuellen Forschungsstand der Situation von Kindern psychisch belasteter Eltern.

3. Und schließlich stellt sie drei überaus diffizil gestaltete Fallrekonstruktionen vor. Diese sind systematisch aufgebaut. Eingeleitet werden sie jeweils durch eine Fallskizze. Darin erfolgt eine grundlegende zusammenfassende Darstellung über die Herkunftsfamilie. In den Abschnitten über die Datenbasis finden sich die Hinweise zu Anträgen, Gutachten, Vermerken der Interviewmitschnitte, dann ethnografische Protokolle von (kollegialen) Beratungen im Jugendamt, ebenso wie mündliche Darstellungen des Fallverlaufs und Falleinschätzungen der Fachkräfte gegenüber der Ethnografin etc. Die mehrere Unterkapitel umfassenden Fallspezifika, „anhand derer exemplarisch wesentliche Aspekte der Fallprozessierung durch die Fachkräfte Sozialer Arbeit mit dieser AdressatInnengruppe dargestellt werden“ (ebd.: 114), schließen jeweils mit dem Abschnitt „Diskussion professioneller Perspektiven und Handlungssetzungen“.

Unter Betonung der großen Linien geht es um die Bedeutung von klinischen Diagnosen und deren problematischer Dominanz in der sozialpädagogischen Fallarbeit (Fall 1), um stationäre Inobhutnahme im Spannungsfeld von psychosozialen Problemlagen (Erziehungsfähigkeit) und gesellschaftlichen Anforderungen an Erwachsene (Fall 2) und schließlich um die transgenerationelle Traumatisierung eines Kindes durch parentifizierende Eltern (Fall 3). Alle drei Fallanalysen lesen sich trotz ihrer Komplexität aufgrund der gut aufbereitete Analysen der psychodynamischen Problemkonstellationen in den Eltern-Kind-Fachkräfte-Interaktionen ungemein spannend und gewinnbringend.

Im ersten Fall kann die Autorin deutlich machen, wie klinische Diagnosen von Eltern und MitarbeiterInnen zunächst in einer Weise partiell aufgenommen werden, die mit den eigenen Vorstellungen der Fallarbeit kompatibel sind. Sie zeichnet sachkundig nach, wie aufwändig es für die Fachkräfte ist, neue Prioritätensetzungen (Umorientierung von den Bedürfnissen der Mutter auf das Wohlergehen des Kindes) vorzunehmen. Dabei wird deutlich, dass eine Orientierung an den Bedürfnissen/Wünschen der Eltern allzu leicht zu einer Vernachlässigung der Bedürfnisse des Kindes im Sinne des Kindeswohls führt. Dieses zunächst Nicht-Wahrnehmen der „Kindbedürfnisse“ zugunsten der „Elternbedürfnisse“ durch die Fachkräfte zieht sich durch alle drei Fälle. Als wichtige Komponenten für ein adäquates Fallverständnis stellen sich die sozialpädagogischen Rahmungen von medizinisch-psychologischen Stellungnahmen und die damit verbundenen Veränderungen der Machtkonstellationen im Hilfefall heraus (vgl. ebd.: 168). Auch die produktive Kooperation zwischen der JW-Behörde, der Pflegestelle und dem Pflegekinderdienst wird hinsichtlich der fordernden Arbeitsweisen (treffend charakterisiert als „konstruktiver Umgang der erfahrenen Fachkräfte mit Anstrengung und Verunsicherung“; ebd.: 178) gut veranschaulicht.

Die Inobhutnahme eines Kindes einer psychisch instabilen und emotional bedürftigen Mutter und die damit einhergehenden und daraus folgenden Maßnahmen auf der Ebene der Eltern, der Fachkräfte des Jugendamtes und der freien Träger in der Kinder- und Jugendhilfe bilden den Gegenstandsbereich des zweiten Falles. Die Arbeit nimmt anhand der empirisch fundierten Fallanalyse lehrbuchartigen Charakter in bestem Sinne an, indem sie ein Miterleben der Forschungs- und Gestaltungsprozesse durch ihre Darstellungsweise ermöglicht: bei den behördlichen Jugendamtsfachkräften, bei der Punkt für Punkt nachgezeichneten Problembearbeitung durch die sozialpädagogischen Fachkräfte, z. B. bei der Elternarbeit, bei der Gestaltung der Hilfeentscheidungen als kooperativer Prozess aller Beteiligten etc. (vgl. ebd.: 228ff). Darüber hinaus thematisiert die Autorin auf spannend zu lesende Art die Hierarchisierung der Diagnoseerstellung. Diese scheint in Österreich besonders ausgeprägt zu sein zugunsten der klinischen Diagnosen vor Fallverstehensprozessen. Sie kommt anhand der Analyse des empirischen Materials zum Schluss, dass klinische Diagnosen das Fallverstehen nicht ersetzen können und resümiert: neben die klinische Diagnose hat das Fallverstehen zu treten, ergänzt und erweitert durch die Erhebung und Bewertung der bisherigen Hilfegeschichte unter Einbeziehung der Reflexion des Helfersystems (vgl. ebd.: 283ff., bes. 288).

Den Kern des dritten Falles bildet die Analyse psychodynamischer Beziehungsmuster von parentifizierenden Eltern im Rahmen einer transgenerationellen Traumatisierung. Dahinter steht ein sexueller Missbrauch der Mutter durch ihren Stiefvater. Wegen der Geschlossenheit des Familiensystems sind die subtilen Belastungen des Kindes außerhalb von Krisensituationen für Außenstehende kaum bemerkbar (s.o.; vgl. ebd.: 314 und 325). Die ausführliche Darlegung der Eltern-Kind-Dynamik sensibilisiert für die Perspektive der Mikroebene der Familie zur Wahrnehmung psychischer Gewalt in transgenerationellen Prozessen. Die kollegial (im Tandem) erfolgende Fallarbeit erweist sich nachgewiesener Weise als besonders von Vorteil. Als vorbildlich können die Schilderung einer strukturierenden Vorbereitung von Hausbesuchen und deren nachfolgende Analyse gelten. Themen sind dabei Tabus bei der Selbstvorstellung, Verschleierung bzw. Verzögerungen bei der Offenlegung von Problemkonstellationen etc. (vgl. ebd.: 323ff). Inhaltlich höchst interessant lesen sich die Darstellungen um die wechselvollen Bemühungen um den Aufbau eines Kinderschutzkonzeptes mit Verweisen auf traumarelevante Interaktionsmuster (bezogen auf Dissoziationen und Borderline-Symptome), traumabezogene Eltern-Fachkräfte-Interaktionen (mit Spaltungstendenzen auf Seiten der Eltern) und traumasensible Kooperationen (Visibilisierung der exkludierenden Interaktionsmuster der Eltern durch die Fachkräfte). Die Autorin rundet diesen dritten Fall ab mit inhaltlich aufbereiteten Hinweisen zu traumasensibler Elternarbeit. Sie regt an, „transparente sozialpädagogische Angebote der Elternarbeit zu schaffen, bei denen psychisch erkrankte Eltern ihre innere Ambivalenz auf zwei Fachkräfte verteilen können, ohne hierdurch einen Abbruch von Unterstützung und/oder Beziehung zu provozieren“ (ebd.: 385).

Den Abschluss der Arbeit bilden „ausgewählte Themen und Schlussfolgerungen“. Sie bringen eine zusammenfassende Vorstellung der familialen Problemkonstellationen unter Beachtung der Schwierigkeiten im Zugang zu Unterstützungen und im Umgang mit diesen. Unter Bezugnahme auf die dargestellten Fälle haben sie die professionellen Möglichkeiten adäquater Problemanalysen und angemessener Hilfeplanung und Prozessgestaltung zum Ziel. Die Bedeutung der Elternarbeit sowohl bei ambulanten als auch stationären Hilfen – seit Jahrzehnten gefordert – wird empirisch gut begründet (vgl. ebd.: 411). Und schließlich skizziert Frau Loch noch die Umrisse eines Curriculums für eine Zusatzqualifikation zur traumapädagogisch orientierten Fallarbeit (vgl. ebd.: 417).

Kleinere Wiederholungen im Text wirken nicht störend, sondern verbessern die Lesefreundlichkeit angesichts der Komplexität der Fälle. In der Dichte der Darstellung geht auch ein „Stanzer“ Brief (von Pestalozzi) durch.

Nach Auffassung des Rezensenten lassen sich die erarbeiteten Analysen und Zugangsweisen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf weite Bereiche des Klientels der Kinder- und Jugendhilfe beziehen. Deshalb empfiehlt sich das von Frau Loch vorgelegte diffizile Werk nachdrücklich als Lehr- und Studienbuch für die klassische Fallarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe.



Josef Scheipl / josef.scheipl@fh-joanneum.at