soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 14 (2015) / Rubrik "Nachbarschaft" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/418/733.pdf


Lulzim Dragidella:

Menschenrechte in der globalisierten Welt am Beispiel Kosovo und die Rolle der Sozialarbeit als Kritikerin der Gesellschaft


1. Kalter Krieg und Globalisierung
Mit dem Ende des Kalten Krieges endete die Ära der Bipolarität, welche das internationale System über vier Jahrzehnte bestimmt hat. Durch die Auflösung des weltumspannenden Antagonismus zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR wurde der Weg frei für eine signifikante Beschleunigung und Intensivierung grenzüberschreitender Austauschprozesse. Alle diese Prozesse werden unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefasst. Allerdings ist der Begriff nur bedingt hilfreich, da er nahezu alle Veränderungen in wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder kulturellen Bereichen bezeichnet. Ruigrok und van Tulder (1995: 139) haben 1980 in den wichtigsten ökonomischen Zeitschriften 50 Artikel gefunden, in denen die Wörter „global“ oder „Globalisierung“ verwendet worden, 1990 waren es bereits 670 Artikel. 25 Jahre später ist davon auszugehen, dass diese Zahl um ein Vielfaches höher ist. Der Begriff der Globalisierung ist längst ein fester Bestandteil der Alltagssprache. Politiker, Medienvertreter oder Wirtschaftsbosse sprechen ihn immer wieder aus und haben ihn so zu einem grundlegenden Allgemeingut erhoben. „Globalisierung“ ist ein Schlagwort, mit dem auf grundlegende Phänomene unserer Zeit verwiesen wird.


1.1 Globalisierung als Verflechtung transnationaler Prozesse
Sowohl die zunehmende Begriffsverwendung als auch die faktischen Veränderungen, die unter den Begriff der Globalisierung fallen, zeigten sich in erster Linie bei den Veränderungen der Volkswirtschaften. Diese entwickeln noch immer globale wirtschaftliche Verflechtungen, was insbesondere an den Gründungen transnationaler Wirtschaftsräume oder gemeinsamer Währungen zu erkennen ist. Das Wachstum des Welthandels, die vertiefte Integration der Weltfinanzen und die Multinationalisierung der Produktion sind weitere Beispiele für transnationale Verflechtungsprozesse. Die Globalisierung zeigte sich aber auch schon früh in den Bereichen Kultur, Medien und Sicherheit (vgl. Held et al. 1999).

Die Globalisierung führte darüber hinaus zu einem Aufflammen alter Konflikte. Durch die machtpolitisch und ideologisch motivierte Konfrontation der Blöcke und ihrer jeweiligen Klientel wurde eine ganze Reihe von regionalen und innerstaatlichen Konfliktformationen überwölbt, eingedämmt oder konserviert, sodass es nach der welthistorischen Zäsur des Jahres 1990 im Zuge einer „Revitalisierung der Vorvergangenheit“ nahezu zwangsläufig zu einem Wiederaufflammen bzw. zu einer Verschärfung dieser Konfliktherde kommen musste (vgl. Ahlbrecht/Meyers 2008: 62f). In einigen Fällen führte der Wegfall der stabilisierenden Wirkung des Ost-West-Konflikts zum völligen Zusammenbruch staatlicher Strukturen und zur Herausbildung von sogenannten „Räumen (oder Territorien) begrenzter Staatlichkeit“. Der Begriff ist durch das Forschungsprojekt des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin und die Autoren, Thomas Risse, Ursula Lehmkuhl, Sven Choinjacki, Tanja Börzel et al. etabliert worden. Es handelt sich um einen Begriff, der für 2/3 aller Staaten der Welt zutrifft. Gemeinsames Merkmal dieser Staaten ist, dass sie durch einen substanziellen Mangel (lack) innerstaatlicher (domestic) Souveränität gekennzeichnet sind. Die AutorInnen fassen dies wie folgt zusammen:

“This is what Somalia, Brazil, and Indonesia, but also the People’s Republic of China have in common. And this is also what they share with modern protectorates such as Afghanistan, Kosovo, or Bosnia-Herzegowina, i.e., internationally recognized states that lack, ‘Westphalian sovereignity‘ in the sense that external actors rule on parts of their territory or in some policy areas.“ (Börzel/Risse 2009: 1ff)


1.2 Die begrenzte Staatlichkeit – Formen und Wirkungen
Bei den Formen begrenzter Staatlichkeit ist zwischen unterschiedlichen Graden zu differenzieren. In schwachen Staaten ist die Steuerungsfähigkeit des Staates leicht eingeschränkt. In versagenden oder emergenten Staaten ist das staatliche Gewaltmonopol stark eingeschränkt. In zerfallenen Staaten (wie zeitweise in der Bundesrepublik Jugoslawien in den 1990er-Jahren) oder Räumen ohne Staatlichkeit (wie zeitweise dem Kosovo nach der militärischen Intervention der NATO-Truppen 1999) ist es gar nicht mehr vorhanden. Diese Unterscheidung der Formen begrenzter Staatlichkeit geht auf Pal Kolsto (2006) zurück, der in seinem Artikel „The Sustainability and Future of Unrecognized Quasi-States“ die Begriffe folgendermaßen definiert:

„in order to clear up this confusion, recognized but ineffectual states ought to be referred as ‘failed states’, while the term ‘quasi-states’ ought to bereserved for unrecognized, de facto states. Since quasi-states are not supported by international recognition, they must be sustained by something else.“ (Kolsto 2006: 1, vgl. Schneckener 2006: 24ff)

Von diesen Problemstaaten und -territorien gehen Destabilisierungstendenzen für das internationale System aus, die durch die wachsenden Interdependenzbeziehungen als Folge des Globalisierungstrends noch zusätzlich forciert werden (vgl. Risse 2005: 6-12). Zur Abwehr dieser Gefährdungslagen sehen sich einzelne Nationalstaaten oder die gesamte Staatengemeinschaft zum Eingreifen in diesen Gebieten gezwungen. Selbstverständlich ist die Einschätzung, dass verschärfte (humanitäre) Krisensituationen ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft erforderlich machen, nicht allein sicherheitspolitischen Überlegungen geschuldet, sondern auch den ethisch-moralischen Grunddispositionen, insbesondere der „westlichen“ Gesellschaften.


1.3 Transnationale Prozesse und Amerikas Rolle
Samuel P. Huntington, der den Begriff „clash of cultures“ in die Debatte eingeführt hat, rief 1990 die Ära der dritten Welle der Demokratisierung aus. Diese optimistische Theorie regte den internationalen Interventionismus durchaus an. So konstatiert Schimmelfennig (2008):

„Waren Demokratien noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Rarität, so kam es in den vergangenen zwei Jahrhunderten zu drei Wellen der Demokratisierung (Huntington 1991), denen zwar regelmäßig auch Rückschlage folgten, an deren Ende aber dennoch die Zahl von Demokratien höher war als am Ende der vergangenen Welle.“ (Schimmelfennig 2008: 155f)

„Aus liberaler Sicht korrespondiert das Kriegsgeschehen mit den Wellen der Demokratisierung im internationalen System. Der Zuwachs von Demokratien mündet in einen Rückgang von Kriegen – allerdings mit zeitlicher Verzögerung, weil Demokratisierungsprozesse häufig von Gewalt begleitet werden.“ (ebd.: 201)

Was für viele Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts mit Transition und Transformation zutrifft, sollte sich als globale Erscheinung allerdings nicht bewahrheiten, nämlich dass es zu einer anhaltenden Demokratisierung der Welt (zu einem Umkippen der Mehrheitsverhältnisse auf der internationalen Bühne zu Gunsten der etablierten demokratisch regierten Staaten) kommen würde. Dennoch halten noch immer zahlreiche Theoretiker der internationalen Beziehungen an einer unkritischen Idealisierung des demokratischen Regimes fest, was nur teilweise mit geopolitischen Veränderungen begründet werden kann. Vordergründig scheint es sich vor allem um das Ergebnis einer bestimmten politischen Kultur zu handeln, die sich innerhalb der USA entwickelt hat. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sah mit dem Ende des Ost-West-Konflikts das „Ende der Geschichte“ gekommen. Die Bipolarität der Welt wurde aufgehoben und die liberale Demokratie, so Fukuyama, hätte sich endgültig als globales System durchgesetzt, was auch ein Ende der Geopolitik und eine zunehmende Rolle wirtschaftlicher Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit bedeuten würde (vgl. Fukuyama 1992: 379f). Auch wenn dieses Konstrukt seine Kritiker gefunden hat, ergänzt es sich hervorragend mit dem Ansatz der New World Order, welcher vor allem in der US-Außenpolitik vertreten wird. Daher scheint es nur logisch zu sein, den Einfluss der US-Politik auf die globalisierte Weltkultur entsprechend zu würdigen: „Idealism and America’s role in the world“ (Brooks 2009: 315f.) ist dafür die entscheidende erklärende Variable. Die USA können sowohl als Nationalstaat als auch als Sinnbild einer liberalen Demokratie nicht nur weltweit militärisch operieren, sondern auch die eigenen Deutungsmuster und Handlungskategorien zu internationalen Normen erheben. Staaten, die von diesen Normvorstellungen abweichen, werden mit Sanktionen belegt oder zur Intervention freigegeben.


1.4 Internationale Normen
Seit den letzten 15 Jahren lässt sich innerhalb der Theorienlandschaft der Internationalen Beziehung eine Aufwertung der Forschung um den Begriff der Norm feststellen. Die Wirkung von Normen auf international relevante Politiker hat mehr Bedeutung erlangt als die Interessen von Staaten, die bisher den Kern der meisten politikwissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Gebiet der internationalen Studien bildeten. Eine ganze Schar von Politikwissenschaftlern interessiert sich seither für den Prozess der Normenentstehung und deren Adaptation in unterschiedlichen Konstellationen und unter unterschiedlichen Bedingungen auf der internationalen Bühne. (So zum Beispiel Tannenwald 2005, 1999, Risse/Ropp/Sikkink 1999, Keck/Sikkink 1998, Finnemore/Sikkink 1998)

In der Frage nach internationalen Normen kommt vor allem dem Imperativ der Wahrung der Menschenrechte eine zentrale Funktion zu. In welchem Verhältnis diese beiden Facetten – die sicherheitspolitische und die humanitäre – zueinander stehen, lässt sich wohl nur von Fall zu Fall klären. Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang gleichwohl sagen, dass grundsätzlich immer die Möglichkeit besteht, dass mit entsprechenden Argumentationsfiguren nicht zuletzt eine Camouflierung von eigennützigen Interessen erreicht werden soll. Jedenfalls hat die Parallelität von zunehmender Konflikthäufigkeit bei einer gleichzeitig schnelleren und intensiveren Ausbreitung der diversen Konfliktfolgewirkungen (Flüchtlingswellen, Herausbildung eines Milieus für organisierte Kriminalität und transnationalen Terrorismus, Umweltzerstörungen etc.) nicht nur die politischen Akteure, sondern auch die Friedens- und Konfliktforschung vor die Herausforderung gestellt, nach neuen Ansätzen zu suchen, mit denen zum einen die Auswirkungen dieser Konflikte beschrieben und zum anderen zukünftige Konfliktursachen rechtzeitig und wirkungsvoll antizipiert werden können. Insbesondere die Einhaltung von Menschenrechten in Räumen begrenzter Staatlichkeit oder Quasi-Staaten wie dem Kosovo stehen dabei im Zentrum der Untersuchung, da sich die Spirale von Minderheitenunterdrückung und interethnischen Konflikten scheinbar unaufhaltsam fortsetzt.

„Bereits am 1. August 1999 sagte der Kfor-Oberkommandierende Michael Jackson: ,Die Albaner sind nicht besser als die Serben, und sie benehmen sich genauso abscheulich‘. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Kfor bereits 198 Morde seit ihrem Einmarsch registriert, davon 73 an serbischen Zivilisten, während die serbisch-orthodoxe Kirche allein die Zahl der ermordeten Serben mit über 200 angab. Nach Angaben von Human Rights Watch waren zu dieser Zeit 164.000 Serben bereits aus der Provinz [Kosovo] geflüchtet, außerdem eine beträchtliche Zahl von Roma. Jacksons Entrüstung vorausgegangen war das bis dahin schlimmste Massaker an serbischen Zivilisten: Am 23. Juli waren 14 Serben, darunter ein 15jähriger Junge, bei Feldarbeiten in Gracko massakriert worden.“ (Elsässer 2004: 193).


2. Konfliktherd Kosovo als neuartige Herausforderung
Das Paradebeispiel für diese neuralgische Entwicklung stellen dabei zweifelsohne die Auflösungskriege im ehemaligen Jugoslawien dar. Zum einen zeigte sich nach 1990, dass dieser Vielvölkerstaat nach dem Ende der bipolaren Weltordnung nicht mehr überlebensfähig war und die traditionellen ethno-nationalistischen, sozio-ökonomischen und machtpolitischen Differenzen zwischen den einzelnen Volksgruppen nur durch einen umfassenden Repressionsapparat – temporär – neutralisiert werden konnten. Zum anderen wurde der Rest Europas mit den schockierenden Konsequenzen dieser Kriege – 100.000 Tote und 2 Millionen Flüchtlinge – konfrontiert. Verstärkt wurden die Bedrohungswahrnehmungen dabei durch den so genannten CNN-Effekt, bei dem durch eine gebündelte und zugespitzte mediale Berichterstattung der Eindruck einer besonders hohen Virulenz von krisenhaften Entwicklungen erweckt und auf diese Weise die Handlungs- bzw. Interventionsbereitschaft der Nationalstaaten und ihrer Gesellschaften gesteigert wurde (vgl. Bahador 2007: 67ff).


2.1 Ordnungsversuche durch Interventionen
Nachdem die Europäer in Gestalt der Europäischen Union (EU) vorerst nicht in der Lage waren, den Kriegshandlungen und Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan effektiv Einhalt zu gebieten, kam es im Zusammenhang mit dem Konflikt um die Provinz Kosovo im Frühjahr 1999 zu einer militärischen Intervention durch die NATO, in deren Nachgang eine internationale Verwaltung unter Führung der Vereinten Nationen (UNMIK – United Nations Interim Administration Mission) für die Provinz eingerichtet wurde. Zuvor wurde bereits zur Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton (1995), welches den Krieg in Bosnien, Herzegowina und Kroatien beendete, mit dem High Representative in Bosnia and Herzegovina (OHR) eine Aufsichtsinstitution der Vereinten Nationen mit weitreichenden Vollmachten in einer Krisenregion des ehemaligen Jugoslawiens eingesetzt.

Das Ziel dieser internationalen Verwaltung bestand erklärtermaßen darin, die Region zunächst zu befrieden und anschließend eine Lösung zu finden, die sicherstellt, dass neue gewaltsame Konflikte unter allen Umständen vermieden werden, wobei die Frage nach dem anzustrebenden Status für das Kosovo allerdings unbeantwortet blieb. Das übergeordnete Ziel der Mission bestand mithin darin, einen nachhaltigen Ordnungs- und Stabilisierungsbeitrag für die Bearbeitung eines virulenten Sicherheitsproblems auf dem europäischen Kontinent zu erbringen, von dem massive Folgewirkungen für die europäischen Nationalstaaten ausgingen. In diesem Sinne wurde der Kosovo-Konflikt als ein neuartiges grenzüberschreitendes Ordnungsproblem begriffen, das zu seiner Bearbeitung die Entwicklung und den Einsatz innovativer Politikmuster erforderlich machte. Jedoch stellte sich die Frage, wie die entsprechenden Strukturen und Prozessabläufe dieser (Übergangs-)Verwaltung konkret ausgestaltet sein sollten und vor allem, welche verschiedenen Akteursgruppen es dabei zu involvieren galt. Ein rein staatenbasierter Ansatz wurde aus mehreren Gründen von Anfang an als nicht erfolgversprechend angesehen.

An erster Stelle bei dieser Überlegung stand dabei der Legitimitätsaspekt: Da die ohne ein UN-Mandat durchgeführte Kosovo-Intervention vor dem Hintergrund der bis dato geltenden völkerrechtlichen Grundsätze und Normen – die primär auf das Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates abzielten – stark umstritten war und dem Vorwurf einer neokolonialen Annexion entgegengewirkt werden musste, sprach vieles dafür, die Verantwortung und Federführung für dieses Projekt auf eine internationale Organisation zu übertragen, die ein Höchstmaß an Legitimität im Konfliktgebiet, aber auch weltweit für sich beanspruchen konnte. Die Diskussion um das Für und Wider von humanitären Interventionen wurde zu diesem Zeitpunkt zwar schon geführt, allerdings erfuhr das Spannungsverhältnis zwischen Souveränität und Menschenrechten nur eine allmähliche Neujustierung, wobei der Kosovo-Konflikt Impulse für diese Diskussion geliefert hat (vgl. Loges 2009: 359-380).


2.2 Transnationalismus und öffentlicher Rechtfertigungsdruck
Hierfür kamen lediglich die Vereinten Nationen in Betracht, wohingegen die NATO aufgrund ihres – zumindest zugeschriebenen – Charakters als „Club der westlichen Staaten“ für diese Rolle ausfiel. Denn trotz aller Defizite und Missstände gelten die Vereinten Nationen weithin als die einzige Instanz, der in allen Weltregionen ein grundlegendes Vertrauen entgegengebracht wird und in deren Rahmen so etwas wie ein globaler Konsens im Hinblick auf akzeptable Lösungsstrategien für gravierende Weltordnungsprobleme hergestellt werden kann (vgl. Müller 2008: 164f). Hinzu kam, dass die Vereinigten Staaten als Hauptträger der Intervention kein gesteigertes Interesse an einem umfassenden Engagement im Kosovo hatten und der EU der politische Wille für eine führende Rolle fehlte. Insofern waren die Vereinten Nationen auch der einzige Akteur, der überhaupt zu einer Übernahme der Verantwortung im Kosovo bereit war.

Auf einer abstrakten Ebene lässt sich anhand dieses Beispiels konstatieren, dass das Agieren der Staaten im Zuge des Trends der Ablösung der traditionellen „Staatenwelt“ durch eine im Entstehen begriffene „Gesellschaftswelt“ von einer transnationalen Öffentlichkeit zunehmend kritisch betrachtet wird. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass durch eine Globalisierung oder zumindest eine deutliche Ausbreitung der massenmedialen Berichterstattung das lange Zeit unhinterfragte Informations- und Definitionsmonopol der politischen Systeme (also von Einzelstaaten) final gebrochen wurde (vgl. Czempiel 1999: 66-69). In der Konsequenz müssen sich die Staaten an erhöhten Akzeptanzkriterien für ihr Handeln messen lassen, weshalb sie prinzipiell nach Strategien suchen, mittels derer sie diesen gestiegenen Erwartungen gerecht werden können. Eine Möglichkeit, sich an diese neuen Rahmenbedingungen anzupassen, stellt die Einbindung anderer Akteursgruppen in Problemlösungsansätze dar. Allerdings stellt diese Einsicht noch keine ausreichende Bedingung dafür dar, dass die Nationalstaaten umstandslos von ihrer überaus hartnäckig verteidigten Prärogative bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen Abstand nehmen.

Die Hartnäckigkeit involvierter Nationalstaaten unterscheidet sich beispielsweise im Falle des Kosovos in jene intervenierende Staaten (wie Deutschland und Frankreich) und den Reststaat (Serbien) des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien und Kriegsverlierer, der sich nach seinem Zerfallsprozess von schweren kollektiven Traumata erholen und von seiner einstigen Größe verabschieden musste. Die erlittene Niederlage muss noch immer verarbeitet werden. Es ist daher wenig erstaunlich, dass Serbien die 2008 erklärte Unabhängigkeit nicht anerkennt und offiziell von einer abtrünnigen Provinz spricht. Die 121 UN-Mitgliedsstaaten, die die Unabhängigkeit ebenfalls nicht anerkennen, können in ihrem ablehnenden Verhalten nur durch nationale Interessen verstanden werden, die mit jenen des serbisch-albanischen Konflikts im Kosovo nicht übereinstimmen (vgl. Džihić/Kramer 2008: 6f).

Diese Entwicklung zeigt, dass noch immer nationalstaatliche Interessen das Weltgeschehen beeinflussen und innerstaatliche Konflikte zu transnationalen werden können, in denen andere Staaten direkt oder indirekt agieren. So ist es wahrscheinlich, dass weiterhin eine fortdauernde Fixierung auf die nationalstaatlichen Eigeninteressen stattfindet, sodass erst komplizierte Lernprozesse nötig sein dürften, auf deren Basis sich allmählich eine sachrationale Arbeitsteilung herausbilden kann. Bei Thomas Risse und Kathryn Sikkink (1999: 6ff) wird in diesem Zusammenhang von globalen Ideen (principle ideas) und internationalen Normen gesprochen, die sich langsam durch Lernprozesse der einzelnen Staaten zunehmend in der Welt durchsetzen würden.


2.3 Der Kosovo als „neo-trusteeship“
Abgesehen von den legitimitätsbezogenen Erwägungen sprachen auch pragmatische Gründe für den Aufbau einer plurilateralen – d. h. eine die verschiedenen Akteursgruppen einbeziehende – Verwaltungsarchitektur im Kosovo. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass es sich bei der Mission im Kosovo nicht einfach nur um einen friedenserzwingenden und friedenserhaltenden Einsatz handelte und weiterhin handelt, sondern dass die internationale Staatengemeinschaft in der Region im Prinzip alle relevanten Staatsfunktionen einschließlich der Gewährleistung des Gewaltmonopols übernommen hat, weshalb hier von der Einrichtung einer internationalen Treuhänderschaft in Form eines so genannten „neo-trusteeship“ gesprochen werden muss (vgl. Caplan 2007: 313). Für ein solches Projekt des systematischen Wiederaufbaus, der langfristigen Friedenssicherung und einer angestrebten umfassenden Modernisierung des Gemeinwesens einschließlich einer Sensibilisierung der Bevölkerung für Menschenrechtsnormen sind jedoch ganz spezifische Kompetenzen, Ressourcen und Kenntnisse erforderlich, über die die Nationalstaaten oder auch die NATO allenfalls in Ansätzen verfügten. Deshalb hätte ein rein staatenbasierter Ansatz die Problemlösungskapazitäten der nationalstaatlichen Akteure von vornherein strukturell überfordert.

Um die Mission im Sinne der gesteckten Ziele erfolgreich durchführen zu können, mussten insbesondere funktionsfähige Institutionen aufgebaut und nachhaltig verankert werden, was nur mit einer parallelen Transformation des überaus problematischen gesellschaftlichen Umfelds im Kosovo gelingen konnte. Hier kamen wiederum die Vereinten Nationen ins Spiel, die über vielfältige Erfahrungen und das entsprechende Know-how bei der Post-Konflikt-Nachsorge verfügen und somit in jedem Fall ein absolut unverzichtbarer Akteur sind (vgl. Wittig 2007: 505). In diesem Zusammenhang wurde auch der selektive Einbezug von Nichtregierungsorganisationen als ein plausibles Element der Ordnungsstiftung betrachtet, da angenommen wurde, dass diese dazu beitragen könnten, die Bemühungen der UN-Mission substanziell zu unterstützen. Mit einer entsprechenden Einbindung verband sich außerdem das Kalkül, dass die Nichtregierungsorganisationen in bestimmten Sachfragen über exklusives Expertenwissen und spezifische Fähigkeiten verfügen würden, die man für einen Ordnungsansatz auf jeden Fall nutzen sollte. Außerdem kann durch einen Einbezug von Nichtregierungsorganisationen wiederum die Legitimationsbasis einer solchen Mission erhöht werden.

Auch beim Aufbau einer effektiven Sicherheitspräsenz im Kosovo wurde mit der KFOR (Kosovo Force) ein multinationaler Ansatz gewählt, bei dem Soldaten aus 30 Ländern unter einem gemeinsamen Dach zusammengezogen und zu einer Einsatztruppe integriert wurden. Die Leitung dieser Truppe übernahm mit der NATO eine internationale Organisation. Offenkundig war man der Auffassung, dass nur mit einer schlagkräftigen Sicherheitskomponente das Ziel, eine substanzielle Autonomie des Kosovo zu gewährleisten, erreichbar sei. Denn es muss klar gesehen werden, dass all diese Anstrengungen gegen den dezidierten Willen des formellen Souveränitätsinhabers, der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ), durchgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund war es nicht zuletzt von entscheidender Wichtigkeit, eine ausbalancierte Gewichtung zwischen den zivilen und den sicherheitspolitisch-militärischen Komponenten des Einsatzes zu finden, was erfahrungsgemäß mindestens eine Kalibrierungsphase erfordert.


3. Menschenrechtssituation im Kosovo – eine Bilanz
Mit der Einsicht in die Notwendigkeit, eine hohe Akteursvielfalt bei der Errichtung von funktionsfähigen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen im Kosovo zuzulassen, war noch lange nicht geklärt, in welcher Weise die verschiedenen Akteure miteinander kooperieren sollen. Hierzu mussten Kompetenzen zugewiesen, Prozessschritte definiert und Koordinationsmuster entworfen werden. Des Weiteren mussten auch detaillierte Zielvorgaben aufgestellt sowie Alternativstrategien bei etwaigen Fehlentwicklungen entwickelt werden. Dies war eine veritable Herausforderung für die Staatengemeinschaft, denn für ein derartig komplexes Vorhaben gab es keine Blaupause. Dabei ist es durchaus denkbar, dass die Involvierung zu vieler Akteure eine effiziente Koordination strukturell behindert und stattdessen eher dysfunktionalen Entwicklungen Vorschub geleistet hat. Nur so viel war klar: Die Nationalstaaten mussten, wenn die Mission zu Frieden und zum Einhalt der Menschenrechte auf dem Territorium des Kosovo führen sollte, ihren exklusiven politischen Gestaltungsanspruch zumindest partiell aufgeben und zu einem sachorientierten Transfer von Kompetenzen zugunsten anderer Akteure bereit sein.


3.1 Eine Ordnung reicht nicht aus
Auch wenn sich die Staatengemeinschaft um die Krise im Kosovo gekümmert hat und die Menschenrechte als Leitlinien der politischen bzw. strukturellen Neuordnung genutzt hat, ist festzustellen, dass vor allem in den ersten sechs Monaten des Jahres 1999 jugoslawische und serbische Sicherheitskräfte eben diese nicht nur missachtet, sondern sich über diese hinweg gesetzt haben (vgl. Mitchell 2000: 255). Die gravierenden Menschenrechtsverletzungen führten zum Einsturz der staatlichen Sicherheitsarchitektur, was wiederum eine menschenrechtliche Katastrophe bedingte. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) organisierte 1999 drei Menschenrechtskommissionen im Kosovo. Im OSZE-Bericht von 1999 wird auf über 750 Seiten die Menschenrechtssituation im Kosovo geschildert. Für das Jahr 1999 ist eine Zweiteilung der Menschenrechtsverletzungen zu beobachten. Die ersten sechs Monate des Jahres wurden die Menschenrechte vorrangig von den jugoslawischen und serbischen Sicherheitskräften verletzt. In der zweiten Hälfte waren es vor allem zurückkehrende Kosovo-Albanern, die ethnische Minderheiten massakrierten oder töteten – in Anwesenheit internationaler Friedenstruppen (vgl. Mitchell 2000: 256). Auch wenn die OSZE die bis dahin größte Menschenrechtsmission aufstellte, konnte sie die massiven Verletzungen dieser Rechte nicht verhindern. Auch die militärischen Akteure der Staatengemeinschaft konnten sie nicht stoppen. Die Neubildung der gesellschaftlichen Strukturen hat also zunächst keine Besserung der Lage bewirkt. Trotz oder gerade wegen der internationalen Konfliktlösungsversuche entwickelte sich ein stetiges Gewaltpotenzial innerhalb der Kosovo-Gesellschaft. Im Amnesty Report 2008 über Serbien heißt es:

„Auch im Berichtsjahr kam es in der Region Sandžak zu politisch motivierten Streitigkeiten und gewaltsamen Auseinandersetzungen. […] Im Juni forderten verschiedene Nichtregierungsorganisationen das Parlament zur Einhaltung der UN-Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern auf. Sie verwiesen darauf, dass insbesondere Menschenrechtsverteidigerinnen in Serbien Gefahren ausgesetzt sind, wie zum Beispiel körperlicher Gewalt, Verleumdung und Stigmatisierung in der Öffentlichkeit.“ (o.A. 2008)


3.2 Systematisierung einer Krisenregion
Seit dem Ende der Kriegshandlungen wurden mehrere Institutionen ins Leben gerufen, die zum einen dem Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung im Sinne der Menschenrechte dienen, die zum anderen aber auch explizit für den Minderheitenschutz verantwortlich sind. Zwischen 2004 und 2007 wurden Neuwahlen im Krisengebiet organisiert. 2005 wurden Innenpolitik und Justiz auf 15 heimische Minister übertragen. Neben dem Aufbau eines Polizeiapparates mit vornehmlich einheimischen Beamten wurde auch ein Medienkommissar einberufen, der mediale Propaganda unterbinden und die Unabhängigkeit der Medien gewährleisten soll. Diese und weitere Reformmaßnahmen wurden in einem Drei-Phasen-Plan umgesetzt. Doch was wie eine erfolgreiche Demokratisierung wirkt, ist bei genauerer Betrachtung lediglich das Errichten einer von außen bestimmten Ordnung. Die inneren Zustände waren nach wie vor prekär. 2004 kam es zu einem Aufmarsch und Pogrom gegen Minderheiten. Medien wurden nach wie vor manipuliert und verstärkt bildeten sich verfeindete Clans. Noch 2011 gab es gewalttätige Spannungen zwischen Serben und Albanern. An der einstigen Situation hat sich also wenig geändert (vgl. Mührel/Mührel 2013: 75).

Was in diesem Kontext sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in Politik und Medien immer wieder diskutiert wird, ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Intervention. Weitaus tiefgreifender ist allerdings die Frage, ob mit der Intervention die ursprünglichen Ziele erreicht wurden, oder ob nicht nur eine bestehende Situation in ein neues Korsett gepresst wurde und die Probleme die alten sind. Für die Soziale Arbeit ist der Fall „Kosovo“ von besonderer Bedeutung. Nicht nur, weil Österreich als Einwanderungsgesellschaft Flüchtlinge aus dem Krisengebiet integriert, sondern weil Soziale Arbeit im Spiegel ihrer Profession den Menschenrechten verpflichtet ist und darum kritisch prüfen muss, ob und inwieweit militärische Mittel und Maßnahmen ergriffen werden dürfen, um humanitäre Interventionen zugunsten der Menschenrechte durchzuführen. Letztlich mündet der Diskurs in der Frage:

Was wiegt höher: Frieden oder Menschenrechte?

Und: Wie ist die vermeintliche Durchsetzung von Menschenrechten zu bewerten, wenn nach wie vor kein Friede mit ihnen umsetzbar ist. Hat man beim Kosovo doch die falschen Mittel ergriffen oder nur zur falschen Zeit interveniert?


3.3 Gegenwärtige Entwicklungen
2008 rief das Parlament im Kosovo die Republik aus und erklärte sich zum unabhängigen Staat. Serbien erklärte mit Verweis auf die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, die Unabhängigkeit nicht zu akzeptieren. Die Resolution von 1999 legt die UN-Verwaltung des Gebiets fest und bestimmt gleichzeitig die Zugehörigkeit des Kosovo zur Bundesrepublik Jugoslawien. Dennoch erkannten einige UN-Staaten die Unabhängigkeit an. Bis einschließlich November 2012 haben 96 der 193 UN-Staaten die Unabhängigkeitserklärung anerkannt (vgl. Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Kosovo 2015). Die Frage der Unabhängigkeit hat auf internationaler Ebene polarisierende Wirkung. Die Furcht vor einem Präzedenzfall für andere Sezessionsbemühungen ist groß. Diese Spaltung der UN zur Kosovo-Frage zeigt sich auch in der betroffenen Region selbst. 2011 entbrannte zwischen dem Kosovo und Serbien ein Zollkonflikt, bei dem sich die beteiligten Parteien gegenseitig mit Importverboten belegten. Im Zuge des Konflikts kam es zu Gewaltausschreitungen, weil der Kosovo die Importverbote mittels Polizei durchsetzen wollte. KFOR-Truppen sicherten daraufhin die Grenzübergänge (vgl. Wittkowsky/Kasch 2012: 1ff) Die Spannung zwischen dem Kosovo und Serbien manifestiert sich noch immer durch Gewaltaktionen und Diskriminierung. Neben den politisch-diplomatischen Prozessen zeigt sich dies vor allem im Alltagsleben der Roma. Diese sind von sozialen Sicherungssystemen genauso ausgeschlossen wie vom Gesundheitssystem oder Arbeitsmarkt. Schätzungen zufolge sind ca. 90 bis 100% der Roma arbeitslos. Bildungsansprüche können nicht umgesetzt werden und die Wohnsituation ist als prekär einzuschätzen. Die Häuser der Roma wurden entweder im Krieg zerstört oder werden seitdem von anderen bewohnt. So besteht nach wie vor ein permanentes Unsicherheitsgefühl, auch wenn die offenen interethnischen Konflikte in den letzten Jahren quantitativ zurückgegangen sind. Beobachter vermuten, dass gewalttätige Übergriffe auf Roma nach wie vor stattfinden, in den meisten Fällen jedoch nicht an die Öffentlichkeit gelangen würden (vgl. Amnesty international 2010: 3). Für die Soziale Arbeit in Österreich wie in Deutschland hat dies entscheidende Auswirkungen.


4. Soziale Arbeit im Spannungsfeld von Anspruch und Realität
Für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die sich in ihren Handlungsfeldern mit internationalen Entwicklungen oder mit lokaler Migrationsarbeit auseinandersetzen müssen, ist die Menschenrechtssituation im Kosovo im Kontext der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen besonders wichtig, da ein gewisser Anteil von Flüchtlingen, die z. B. in Deutschland um Aufnahme bitten, aus dem Kosovo stammen. Nach einer im Juni 2015 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) herausgegebenen Statistik beträgt der Anteil an Kosovo-Flüchtlingen im sechsten Monat des Jahres 2015 zwar nur 4,2% und der an Serbien-Flüchtlingen nur 4,3%, was z. B. im Vergleich zu Syrien-Flüchtlingen mit 22,3% Anteil gering ist (vgl. BAMF 2015). Doch für den Zeitraum der ersten Jahreshälfte sieht diese Statistik anders aus: Ca. 18% der Flüchtlinge stammen demnach aus dem Kosovo, 6,3% aus Serbien und zum Vergleich ca. 20% aus Syrien (ebd.).


4.1 Politische Dimension
Die politische Dimension dieser Entwicklung ist aus Sicht der Sozialen Arbeit besonders kritisch zu würdigen, denn in der politischen Diskussion steht zur Debatte, den Kosovo zum sicheren Herkunftsstaat zu erklären. Für Asylsuchende bedeutet dies in der Regel eine Ablehnung der Anträge, weil das potenzielle Aufnahmeland keine unmittelbare Gefahr im Herkunftsland wie etwa politische Verfolgungen oder menschenunwürdige Bestrafungen ausmacht. Nur glaubhaft vermittelte besondere Umstände der Antragsteller können zum Erfolg des Antrags führen. Gemäß dem deutschen Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) gilt bereits Serbien als sicherer Herkunftsstaat (vgl. Anlage II zu § 29a AsylVfG). Der vor Kurzem zurückgetretene Präsident des BAMF, Manfred Schmidt, erklärte in einem Zeitungsinterview mit der Süddeutschen Zeitung im April 2015, dass auch der Kosovo zu einem sicheren Herkunftsland erklärt werden sollte, „weil man so ein Zeichen setzen würde“ (Schmidt/Bielicki/Preuß 2015). Zur Begründung führt er weiter aus:

„Anfang 2014 kamen noch die Minderheiten aus Kosovo, Roma zum Beispiel. Seit dem Herbst kommt der Mittelstand, 20 Prozent haben Abitur. Bei uns machen die gar keine Verfolgung geltend, die sagen ganz offen: Wir suchen hier eine Arbeit, und ihr sucht doch Fachkräfte, hier sind wir! Bei den Albanern ist es ähnlich. Dort werden nach unseren Kenntnissen Zeugnisse über Blutrache verkauft, das wissen wir von unseren Nachrichtendiensten. Es gibt dort aber keine systematische Verfolgung und damit keinen Grund für Asyl. Das müssen wir deutlich machen.“ (Schmidt/Bielicki/Preuß 2015)

Diese politische Dimension der Menschenrechtslage im Kosovo ist gefährlich, denn sie täuscht über die Tatsache hinweg, dass es nach wie vor Verfolgung und Unterdrückung im Kosovo gibt – und zwar in einem nicht unerheblichen Maß. So sieht es auch Pro Asyl, welches sich in einer Stellungnahme irritiert zeigt von Schmidts Äußerungen, es gäbe keine systematischen Verfolgungen. Der Verein sieht das individuelle Asylverfahren zugunsten beschleunigter Abschiebeverfahren gefährdet (vgl. Pro Asyl 2015).


4.2 Wissenschaftliche Dimension
Aus Sicht der Sozialen Arbeit als Wissenschaftsdisziplin ergeben sich komplexe Diskurse, in denen sich nicht nur mit der Globalisierung im Allgemeinen befasst werden muss, sondern vor allem mit dem Zusammenhang internationaler Prozesse mit der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession (vgl. DBSH 2014). Auf der theoretischen Ebene ist nach den Grenzen und Möglichkeiten der Sozialen Arbeit im internationalen Geschehen zu fragen. Gerade die gegenwärtigen Migrationsbewegungen zeigen, dass scheinbar weit entfernte Krisen in die eigene Einflusssphäre rücken und von internationalen zu nationalen Phänomenen werden bzw. internationale Entwicklungen um nationale Aspekte erweitern. Gerade der Kosovo-Konflikt zeigt, dass Soziale Arbeit in erster Linie „paradigmatisch“ agieren muss. Es geht zunächst nicht so sehr um die Hilfeleistungen vor Ort, sondern um die Kultivierung eines Problembewusstseins. Staub-Bernasconi (1995: 415) hat bereits in den 1990er-Jahren die Bedürfnisse von Menschen als „Begründungsbasis für universalisierbare Werte“ erhoben. Dabei sind vor allem die Menschen- und Sozialrechte der Maßstab, mit dem internationale Entwicklungen bewertet werden sollten. Gerade die Bedürfnisse nach Gleichbehandlung und nach einer sicheren Existenz sind im Kosovo für ethnische Minderheiten nach wie vor nicht garantiert, so dass der politische Herkunftsland-Diskurs abwegig erscheint und die Soziale Arbeit in ihren Schnittpunkten zur Politik Position für die Leidtragenden beziehen muss. Im wissenschaftlichen Umfeld sollte sich die Soziale Arbeit aus den Hochschulen heraus in die Öffentlichkeit hinein bewegen. Die interkulturelle Soziale Arbeit muss fundierte Kritik an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen üben.


4.3 Praktische Dimension
Eppenstein und Kiesel (2008: 219) sehen in diesem Kontext die Soziale Arbeit als handlungsermächtigte Gesellschaftskritikerin an, wenn sie schreiben:

„Von Stellungnahmen zur Einführung eines kommunalen Wahlrechts bis zur Unterstützung von Bleiberechtskampagnen für langjährig in Deutschland lebende Migranten mit einem Duldungsstatus, von Einflussnahmen auf humanitäre Aspekte des Ausländer- bzw. Zuwanderungsgesetzes […] Monitoring bei Abschiebungen oder Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Verfolgung […] Hier konnte Soziale Arbeit immer wieder auch eine Rolle als ‚Kritikerin der Gesellschaft‘ […], in der sie handelnd eingebunden war, spielen.“

Diese „Rolle als Kritikerin der Gesellschaft“ sollte in der aktuellen Debatte um das Kosovo-Gebiet dringend mit Leben erfüllt werden, wenn Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession eine Instanz sein will, die dort hinschaut, wo andere geflissentlich wegschauen. Der Kosovo wurde von der Bundesrepublik Deutschland 2008 in seiner Unabhängigkeit anerkannt. Diese politische Entscheidung hat gesellschaftliche Auswirkungen und die Soziale Arbeit muss in ihrer praktischen Dimension nicht nur die Arbeit mit Flüchtlingen organisieren und durchführen, sondern muss auch aktive Integrationsarbeit leisten, wozu eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Herkunftsländer gehört. Es geht gewissermaßen um eine Internationalisierung der interkulturellen Sozialen Arbeit. Diese ist, ähnlich wie die von Gaby Straßburger (2014) postulierte sozialraumorientierte interkulturelle Soziale Arbeit, vor allem als Paradigmenwechsel zu verstehen. Es geht weniger um Handwerkszeug oder interkulturelle Methoden, sondern um einen Bewusstseinswandel der Klientel, der Gesellschaft, der Politik und der Internationalität gegenüber. Die praktische Dimension impliziert also vorrangig eine Wahrnehmungserweiterung, mit der die Fachkräfte die Perspektiven der Klientel übernehmen oder wenigstens nachvollziehen können, um die Menschen integrieren zu können. Dies gelingt nur, wenn über die tatsächlichen Zustände in Herkunftsländern Klarheit herrscht und Politik und Gesellschaft an den Menschenrechten ausgerichtet Entscheidungen treffen und Bewertungen vornehmen.


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Über den Autor

Univ. Prof. Dr. Lulzim Dragidella, Jg. 1969
lulzim.dragidella@uni-pr.edu

Studium der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit in Heidenheim, London und Pressburg. Promotion 2006
Lehrt derzeit an der Universität Prishtina (Kosovo) im Department für Soziale Arbeit und leitet das Department. Zuvor war er Lehrbeauftragter an den Hochschulen Regensburg und Nürnberg. War lange Zeit im Bereich der Migrations- und Jugendarbeit in Deutschland tätig.
Publikationen im Bereich der Migrations- und Integrationsarbeit.