soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 15 (2016) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/427/763.pdf


Andrea Nagy:

Soziale Arbeit ‚queer’ denken

Zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Heteronormativität in der Ausbildung sozialer Professionen


1. Einleitung
Das „queer“ im Titel soll einerseits – angelehnt an die deutsche Wortfolge – „quer denken“ bezeichnen, dass etwas in Zukunft anders, vielleicht „unkonventionell“ gedacht werden sollte in der Sozialen Arbeit, andererseits ist „queer“ auch ein Wort, das im englischen Sprachraum ursprünglich als Schimpfwort gebraucht wurde für Personen, die in sexueller Hinsicht oder in Hinsicht auf Geschlechterrepräsentationen von der Norm abgewichen sind.1 Im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre, vor allem im Zuge des Aktivismus der Act-Up-Bewegung in den USA (AIDS Coalition to Unleash Power, 1987 gegründet), gelang es den Menschen, die so bezeichnet wurden, jedoch, das Wort im öffentlichen Diskurs einer Neubewertung zuzuführen und politisch positiv zu besetzen. Heute gibt es die Queer-Theory, die sich unter anderem auch aus dieser Bewegung gespeist hat, die in post-strukturalistischer, kritischer Weise auf die soziale Konstruktion von Sexualitäten und Sexualität und deren gesellschaftliche Produktions-Bedingungen schaut (vgl. Levy/Johnson 2012: 130f), bzw. diese in Bezug auf die moderne, europäische „Konzeption“ als Heteronormativität2 entlarvt. Die Zweigeschlechtlichkeit und damit verbundene heterosexuelle Liebe und Identität hält einer historischen oder kulturanthropologischen Untersuchung nicht im Sinne eines „natürlichen Ausgangspunktes“ stand, sondern wird als eine Konzeption sichtbar, die auch anders sein könnte, die aber die Qualität einer dominanten gesellschaftlichen Norm erlangt hat. Als solche Norm wirkt sie unter anderem strukturierend auf die Soziale Arbeit ein; Zum Beispiel in Bezug auf die Wahrnehmung von AdressatInnengruppen, die als das „Andere“ außerhalb dieser Zweigeschlechtlichen oder heterosexuellen Norm stehen, zum Beispiel aber auch in Form von starren Rollen und Identitätserwartungen, die einschränkend auf uns selbst und ausschließend auf andere wirken, wenn sie nicht reflektiert und hinterfragt werden. (vgl. Kessl/Plößer 2010) Soziale Arbeit, als weiblich konnotierte Profession (vgl. Brückner 2002: 269) ist in ihren „Grundfesten“ von zweigeschlechtlichen Zuschreibungen „betroffen“ und sozialarbeiterische und sozialpädagogische Praxis enthält „heteronormative Institutionen“, also gewohnheitsmäßige Handlungs- und Denkweisen, die an die heterosexuelle Norm angelehnt sind, nicht erkannt und nicht infrage gestellt werden, aber von der Norm abweichende Lebensentwürfe systematisch abwerten und „sanktionieren“. Dies ist problematisch, wenn es um das Ziel oder die Vision sozialer Integration, Partizipation, Gleichstellung und Gerechtigkeit geht. Davon handelt der vorliegende Artikel. Ausgehend von einer italienischen Studie, welche die Autorin 2012 gemeinsam mit Urban Nothdurfter von der Freien Universität Bozen durchgeführt hat, sowie in Rückbezug auf internationale Literatur und Forschungsergebnisse werden Eckpunkte dieser im Titel behaupteten „Notwendigkeit“ der Auseinandersetzung herausgearbeitet.


2. Die Untersuchung3
Eine Literaturrecherche in den relevantesten Fachjournalen der Sozialen Arbeit in Italien, und zwar der zum Untersuchungszeitpunkt gegebenen letzten 12 Jahre (also von 2000-2012), zeigte, dass sich insgesamt 4 Artikel mit Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen- oder Transgender-Themen beschäftigt hatten. Das waren auf die Anzahl aller Artikel hochgerechnet 0,07 Prozent. (vgl. Nagy/Nothdurfter 2015: 49). Es kann daher im Italienischen Kontext der Sozialen Arbeit von einer Nicht-Befassung, einer Ausklammerung dieser Themen gesprochen werden, die sich im Zuge der durchgeführten Untersuchung tendenziell auch in der Ausbildungssituation und in einem exemplarischen Praxisbeispiel zeigte, auf welches in der Folge näher eingegangen wird. Eine Tendenz, die möglicherweise auch in Österreich vorherrscht, was aber bisher nicht geprüft wurde. In Bezug auf die Frage der Übertragbarkeit von Ergebnissen aus dem italienischen bzw. – was das Praxisbeispiel betrifft – südtiroler Kontext auf Österreich sind die ILGA-Europe4-Untersuchungen eine mögliche Referenz. Diese beobachten und bewerten anschließend einzelne europäische Länder anhand des Grades der Berücksichtigung der Menschenrechte von Lesben Schwulen, Bisexuellen, Transgender- und Intersex-Personen. Sie gehen davon aus, dass die Menschenrechte dieses Personenkreises in den einzelnen Ländern dann erfüllt sind, wenn die unter den von ILGA-Europe aufgestellten Kategorien gelisteten Gesetze (vgl. ILGA-Europe 2014) zu 100% eingeführt sind. Dabei werden unterschiedliche Gruppen von Gesetzen berücksichtigt, z. B. Antidiskriminierungs-gesetze, Asylgesetze, Familiäre Anerkennungsgesetze etc. Beim Rating der ILGA Europe „schafft“ es Österreich auf 52%, also die gelisteten Gesetze sind zu 52% umgesetzt. In Italien ist dies nur zu 22% der Fall (vgl. ILGA-Europe 2015). Die Übertragbarkeit der Italienischen Ergebnisse auf Österreich ist also in Bezug auf die De-jure-Diskriminierung5 von LGBT-Menschen nicht so sehr gegeben, da diese in Italien salopp formuliert noch viel mehr „im Argen“ liegt, als dies in Österreich der Fall ist. Einzelne Einstellungen und De-facto-Diskriminierung von LGBT-Menschen im Kontext der Sozialen Arbeit mögen in Österreich genauso gegeben sein wie in dem exemplarischen Beispiel, das hier in der Folge aus der Italienischen Kinder- und Jugendhilfe eingebracht wird. Dies ist vor allem damit begründbar, dass es durchaus Beispiele gibt, wo das Gesetz „weiter“ oder „progressiver“ ist, als der „alltägliche Zugang“ der Bevölkerung zu einem Thema. Stichworte dazu sind in Österreich Beispielsweise die Fristenlösung, nach §§ 96-97 StGB, die mit 1. Januar 1975 in Kraft trat, oder die Angleichung der Lehrpläne von Buben und Mädchen bezüglich Hauswirtschaft und Geometrisches Zeichnen, wodurch Mädchen in der Hauptschule ab 1987 zum Besuch des Geometrischen Zeichnens verpflichtet wurden und der Pflichtgegenstand Hauswirtschaft in der Hauptschule auch für Buben verbindlich wurde. Beide Gesetzesänderungen wären wohl nicht eingeführt worden, wenn der alltägliche Zugang der Mehrheit der Bevölkerung zu Frauenrechten und Geschlechterrollen ausschlaggebend gewesen wäre. Es kann davon ausgegangen werden, dass der „alltägliche Zugang“ auch in der professionellen Sozialen Arbeit „regiert“, solange kein professioneller Zugang zu einzelnen Themen – wie zum Beispiel männliche und weibliche Rollenverständnisse, sexuelle Orientierung und Identität – entwickelt wurde. Als Grundlage für die Entwicklung eines professionellen Bewusstseins können Ausbildungscurricula der Sozialen Arbeit und vielleicht noch grundlegender spezifische auf den Bereich bezogene Forschungstätigkeiten betrachtet werden. Diese spezifischen Forschungsarbeiten im Bereich sind auch im deutschsprachigen Raum (noch) nicht sehr zahlreich vorhanden6. Kultur- und Sozialwissenschaftliche Entwicklungen, welche LGBT-Identitäten als Konstruktion theoretisieren, die sich als das „Andere“ direkt auf die heteronormative Verfasstheit unserer Gesellschaft beziehen7 werden in der praktischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik oft ignoriert, bzw. können auch in den Ausbildungscurricula ob ihrer „Komplexität“ nur marginal berücksichtigt werden8. So schreibt Tuider (2010)

„Pädagogische Arbeit (sowohl in als auch außerhalb der Schule) basiert, so die grundlegende Kritik, auf der un- bzw. kaum hinterfragten Annahme einer eindeutigen, kohärenten, identitären Zugehörigkeit hinsichtlich Geschlecht (Junge oder Mädchen), [und, Anm. d. Verf.] Sexualität (Hetero- oder Homo- oder Bisexualität), (…) Die geschlechtlich-sexuellen Zwischenraume, Un- Eindeutigkeiten und Übergänge bleiben oftmals ebenso wie Mehrfachzugehörigkeitenund nicht-heteronormative Lebens- und Begehrensformen unthematisiert.“ (Tuider 2010: 57)

Dabei markieren gerade

„Überlegungen zum Umgang mit Differenz und Andersheit (Other-ness) (…) eine ebenso grundlegende wie fachliche und politisch hochaktuelle Aufgabenstellung Sozialer Arbeit.“ (Kessl/Plößer 2010: 7).

Ausgehend von einem Praxisbeispiel, das wir im Zuge der Italienischen Untersuchung erhoben und analysiert haben, möchte ich in der Folge Eckpunkte der Relevanz des LGBT-Themas herausarbeiten. Ich berichte über ein Praxisbeispiel, bei dem wir die seltene Möglichkeit hatten, ein Team zu einem konkreten Fall eines lesbischen Mädchens in der Heimunterbringung zu befragen, weil wir Viola (Name anonymisiert) zufällig kennengelernt hatten und auch bereits über eine andere Forschung Zugang zum entsprechenden Team bekommen hatten, das das Mädchen über zwei Jahre hinweg betreut hatte. Ein bestehendes Problem bei der Erforschung von LGBT-KlientInnen der Sozialen Arbeit liegt darin, dass Themen der sexuellen Orientierung und Identität oft verborgen bleiben, auch im Hilfeprozess. Aus Angst vor Diskriminierung halten viele mit ihrer sexuellen Orientierung und Identität hinterm Berg, wenn sie nicht der Norm, der Heterosexualität entspricht. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen haben es somit häufig mit LGBT-Menschen zu tun, ohne es zu wissen. Im Fall von diesem Mädchen, das in einer Jugendwohngruppe untergebracht war, war die Geheimhaltung nicht gegeben. Sie hatte sich selbst in der Einrichtung geoutet, hingegen war es unklar, ob sie sich jemals gegenüber der eigenen Familie geoutet hatte.

Die Eckdaten der Einrichtung, in der wir das Team befragen konnten, sind folgende: Es handelt sich um eine Integrative Jugendwohngruppe mit 8 Plätzen für Jugendliche im Alter von 12-18 Jahren mit und ohne psychiatrischer Diagnose, die zur „vollen Erziehung“ untergebracht sind. Das betreuende Team besteht aus 8 Personen – 1 Psychologin, 2 Ergotherapeutinnen (TZ), 4 SozialpädagogInnen und eine Sozialarbeiterin (zum Teil in TZ) –, welche im Turnusdienst die volle Betreuung abdecken.

Das betreffende Mädchen, zu dem wir das Team nachträglich befragten, war 2 Jahre in dieser Einrichtung untergebracht gewesen, hatte keine psychiatrische Diagnose und war auch „freiwillig“ auf Grundlage einer Vereinbarung mit der Familie dort, da sie Schulprobleme hatte und sich häufig aggressiv und Gewalttätig gegen sich selbst und andere verhalten hatte. Sie war 14-16 Jahre alt bei ihrer Unterbringung, laut Selbstdefinition lesbisch und sie hatte in der Zeit ihrer Unterbringung (erste) sexuelle Kontakte mit Freundinnen und wiederum nach Sebstdefinition relevante Liebesbeziehungen.

Zu dieser KlientIn haben wir das Betreuungsteam im Nachhinein zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten befragt.

Bei der ersten Befragung haben wir nicht definiert, was das Forschungsthema war und fragten nach einer Fallbeschreibung aus der Retrospektive. Die SozialpädagogInnen sollten bei der ersten Befragung zunächst von selbst einmal das Wichtigste zu dem betreffenden Fall des Mädchens aus der Retrospektive berichten. Dabei wurde in der gesamten Falldiskussion von dem BetreuerInnenteam nicht erwähnt, dass sie sich in der Wohngruppe offen als „lesbisch“ definiert hatte.

Bei der zweiten Befragung wurde dann erklärt, dass das Forschungsthema LGBT-Personen in der Sozialen Arbeit sei und dass wir in Bezug auf das Mädchen wissen wollten, ob ihr selbstdefiniertes Lesbisch-Sein einen Einfluss auf die Betreuung gehabt hatte.

Ein erstes Fazit dieser Befragung war, dass sexuelle Orientierung in der Heimerziehung in diesem Beispiel, das wir als exemplarisches zumindest für die Region angesehen haben, ignoriert wird. Ähnlich wie in den Italienischen Fachjournalen der Sozialen Arbeit kam auch in dem Praxisbeispiel nichts zu dem Thema vor. In der ersten Befragung wird die Tatsache einer eigenen Identitätsbekundung des Mädchens als Lesbe nicht als relevant (oder zumindest nicht als erwähnenswert) in dem Fall betrachtet9, in der zweiten Befragung wird zunächst sichtbar, dass auch in der Betreuung selbst wenig darauf eingegangen wurde:

„Also mir fällt jetzt ein (…) wir haben in der Fallbeschreibung nicht darüber geredet, weils tatsächlich vielleicht nicht so relevant war, obwohl es ja ziemlich bald mal alle wussten, dass sie sich als lesbisch bezeichnet, und mir fällt jetzt gerade ein, dass es manchmal ne Rolle gespielt hat – bei Freundinnen schlafen und so (…)“ (Sozialpädagoge, Teamleiter)

„(…) ich hab’s eigentlich mehr oder weniger verdrängt, weils in einer pubertären Phase war, wo sie sich gesucht hat und ich es net so als wichtig angesehen hab, muss ich ehrlich sagen (…) vielleicht wird sie ja hetero, das weiss sie ja noch nicht so genau.“ (Sozialarbeiterin, Bezugsbetreuerin)

Sexuelle Orientierung wird hier in diesem Praxisbeispiel der Heimerziehung ignoriert, und das obwohl sexuelle Orientierung ein identitätsrelevanter Teil der Persönlichkeit ist und es in der Heimerziehung auch um die Begleitung der Identitätsentwicklung geht. Dies ist generell so, besonders aber in einem Fall der lesbischen Identitätsentwicklung, da diese eine gesellschaftlich abgewertete Identität mit entsprechenden „Konsequenzen“ ist.


3. Beschäftigung mit dem Thema, oder nicht?
Wenn man sich auf die Suche nach wissenschaftlichen „Belegen“ dafür begibt, dass es wichtig wäre, dieses Thema in Einrichtungen öffentlicher Erziehung zu berücksichtigen, dann wird man in den USA fündig. So schreibt Miriam Aviva Friedland (2002), die Jugendliche in öffentlichen Einrichtungen untersucht, allerdings bezogen auf den US-amerikanischen Kontext und eine rechtswissenschaftliche Perspektive10, dass LGBT-Jugendliche möglicherweise ein höheres Risiko tragen, frühzeitig die Schule abzubrechen, sich selbst zu töten, Substanzmissbrauch zu betreiben, Gewalt zu erfahren, HIV zu bekommen, Wohnungslos zu werden oder sich zu prostituieren. Sie sagt weiters, dass LGBT-Jugendliche wüssten, dass es gefährlich sei, sich zu outen und dass sie selbst teilweise glaubten, dass sie krank seien, Sünder oder Kriminelle seien, die kein Recht auf Glück hätten. (frei übersetzt nach Friedland 2002: 778f)

Was Friedland hier anspricht lässt sich zu Konzepten wie „Internalized Stigma“ oder „Minority Stress“ (vgl. Meyer 2003) verbinden, die auch in der vorgestellten Fallgeschichte hilfreich gewesen wären. Ein internalisiertes Stigma einer abgewerteten Identität, wie die der lesbischen Identität, kann dazu führen, dass sich Betroffene selbst abwerten oder „bestrafen“. Selbstdestruktive Tendenzen waren auch bei dem Mädchen im Fallbeispiel ein Thema. Sie hat sich beispielsweise immer wieder geritzt, was in der Heimerziehung aber nie in Bezug auf internalisiertes Stigma überprüft oder „angeschaut“ wurde. Friedland merkt in ihrer Studie aus dem Jahr 2002 weiters an, dass Ausbildungen in der Jugendwohlfahrt das Thema LGBT youth ignorieren würden und es dem System überlassen werde, was mit ihnen passiere.

“Child welfare scholarship generally fails to address the existence, let alone special needs, of LGBT youth in the system.“ (Friedland 2002: 778f)

Eine große US-amerikanische Studie belegt weiters, dass nicht-heterosexuelle Heranwachsende insgesamt über stärkeren depressiven Affekt, häufigere Suizidgedanken, stärkere soziale Entfremdung und ausgeprägteren Alkoholkonsum berichteten. Bei dieser Studie handelt es sich um eine repräsentative Studie, die Michigan Study of Adolescent and Adult Life Transitions (MSALT), welche als Datengrundlage diente, um die Entwicklung von nicht-heterosexuellen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16 bis 28 Jahren mit ihren heterosexuellen Altersgenossen zu vergleichen. Die MSALT-Studie wurde 1983 ins Leben gerufen um den Übergang und die Entwicklung von Jugendlichen von Junior High School in die High School und danach ins College oder auf den Arbeitsplatz zu erforschen. Es ist eine Longitudinalstudie über einen Zeitraum von ca. 15 Jahren, die Umfragen an die Jugendlichen selbst und an ihr Umfeld (Lehrer, Eltern) beinhaltet, weiters Daten von der Schule selbst über Abschlüsse etc., außerdem Telefon- und Face-to-Face-Interviews. Die Studie wurde bereits mehrere Male wiederholt und umfasste in der letzten Tranche 3248 Jugendliche aus 12 Schuldistrikten. Den theoretischen Hintergrund für die Erkenntnisse liefert die „Minority Stress Theory“, die besagt, dass es einen besonderen Stress bedeutet, zu einer (sexuellen) Minderheit zu gehören.

Die Ergebnisse dieser MSALT-Studie betonen in Bezug auf die empirisch feststellbaren Entwicklungsunterschiede zwischen heterosexuellen und nicht-heterosexuellen Jugendlichen einerseits die Substanzialität des Zusammenhangs und die Komplexität der Entwicklungsverläufe, vor allem aber – und das sollte die Kinder- und Jugendhilfe ernst nehmen, weil da steckt ein Auftrag für sie drin – sowohl das Potenzial als auch die Notwendigkeit, Entwicklungsrisiken und ungünstigen Entwicklungsverläufen vorzubeugen und zu begegnen. (vgl. Becker et al. 2014: 132f)

Neben dem empirischen Beleg für eine Notwendigkeit der Beschäftigung mit LGBT-Themen in der Sozialen Arbeit kann der Ethikkodex Sozialer Arbeit weitere Begründungen liefern. Demnach ist es genuiner fachlicher Standard und Anspruch in der Sozialen Arbeit, bei Diskriminierung weder mitzuwirken, noch diese zu erleichtern, womit auch explizit jene Formen genannt sind, die aufgrund sexueller Orientierung oder Geschlechtszugehörigkeit bestehen.

Ethikkodex Deutschland:

„Die Mitglieder des DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit) begegnen jeder Art von Diskriminierung, sei es aufgrund von politischer Überzeugung, nationaler Herkunft, Weltanschauung, Religion, Familienstand, Behinderungen, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Rasse, Farbe, oder irgendeiner anderen Neigung oder persönlichen Eigenschaft, eines Zustandes oder Status. Weder wirken sie bei solchen Diskriminierungen mit noch dulden oder erleichtern sie diese.“ (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit 1997)

Zum Vergleich der „Code of Ethics“ im United Kingdom, wo die Diskriminierung sogar „herausgefordert“ werden soll, nicht nur nicht gestützt:

“Challenging discrimination: Social workers have a responsibility to challenge discrimination on the basis of characteristics such as ability, age, culture, gender or sex, marital status, socio-economic status, political opinions, skin colour, racial or other physical characteristics, sexual orientation or spiritual beliefs.“ (British Association of Social Workers 2012: 9)

Jetzt kann man sich fragen, welche Ausbildungsinhalte in den Curriculums der Sozialen Arbeit bestehen oder bestehen sollten um die Studierenden „fit“ für diese Aufgaben zu machen und das haben wir im Zuge unserer Untersuchung in Italien auch nachgefragt.

Im Zuge der Untersuchung wurden 64 Programmdirektoren und Direktorinnen von den 81 Ausbildungsprogrammen der Sozialen Arbeit an Italienischen Universitäten angeschrieben und gefragt, ob sie es wichtig finden würden, dass LGBT-Themen im Curriculum der Sozialen Arbeit vorkommen oder nicht und jeweils warum. In den erhaltenen Antworten wurde zum Teil argumentiert, dass andere Minderheiten in der Sozialen Arbeit wichtiger wären und dass diese im Curriculum eher angesprochen werden müssten, dass das Curriculum eben keinen hohen Grad an Spezialisierung erlaube um auch noch dieses als ein weiteres Minderheitenthema konzipiertes Thema unterzubringen. Bei manchen klang an, dass das Benennen dieser Minderheiten im Curriculum ja Gleichberechtigung wieder unterwandern würde, da sie „gelabelt“11 würden, obwohl LGBT-Identität doch nur eine Facette ihrer Gesamtidentität darstellen würde und die Benennung sie zugleich pathologisieren würde. (vgl. Nagy/Nothdurfter 2015: 50)

Die Beschäftigung mit dem Thema LGBT im Curriculum der Sozialen Arbeit kann man daraus folgern, sollte weder dazu führen, dass „betroffene“ Individuen pathologisiert werden, noch sollte es als (weiteres) Minderheitenthema in den Ausbildungsplan eingeführt werden.


4. Welche Beschäftigung mit dem Thema? – zwei Zugänge
Bisher konnten zwei unterschiedliche Zugänge zum Thema LGBT und Soziale Arbeit ausgemacht werden. Die eine etwas bekanntere und vielleicht „einfacher“ zugängliche Perspektive oder Denkrichtung ist der Kampf für Gleichstellung, der sich auf Diskriminierung und/oder Unterdrückung von Individuen und Gruppen bezieht und diese mit geeigneten Maßnahmen zu beenden versucht, indem zum Beispiel Gesetzesänderungen angestoßen werden. Dieser Blickwinkel ist ohne Zweifel unerlässlich, er zielt im Wesentlichen aber darauf ab, heterosexuelle Standards auszuweiten, um auch Schwule und Lesben darin zu integrieren, und hinterfragt diese Standards nicht.

Ein anderer Zugang ist ein Zugang den ich hier „Queer Consciousness“ („Queeres“ Bewusstsein) nenne, der nochmal die Konstruktionsbedingungen dieser Ungleichheit oder Diskriminierungen in den Blick nimmt und somit wohl der „breitere“, wenn auch weniger unmittelbar zugängliche, Ansatz wäre. „Queer Consciousness“ ist ein Konzept, das Konstruktionsbedingungen von sexueller Ungleichheit und die heterosexuelle Norm als eine unterdrückende Norm offen legt, der wir alle unterworfen sind. Queer Consciousness zielt auf die Zurückweisung, bzw. Verweigerung dieser Norm ab, die von vielen sozialen Institutionen gestützt und aufrechterhalten wird.

“A queer approach (…) requires rejection of heterosexual norms, since these help maintain the existing oppressive power systems and allow them to function (…) since the ordinary understanding of sex and sexuality is created and reinforced by many social institutions, people with queer consciousness are required to move beyond simply asking for equality or tolerance and move instead towards actual restructuring of the institutions.“ (Martinez 2011: 564f)

Die Beschäftigung mit (unterdrückenden) Normen sollte ein Herzstück jeder Ausbildung in der Sozialen Arbeit sein, da es zwar kein endgültiges Entrinnen aus der Mitbeteiligung an der „Normalisierung“ gibt, es aber einen Unterschied macht, ob man Mechanismen dieser Beteiligung versteht oder nicht. Die „Normalisierungsmacht“ der Sozialen Arbeit (vgl. Maurer 2001: 125) ist in Ausbildungen zu berücksichtigen, da sie

„entlang vorherrschender Normalitätsmodelle (z. B. bzgl. eines eindeutigen Geschlechts, einer eindeutigen hetero- oder homosexuellen Orientierung, oder auch hinsichtlich körperlicher Befähigung) ihre Subjekte z. B. als ‚Hilfebedürftige‘, ‚Deviante‘ oder ‚Behinderte‘ klassifiziert, um sie sodann zu behandeln, zu integrieren oder zu normalisieren. D. h. Soziale Arbeit und Bildungsprozesse ‚brauchen‘ (…) ihr Anderes, um die eigene Arbeit zu legitimieren. Nebeneffekt ist, dass sie damit das Andere und das Eigene, die Norm und die Abnorm konstruieren“ (Tuider 2015: 57).

Um in Ausbildungsgängen Bewusstsein über diese Prozesse zu erlangen, könnte „Queer Consciousness“ in diesem Sinne Beispielhaft wirken, da gerade Fragen der Sexualität und des Körpers häufig als etwas aus der gesellschaftlichen Sphäre ausgenommenes betrachtet und im Bereich der Natur angesiedelt werden und die eigene Mitwirkung an der „Normalisierungsmacht“ ignoriert wird. So wird auf Grundlage der heterosexuellen Norm stillschweigend angenommen, dass jede/jeder heterosexuell ist und dass sich Heterosexualität aus den zwei „natürlich“ vorhandenen Geschlechtern ebenfalls natürlich „ergibt“. Alle, die diese Norm unterwandern – sei es durch gleichgeschlechtliche romantische und sexuelle Partnerschaften, Wechsel der Geschlechtsidentität etc. –, werden mit legalen und/oder sozialen Sanktionen belegt (z. B. auch Marginalisierung). Die heterosexuelle Norm wird in der Regel als unproblematisch betrachtet und nicht hinterfragt, Institutionen, Verstehensstrukturen und praktische Orientierungen richten sich nach dieser Norm sowie auch die Wissensbasis der Sozialen Arbeit.

Die geschlechtliche Identität wird folgendermaßen gesellschaftlich konstruiert: Aufgrund eines biologischen Geschlechtes, das eindeutig männlich oder weiblich gedacht wird, obwohl dies in vielen Fällen gar nicht der Fall ist, wird ein dazu passendes soziales Geschlecht gedacht, dass sich quasi natürlich entwickelt und in weiterer Folge das entsprechende Begehren, dass sich auf die jeweils andere Gruppe bezieht.


Abbildung 1: Konstruktionsbestandteile der Zweigeschlechtlichkeit (eigene Darstellung)

„Queer Consciousness“ ermöglicht es, diese Konstruktion aufzubrechen und noch einmal in ihren einzelnen Bestandteilen zu betrachten. Auf jeder dieser Ebenen gibt es Varianten und die Eindeutigkeiten, die durch die Heteronormativität aufrecht erhalten und abgesichert werden, sind nicht „natürlich“ gegeben, sondern gesellschaftlich „verfügt“.

Auf der Grundlage von Zweigeschlechtlichkeit richtet sich in unserer Gesellschaft vieles aus: institutionelle und normative Regeln, die Verteilung und Organisation der gesamtgesellschaftlichen Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums, ebenso Entscheidungsstrukturen und sexuelle Normen und Regeln. Zweigeschlechtlichkeit betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche und sozialen Verhältnisse (vgl. Degele 2008: 66) und dient als Grundlage der Heteronormativität. Die Zweigeschlechtlichkeit und das darauf gründende Geschlechterverhältnis ist eine weitreichende „Konstruktion“. Darin ist die Soziale Arbeit als Disziplin und Praxis eingelassen, was in der Ausbildung reflektiert werden sollte.

Es gibt schon einige Stimmen, die sich damit beschäftigen, was an LGBT-Themen in die Curricula der Sozialen Arbeit aufgenommen werden sollte. Paulina Martinez (2011) beschäftigt sich beispielsweise mit dem Entwurf eines modernen Konzeptes des sexuellen Vorurteils für die Lehre im Fachbereich Soziale Arbeit, weil sich die Verfasstheit von sexuellen Vorurteilen historisch verändert hat. Heute ist es kaum mehr irgendwo „in Ordnung“, offen gegen Homosexuelle zu sein, daher gibt es mehr verdeckte und subtile Formen von Vorurteilen. Martinez, die einige dieser neuen Formen beschreibt, beschreibt auch den queeren Ansatz als einen, der sich von bisherigen Ansätzen des Gay Rights Movement unterscheide. Es ginge beim queeren Ansatz nicht darum, die Lebensstile von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen in das existierende (Rechts-)System zu integrieren, sondern es ginge darum, die heterosexuelle Norm, die sich institutionell abbilde und die durch Institutionen aufrecht erhalten und exekutiert werde, zu hinterfragen und Institutionen dementsprechend kritisch neu zu ordnen. Heterosexuelle Institutionen kommen in den Aussagen des interviewten Wohngruppen-Teams der Kinder- und Jugendhilfe auch zum Vorschein, was im Ansatz zu erkennen geben sollte, wie fundamental die Soziale Arbeit sich selbst heteronormativ konstituiert. Einige diesbezügliche Aussagen sollen in der Folge dargestellt werden.

Martinez (2011) beschreibt weiters, dass zunehmend weniger Laien und Professionelle in der Sozialen Arbeit eine offen homophobe oder heterosexistische Haltung präsentieren, sie spricht bei heutigen Formen der Ablehnung, angelehnt an McConahay und Hough (1976), von einem „Modernen Sexismus“, welcher sich im Empfinden äußere,

Diese modern hetero-sexistische Haltung trifft auch am ehesten die „Teamkultur“, in dem exemplarischen Praxisbeispiel, welche sich auf den ersten Blick sehr tolerant ausmachte. Die folgenden heteronormativen Institutionen12 sind dennoch abbildbar.


5. Heterosexuelle „Institutionen“ in den Aussagen der SozialpädagogInnen
Erste Sexualität ist mit der Verhütungsfrage gekoppelt:

„Sexualität wird meistens dann ja thematisiert grad beim Hilfeplangespräch, oder im Netzwerk, wenn es um die Verhütungsfrage geht und das hat sich in dem Fall ja relativ selten gestellt, bzw. gar nicht gestellt [lachen] und ich glaub das ist schon mit ein Grund und ich glaub unabhängig davon wird das ganz selten bis gar nicht thematisiert, das fällt schon ein bisschen unter den Tisch, wird schon ein bisschen stiefmütterlich behandelt“ (Sozialpädagoge, Teammitglied)

Abseits von Verhütung ist den professionellen SozialpädagogInnen nicht ganz klar, was die Themen sein sollten, die beim ersten sexuellen Kontakt angesprochen werden sollten, bzw. wurde dies im Team bis zur Befragung hin nicht besprochen.

Von der heterosexuellen Norm abweichendes Verhalten wird abgewertet und zum Zeichen dessen mit allseits antizipierbaren Schimpfwörtern belegt.

„Ich glaub schon, dass sie es nicht gleich von Anfang an ganz offen gesagt hat. Das kam dann so ein bisschen und dann war sie sehr offensiv damit das hat sich dann sehr entwickelt und diese Dramen, es gab ja dauernd Dramen, Liebesdramen. Das war sehr ausgeweitet und ich hab mich damals bei ihrem Spitznamen gefragt ob der Jugendliche der ihr den gegeben hat bei Kampfzwerg auch an Kampflesbe gedacht hat weil das so, ma so das Klassische ist.“ (Ergotherapeutin, Teammitglied)

Aussagen der SozialpädagogInnen zeigen außerdem, dass Männer und Frauenrollen, den gesellschaftlichen Zuschreibungen entsprechend „naturalisiert“ werden und in dieser Form die eigene Wahrnehmung strukturieren. Dies wird in einer längeren Gesprächssequenz sichtbar in der es um die Form geht, wie die jeweiligen Sexualitäten der beiden Geschlechter zum Ausdruck gebracht werden. Die Grundannahmen schienen zu sein, dass Männer Sexualität einfach drängender, offensiver und eben auch aggressiver ausleben als Frauen, die eher passiv und zurückhaltend sind und Sexualität nicht wirklich zeigen (sollen), wenn sie nicht als „Hure“ gelten wollen13. An den Aussagen der SozialpädagogInnen wurde sichtbar, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen darüber gab, wie „offensiv“ Viola mit ihrer lesbischen Liebe und Sexualität in der Gruppe umgegangen sei. Weibliche Sexualität wird zunächst als „harmlos“ und in Bezug auf Viola auch als inexistent angesehen.

Bei genauerem Überlegen fällt den Teammitgliedern ein, dass Viola doch womöglich auch Erfahrungen sexueller Natur gemacht hatte, die sie einfach ignoriert hatten.

Die Wahrnehmungen diesbezüglich waren innerhalb des Teams unterschiedlich. Es ist anzunehmen, dass auch Wissen über LGBT-Themen die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit lenkt, da, wie sich später herausstellte, die Ergotherapeutin die einzige war, die im nahen familiären Umfeld auch mit den Themen konfrontiert war und sie „mehr“ Aktivität auf Violas Seite wahrgenommen hatte als die anderen Teammitglieder.


6. Was kann laut den Teammitgliedern beim Umgang mit LGBT-Themen, bzw. dem lesbischen Mädchen hilfreich sein? Was hätten sie gebraucht um besser mit dem Thema umgehen zu können?

„Was ich gebraucht hatte, wäre jemand gewesen, der mir von Anfang an gesagt hätte, so und so ist es, aber das gab es nicht das hat uns keiner gesagt. Wir haben uns das erarbeitet, also ne gewisse Offenheit. Es braucht eine gewisse Rahmenbedingung die es möglich macht, darüber zu reflektieren (…) im Netzwerk eine gewisse Selbstreflexion um damit umzugehen“ (Sozialpädagoge, Teamleiter)

Hier wird „Offenheit“ angesprochen, die es braucht, um die Themen gut bearbeiten zu können, außerdem Selbstreflexion im Netzwerk und Wissen in Form von „so und so ist es“. Da das Mädchen in der Einrichtung offen mit dem Thema war und zuhause nicht, lässt sich darauf schließen, dass tatsächlich trotz der heterosexuellen Institutionen, die einfach als Gegebenheit genommen wurden, eine prinzipielle Offenheit gegenüber dem Thema im Team geherrscht hat.

Die Ergotherapeutin betont auch noch einmal, dass es „mit einem selber“ zu tun hätte und den eigenen Einstellungen.

„Ich finde es braucht eine eigene Reflexion darüber, über die eigene Geschlechteridentität und seine Beziehung zu gleichgeschlechtlicher Liebe. Ich finde, das braucht es schon, dass so eine tolerante Grundhaltung entstehen kann oder auch ne Gesprächsbereitschaft.“ (Ergotherapeutin, Teammitglied)

Weiters wäre es wichtig, so die Ergotherapeutin, dem Mädchen zu sagen, dass alles normal wäre auf die Nachfrage hin, ob die Selbstverletzungen möglicherweise dem internalisierten Stigma der abgewerteten lesbischen Identität entspringen könnten.

Interviewerin: „(…) mein Nachdenken ist dahin gegangen, ob nicht diese Selbstverletzungen oder wie sie sich auch selber abwertet, ob das nicht mit dieser verworfenen Sexualität zu tun hat. Also mit der abgewerteten Sexualität, ohne dass es ihr bewusst ist irgendwie. [einige mhms] Und ohne dass es euch allen bewusst war.“

Ergotherapeutin, Teammitglied: „Ja darum war mir das Gespräch so wichtig, um ihr zu zeigen, das ist völlig normal.“

Hier dokumentiert sich einerseits der Ansatz, schon im Speziellen darauf einzugehen, andererseits aber auch möglicherweise Unwissenheit, dass gerade daher, dass es nicht als „völlig normal“ gesehen wird in unserer Gesellschaft, Probleme auftauchen können. Der Aufruf „es sei völlig normal“ kann ja bei dem Mädchen, wenn ihre Selbstwahrnehmung eine andere ist, die Probleme auch noch verstärken. Außerdem dokumentiert sich hier möglicherweise auch die von Martinez (2011) beschriebene moderne Form des Heterosexismus, anzunehmen, dass keine Diskriminierung mehr bestehe. Lesbische Liebe wird eben gerade als abweichend oder abnormal in Bezug auf die heterosexuelle Norm konstruiert, und stützt in dieser Konstruktion als „Abweichung“ von der Norm, die Norm selbst. Abweichungen von der Norm werden immer in einer Form „sanktioniert“14 was implizit wirkt, solange es nicht erkannt oder gesprochen werden kann, wodurch das Individuum sich ein Stück weit distanzieren kann (von dieser Wirkung).


7. Zusammenfassung und Fazit
Anhand einer Italienweiten Untersuchung konnte gezeigt werden, dass LGBT-Themen in der Sozialen Arbeit 2012 noch weitestgehend ignoriert wurden. Auch wenn Österreich bei der Überprüfung der De-jure-Diskriminierung viel besser als Italien abschneidet, kann davon ausgegangen werden, dass De-facto-Diskriminierung tendenziell stattfindet, auch weil es im deutschsprachigen Raum ebenfalls an Wissen zu dem Bereich fehlt, das über Forschungen gewonnen werden muss, und keine generelle Verankerung von LGBT-Themen in Curricula der Sozialen Arbeit besteht. US-amerikanische Studien betonen das besondere Risiko, dem LGBT-Jugendliche und potenzielle KlientInnen der Sozialen Arbeit ausgesetzt sind. Dies, und die ethische Verpflichtung Sozialer Arbeit gegen Diskriminierungen vorzugehen wurden als Gründe angeführt, sich mit LGBT-Themen zu beschäftigen. „Queer Consciousness“ wurde dabei als ein „breiteres“ Konzept der Beschäftigung mit Unterdrückungsformen im Geschlechts- und Sexualitätsbereich vorgestellt, als eine Herangehensweise, die Gleichbehandlung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Menschen fordert. An einem Praxisbeispiel konnte gezeigt werden, welche heterosexuellen Institutionen in einem Bereich der Sozialen Arbeit bestehen können, die durch eine Beschäftigung mit der heterosexuellen Norm erst erkannt und verändert werden könnten.

Was die Teammitglieder in dem Praxisbeispiel auf die Frage hin angedeutet hatten, was sie gebraucht hätten um gut und professionell mit dem Fall des lesbischen Mädchens umzugehen, waren Offenheit, Selbstreflexion und Wissen. Spezifisches Wissen über die Konstruktion und Aufrechterhaltung einer heterosexuellen Norm in unterschiedlichen Lebensbereichen (Queer Consciousness) könnte eine Basis der Auseinandersetzung bieten. Dazu sollte Heteronormativität und die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit ins Curriculum der Sozialen Arbeit aufgenommen werden. Weiters sollten Forschungen spezifisch in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit durchgeführt werden, die heteronormative Annahmen oder vermeintliche unhinterfragte „Gewissheiten“ in Hinblick auf LGBT-Themen und geschlechtsspezifische Rollen- und Identitätserwartungen zutage fördern und die Beschäftigung mit diesen Themen anregen. Dabei geht es nicht ausschließlich um eine „Spezialgruppe von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen“ als KlientInnen der Sozialen Arbeit, sondern um das Hinterfragen von Normen und normativen Identitätskonstruktionen, die von einer stillschweigenden Mehrheit „akzeptiert“ werden, gleichzeitig aber soziale Ausschlüsse produzieren. Durch diesen Anspruch soll aber keine neue Norm konstruiert werden, wie Christian Schütte-Bäumner (2010) betont, der ebenfalls „queer“ als Modus reflexiven Nachdenkens in der Sozialen Arbeit einführen will.

„Soziale Arbeit queer gedacht rückt (…) eine reflexive Dimension ins Zentrum der Professionalisierungsdebatte, die keine ‚authentischen Echtheiten’ stabilisiert, sondern ‚Zonen der Mehrdeutigkeit und Pluralität’ offen hält.“ (Schütte-Bäumner 2010: 77)


Verweise
1 Jagose (1996) schreibt: “Queer focuses on mismatches between sex, gender and desire. For most, queer has prominently been associated with simply those who identify as lesbian and gay. Unknown to many, queer is in association with more than just gay and lesbian, but also cross-dressing, hermaphroditism, gender ambiguity and gender-corrective surgery.“
2 “The concept is useful in attempting to understand the assumptions upon which heterosexuality rests, and in showing how and why deviations from heterosexual norms are subject to social and legal sanctions. For example, heteronormativity assumes a belief in dimorphic sexual difference (there are two sexes), biological essentialism (male and female functions are essentially different), and mimetic sex/gender relationship (psychosocial traits follow anatomy). Those who deviate from these assumptions of the gender binary by openly preferring romantic partners of the same sex, by changing from one sex to another, or by violating heterosexual norms in other ways, are marginalized.“ (Weiss 2008)
3 Die Untersuchung umfasste eine Literaturrecherche zum Thema LGBT, eine E-Mail-Befragung von Studiengangsleiterinnen des Fachbereiches Soziale Arbeit an italienischen Universitäten zu deren Ausbildungscurricula und ein Praxisbeispiel, in dem ein Wohngruppenteam zu einem Mädchen befragt wurde, das sie betreut hatten und das sich als lesbisch definiert hatte. Die gesamte Untersuchung wurde in der Policy Press publiziert (vgl. Nagy/Nothdurfter 2015).
4 ILGA-Europe = the European Region of the International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association
5 De-jure-Diskriminierung ist eine gesetzliche Schlechterstellung, De-facto-Diskriminierung ist eine faktische alltägliche Benachteiligung.
6 In Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe, ein „prominentes“ Feld der Sozialen Arbeit, wird es mit der kurzen Dauer erklärt, in der zu diesen Themen überhaupt geforscht wurde: „Die Forschung beschäftigt sich erst seit etwa drei Jahrzehnten mit lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen – mit Trans* Jugendlichen erst seit etwa 10 Jahren –, so dass es nur verhältnismäßig wenige Daten zu diesen Gruppen gibt.“ (Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2010: 4)
7 Die – nicht nur in Wissenschaftskreisen – bekannteste Vertreterin einer solchen Richtung ist vielleicht Judith Butler (vgl. Harms 2012).
8 Zur Ausbildungssituation schreibt Queerformat: „Bislang sind die Themen Geschlecht, Sexualität und Lebensformen in ihrer Vielfalt in pädagogischen Ausbildungsgängen nicht obligatorisch verankert. Wenn überhaupt, gibt es lediglich vereinzelte fakultative Angebote. Das bedeutet, dass die in der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigten Fachkräfte zu diesem Themenfeld nicht ausgebildet sind und auch die derzeitigen Studierenden und zukünftigen Pädagoge/-innen noch immer nicht zu den spezifischen Belangen von LGBT-Jugendlichen und Kindern aus Regenbogenfamilien und zum entsprechenden pädagogischen Handlungsbedarf geschult werden.“ (Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2010: 15)
9 Dies hängt möglicherweise sogar mit einer (falsch verstandenen) antidiskriminatorischen Haltung zusammen, siehe dazu auch Verweis 11.
10 Sie bezieht sich auf den Fall Jamie Nabozny, ein schwuler Schüler der 1996 den Ashland, Wisconsin, Schuldistrikt wegen Diskriminierung klagte und teilweise Recht bekam, nämlich dass 3 Schulverantwortliche ihn nicht vor Übergriffen anderer Schüler wegen seiner sexuellen Orientierung geschützt hätten. Er war über 4 Jahre hinweg körperlichen und verbalen Angriffen seiner MitschülerInnen ausgesetzt und trotz Beschwerden auch von Seiten seiner Eltern wurde er von den Schulverantwortlichen nicht unterstützt. Dieser Fall war ein Präzedenzfall für weitere Klagen gegen Schuldistrikte, die immer im Sinne der Kläger entschieden wurden.
11 Labeling Approach oder in Deutsch Etikettierungsansatz von Howard S. Becker (vgl. Becker 1973).
12 „Institution (lateinisch institutio ‚Einrichtung’) ist ein in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften uneinheitlich definierter Begriff. Übereinstimmend wird darunter ein Regelsystem verstanden, das soziales Verhalten und Handeln von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften in einer Weise formt, stabilisiert und lenkt, wodurch es im Ergebnis für andere Interaktionsteilnehmer erwartbar wird.“ (Wikipedia o.J.)
13 „Heilige und Hure“ sind zwei Pole einer ambivalenten, stereotypisierenden Bildproduktion über die Frau als Teil einer dichotomischen hierarchischen Geschlechterordnung, in diesem Sinne wird „Hure“ hier verwendet um im Sinne einer Provokation an dieses gängige Frauenbild zu erinnern.
14 Gängige „Sanktionen“ beschreibt Diane Elze (2006): z. B. Systematic violence (nur wegen Gruppenzugehörigkeit), cultural imperialism, marginalization, prejudices, stereotypes, homophobia, heterosexism etc.


Literatur

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Über die Autorin

Mag. phil. Andrea Nagy

Derzeit Dozentin an der FH St. Pölten, Leitung des Hochschullehrgangs Sozialpädagogik und des Masterlehrgangs Sozialpädagogik, Studentin im PhD-Programm Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck; zuvor Forschungsassistenz und Lehre an der Freien Universität Bozen, Südtirol.
15 Jahre Arbeitserfahrung in der Kinder- und Jugendhilfe in öffentlichen, privaten, ambulanten, stationären Settings und Diensten in Österreich und Südtirol.
Forschungsschwerpunkte: Kinder und Jugendhilfe, Heimerziehung, Care-Leaver (Dissertationsthema), Erstkontakt bei Sozial- und Gesundheitsdiensten, Qualität und Kompetenzen sozialer Dienste, Diversität, LGBT-Themen.