soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 15 (2016) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/429/812.pdf


Hechler, Andreas / Stuve, Olaf (2015) (Hg.): Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts. Opladen: Barbara Budrich.


390 Seiten / EUR 29,90

Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ ist das Ergebnis eines Projektes von Dissens, dem Institut für Bildung und Forschung in Berlin, in welchem beide Herausgeber und einige andere Autor_innen mitarbeiten. Das Scheitern der akzeptierenden Jugendarbeit in den 1990er-Jahren, die letztlich unwissentlich Neonazis beim Auf- und Ausbau ihrer Strukturen unterstützte, ruft nach neuen Auseinandersetzungen mit dem Thema. Der Band liefert dazu einen wichtigen Beitrag und Anregungen für alle, die in der Jugendarbeit tätig sind.

Die Kategorien Geschlecht und Sexualität werden in Diskursen um Rechtsextremismus meistens vernachlässigt. Umso spannender ist es, wie die Autor_innen der Frage nachgehen, welche pädagogischen Herausforderungen dies mit sich bringt und wie diesen im Sinne einer geschlechterreflektierten Neonazismusprävention begegnet werden kann. Die Herausgeber Andreas Hechler und Olaf Stuve arbeiten in ihrem Kapitel den Thesen entlang, dass „Neonazismus nur mit ganz bestimmten Männlichkeiten und Weiblichkeiten funktioniert“ (S. 10) und somit zweigeschlechtliche, biologistische und heteronormative Geschlechter- und Familienbilder per se (neo-)nazistischem Gedankengut förderlich sind. Daraus ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass es – nicht nur, aber auch gegen Rechtsextremismus – präventiv wirkt, Kindern und Jugendlichen vielfältige, alternative Lebensformen im Kontext queerer, feministischer, antifaschistischer und antisexistischer Lebenswelten anzubieten und sie davon zu entlasten, normal sein zu müssen. Dadurch wird zugleich ein ausschließlicher Fokus auf die Arbeit mit rechtsextremen Täter_innen vermieden und es werden jene Gruppen erreicht, die tatsächlich primärpräventiv angesprochen werden können.

Die Beiträge sind in „Pädagogische Praxen“ und „Theoretische Praxen“ unterteilt. Aufgrund des großen Umfangs des Buches kann im Folgenden nicht auf alle Beiträge der insgesamt fünfundzwanzig Autor_innen, sondern nur exemplarisch auf wenige Kapitel eingegangen werden. Im ersten Teil finden sich methodische Inputs ebenso wie konkrete Erfahrungsberichte aus der Jugendarbeit und Diskurse um Bildpolitiken. Lena Rahn und Patrick Wielowiejski beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Forderung von Neonazis, sogenannte Kinderschänder hinzurichten. Sie zeigen auf, dass diese Forderung nicht dem Schutz von Kindern, sondern der diskursiven Herstellung von Täter_innen als „Monster“, die außerhalb der imaginierten Volksgemeinschaft stehen, dient. Dies entspricht nicht den realen Gegebenheiten, denn im überwiegenden Teil der Fälle kommen die Täter_innen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis des Kindes. Der Beitrag ist aufgrund gegenwärtiger rassistischer Debatten über das vermeintlich höhere Gewaltpotential als „anders“ dargestellter Männer von großer Aktualität.

Im zweiten Teil zu „Theoretischen Praxen“ werden beispielsweise Überlegungen aus postkolonialer Kritik, Männlichkeitsforschung und Klassismustheorien in Beziehung zum Thema gesetzt. Durch Hinweise auf konkrete Forschungen und pädagogische Projekte wird die Dichotomie von Theorie und Praxis aufgelöst und auch dieser Teil bietet wichtige Implikationen für pädagogische Praxen. María do Mar beschäftigt sich mit gewaltvollen Wissensproduktionen und zeigt auf, dass Erinnerungspolitiken immer mit Vergessenspolitiken verknüpft sind. Außerdem problematisiert sie die häufige Konkurrenzsetzung von Rassismus und Antisemitismus, die sich auch daran zeigt, dass Holocaust Studies und postkoloniale Theorien oft nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden. Juliane Karakayali stellt Zusammenhänge zu den NSU-Morden her und geht in ihrem Beitrag auch auf das Konzept der „Postracial society“ (S. 374) ein. Dieses erklärt, wie aktuelle rechte Diskurse zwar vorgeben, nicht rassistisch zu sein und von einer Gleichwertigkeit der Kulturen auszugehen, andererseits aber ein Zusammenleben verschiedener Gruppen für unmöglich halten und wiederum Muslim_innen als besonderes Feindbild konstruieren. Gabriele Kämper geht in ihrem Text unter anderem auf antifeministische Diskurse der Neuen Rechten ein.

Auf zwei Fakten weisen mehrere Autor_innen hin: Nämlich darauf, dass pädagogische Interventionen ihre Grenzen haben, weil sie in gesellschaftliche Systeme eingebettet sind und faschistische, rassistische und (hetero-)sexistische Normalzustände deshalb nur unter Mitwirken aller gesellschaftlichen Akteur_innen verändert werden können. Denn es sind nicht Kinder und Jugendliche, sondern über Sechzigjährige, die „die höchsten Zustimmungswerte zu neonazistischen Einstellungsmustern aufweisen.“ (S. 10) Außerdem sind sich die Autor_innen darüber einig, dass es wichtig ist, dass in der pädagogischen Arbeit entsprechende Rahmenbedingungen wie angenehme Arbeitszeiten und Teamgrößen sowie Fortbildungsangebote zur Verfügung gestellt werden, denn nur dann haben Mitarbeiter_innen die Zeit und Energie für die Kultivierung einer reflexiven Grundhaltung.

Allen, die sich vertieft mit dem Thema auseinandersetzen möchten, sei empfohlen, einen Blick auf die Homepage von Dissens (www.dissens.de) mit Publikationen und Fortbildungsangeboten zu werfen.


Tina Füchslbauer / tina.fuechslbauer@gmx.at