soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 15 (2016) / Rubrik "Werkstatt" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/432/780.pdf
Anne Unterwurzacher & Gertraud Pantucek:
1. Ausgangslage: 50 Jahre Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei
Im Jahr 2014 jährte sich der Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen Österreich und der Türkei zum 50. Mal. Dieses Abkommen legte gemeinsam mit dem im Jahr 1966 mit Jugoslawien unterzeichneten Abkommen den Grundstein für die euphemistisch als „GastarbeiterInnen-Migration“ bezeichnete Zuwanderung nach Österreich.1 Wie schon in früheren Einwanderungsphasen haben auch die ab Mitte der 1960er-Jahre zugewanderten Menschen die österreichische Gesellschaft verändert. Österreich ist in diesem letzten halben Jahrhundert in sprachlicher, kultureller und religiöser Hinsicht wesentlich heterogener geworden. Die Arbeitsmigration nach Österreich brachte aber auch für die Menschen aus der Türkei, dem damaligen Jugoslawien und aus Tunesien neue Erfahrungen mit sich. Die Niederlassung war verbunden mit „Hoffnungen, Entbehrungen, Sehnsüchten, Anfeindungen“ (Gürses 2004: 24). Trotz der schwierigen und vielfach diskriminierenden Arbeits- und Lebensbedingungen haben sich die zugewanderten Menschen die neue Umgebung nach und nach angeeignet.
Viele lokale Initiativen nahmen den 50. Jahrestag des österreichisch-türkischen Anwerbeabkommens zum Anlass, um diese jüngere Geschichte der Arbeitsmigration – sei es in Form von Ausstellungen, Veranstaltungen oder anlaufenden Sammlungsprojekten – stärker sicht- und bearbeitbar zu machen.2 St. Pölten reihte sich mit zwei Aktivitäten in diesen Trend ein: Im St. Pöltener Stadtmuseum wurde von 13.06.-14.09.2014 die Ausstellung „Angeworben! Hiergeblieben! 50 Jahre ‚Gastarbeit‘ in der Region St. Pölten“ gezeigt (siehe Abbildung 1). In Kooperation mit der FH St. Pölten entstand zudem das 30-minütige studentische Filmprojekt „50 Jahre ‚Gastarbeit‘: Wege der 1., 2. und 3. Generation“. Wir stellen mit diesem Werkstattbericht beide Projektaktivitäten vor und unterziehen diese einer kritischen Reflexion.
Abbildung 1: Einladung zur Ausstellungseröffnung
2. Marginalisierte Migrationsgeschichte/n?
Wenn auch auf lokaler Ebene eine Zunahme an Erinnerungsprojekten zu verzeichnen ist, welche die Geschichte der Arbeitsmigration gewissermaßen „von unten“ her bearbeiten, so ist die Arbeitsmigration der 1960er-Jahre im historischen Bewusstsein der Republik insgesamt nur marginal verankert. Zwar bestreitet auch das offizielle Österreich kaum noch die Tatsache, dass Österreich längst zum Einwanderungsland geworden ist, die Konsequenzen der Zuwanderung werden aber häufig einseitig diskutiert. Schlagwörter wie „Fremdheit“, „kulturelle Differenzen“, „Parallelgesellschaften“, „gescheiterte Integration“ oder auch Bilder von dem „Islam“ dominieren die öffentlichen Debatten. Jubiläen wie der 50. Jahrestag des österreichisch-türkischen Anwerbeabkommens schaffen aber zunehmend Raum für eine umfassendere Bilanz der jüngeren Arbeitsmigration nach Österreich jenseits solcher problematisierender Betrachtungsweisen. Dazu bedarf es einer kritischen Bewertung dieser letzten 50 Jahre und einer Beleuchtung dieser Geschichte aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Die gängige Geschichtsschreibung wird durch neue Fragestellungen beträchtlich herausgefordert, und zwar: Welche Geschichte/n bringen Migrant_innen mit? Was bedeutet Arbeitsmigration für Individuen und ihre Familien? Wie konnten Kinder nachgeholt werden und wie verlief ihre Integration in den Schulen? Wie lässt sich die Geschichte der Migration abbilden? Wie kann Migrationsgeschichte in die allgemeine Geschichte und das historische Bewusstsein Österreichs eingefügt werden? Wie lässt sich angesichts der Diversität der Gesellschaft überhaupt noch so etwas wie eine „nationale“ Geschichte schreiben? In der offiziellen (nationalen) Geschichtsschreibung werden solche Fragen noch kaum verhandelt; der Wandel hin zur Migrationsgesellschaft samt der damit verbundenen Pluralisierung von Lebenswelten bleibt eigentümlich ausgeblendet (vgl. Rupnow 2013).3
Im Rahmen unserer Jubiläumsaktivitäten haben wir in St. Pölten lebende Menschen mit Zuwanderungsgeschichte interviewt. Frau S. zog gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei weiteren Geschwistern im Jahr 1973 nach St. Pölten; der älteste Bruder folgte 1974. Der Vater war 1971 als Chemiearbeiter von der St. Pöltener Glanzstoff-Fabrik angeworben worden, wo er bis zu seiner Pensionierung beschäftigt blieb. Wie wenig Raum den „GastarbeiterInnen“ und ihren Nachkommen in der österreichischen Geschichte zugestanden wird, reflektiert Frau S. im Interview:
„Ich finde das eigentlich ziemlich schade, dass das nicht in die Geschichte mit eingeführt wird, sei es in der Schule jetzt egal wo, ich weiß es nicht, in den Arbeitsstätten. Dass man eigentlich diese Gastarbeiter, die ja wirklich als Gäste damals empfangen wurden, dass man die eigentlich nicht schlecht machen soll. Weil die haben uns angekurbelt! Dass man das im Unterricht integriert und weitergibt an die Jugend, an die Kinder. Sodass die dann mit dem, wie soll ich sagen, warm werden. Die ham’s ja braucht, die gehören ja zu uns… das ist ja schade, weil das ist ja schon auch Geschichte!“
Der Einbezug der Geschichte der Zugewanderten in das kollektive Geschichtsbewusstsein schafft Zugehörigkeit und ermöglicht Begegnung – so die persönliche Ansicht unserer Interviewpartnerin. Bislang „unsichtbare“ Geschichten sichtbar zu machen, war dann auch eines der Hauptmotive unserer Aktivitäten (siehe Kapitel 3.2), welche im nachfolgenden Kapitel ausführlicher beleuchtet werden.
3. 50 Jahre „Gastarbeit“ – die Jubiläumsaktivitäten in St. Pölten
3.1. Entstehungsgeschichte oder ein Stück St. Pöltener Migrationsgeschichte
Der Impuls zu den Jubiläumsaktivitäten ging von Ekrem Arslan vom Verein für österreichisch-türkische Freundschaft und von Sepp Gruber von der Betriebsseelsorge Traisental aus. Die beiden blicken auf eine mehr als 20-jährige Zusammenarbeit zurück, die im Mai 1992 im Zuge des „Projekts Boot“ ihren Ausgang nahm. Damals machten die Betriebsseelsorge, die Katholische Arbeiterjugend, Amnesty International und Südwind mit am Rathausplatz errichteten Slumhütten auf das weltweite Elend durch das Wirtschaftssystem, die Obdachlosigkeit im reichen Europa und auf die wachsende Ausländerfeindlichkeit in Österreich (Stichwort FPÖ-Volksbegehren) aufmerksam.
Bei dieser Aktion nahmen Ekrem Arslan und Yildirim Kazim, deren Väter zur ersten Generation von Glanzstoff4-Arbeitern aus der Türkei zählten, Kontakt zum Organisationsteam auf und machten auf die soziale Isolation der ersten und zweiten Migrantengeneration im Wohnviertel rund um die Glanzstoff-Fabrik aufmerksam. Es gab damals kaum Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten, weshalb die beiden jungen Männer vom Österreichisch-Türkischen Freundschaftsverein den Wunsch nach vermehrten Kontakten und gemeinsamen Veranstaltungen äußerten.
Bereits im Sommer 1992 wurde deshalb gemeinsam das erste „Multikulti-Fest“ (ab 1995: „Fest der Begegnung“) in Viehofen organisiert. Nach wechselnden Örtlichkeiten übersiedelte das Fest im Jahr 2004 in die Mitte der Stadt, und zwar auf den St. Pöltener Rathausplatz, wo es seit dem jährlich stattfindet. Bei diesem ersten Fest am Rathausplatz nahmen die Organisatoren das 40-jährige Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei zum Anlass, um mit einem kurzen Film und einer Ausstellung auf die Geschichte der „GastarbeiterInnen“ aufmerksam zu machen. Beide Aktivitäten – Film und Ausstellung wurden 2014 zum 50-jährigen Anwerbejubiläum wiederholt. Anders als zehn Jahre zuvor wurden die Aktivitäten institutionell auf eine breitere Basis gestellt und professioneller gestaltet. Maßgeblich an den Aktivitäten beteiligten sich das Zentrum für Migrationsforschung, die Fachhochschule St. Pölten (Abteilung Soziale Arbeit und Medientechnik), das Stadtmuseum, das Büro für Diversität und engagierte Einzelpersonen (v. a. Ayse Arslan und Bernhard Gamsjäger). Die Entstehungsgeschichte der Jubiläumsaktivitäten lässt sich als Bottum-up-Initiative bezeichnen, die nach einer langen Vorlaufzeit in den etablierten Institutionen in St. Pölten angekommen ist. Als ein Fragment der Migrations- und damit der St. Pöltener Stadtgeschichte wurde die Geschichte des „Festes der Begegnung“ in einer Ausstellungsstation thematisiert, steht sie doch exemplarisch für die vielfältigen Formen migrantischer Selbstorganisation in St. Pölten.
3.2 Film und Ausstellung im Detail
Die Anerkennung des Beitrags, den die Zugewanderten für die Wirtschaftsentwicklung geleistet haben, bislang „unsichtbare“ Geschichten sichtbar machen und die Schaffung von Akzeptanz für die Zugewanderten waren die übergeordneten Ziele der beiden Initiatoren. In mehreren Arbeitstreffen erfolgte die Konkretisierung der Projektaktivitäten. Es wurde grundsätzlich ein lebensgeschichtlicher Zugang gewählt. In der Ausstellung standen die Erfahrungen der ersten Generation im Mittelpunkt; im Film hingegen wurden stärker die Lebenswege der unterschiedlichen Generationen thematisiert. Die individuellen Lebensgeschichten wurden jedoch nicht für sich alleine stehen gelassen, sondern möglichst breit in gesellschaftliche Bezüge eingebettet. Konkret sollte aufgezeigt werden, wie sich die Zugewanderten und ihre Nachkommen St. Pölten auf ganz eigene Weise angeeignet haben. Trotz schwieriger Bedingungen wurden aber auch positive Erfahrungen berichtet und Formen besonderer individueller Unterstützung sichtbar.
Für den Film wurden schwerpunktmäßig unterschiedliche Familien porträtiert. Ergänzend wurden Einzelinterviews (z. B. mit dem ehemaligen Personalchef der Glanzstoff-Fabrik) und Stippvisiten zu bedeutsamen Orten der Migration (z. B. in die Mevlana-Moschee) durchgeführt. Zudem haben wir zwei thematische Fokusgruppen abgehalten, diese wurden vollständig aufgezeichnet und sind ausschnittsweise in den Film eingeflossen. Eine Fokusgruppe behandelte die Thematik der Selbstständigkeit, die zweite hatte den Aspekt des Bildungsaufstieges der nachkommenden Generationen zum Inhalt. Trotz nach wie vor bestehender Ungleichheiten im Bildungssektor belegen Studien, dass der Bildungsaufstieg immer häufiger gelingt (vgl. Gächter 2012). Es war uns daher wichtig, den weiten und nicht immer geradlinig verlaufenden Weg hin zu höheren Bildungsabschlüssen, den einige der Nachkommen zurückgelegt haben, zu thematisieren. Die Projektgruppe entwarf im Vorfeld ein Drehbuch. Das umfangreiche Rohmaterial, welches an insgesamt drei Drehtagen gesammelt wurde, wurde von den zwei beteiligten Studenten der FH Medientechnik selbstständig geschnitten und in mehrfachen Feedback-Runden mit den im Film Beteiligten das Arrangement, der Inhalt und die Botschaft der Aufnahmen diskutiert.
Für die Ausstellung wurden neben lebensgeschichtlichen Interviews, Materialien aus privaten Beständen (vor allem Fotos, Ausweise und Vereinsunterlagen; siehe exemplarisch Abbildung 2), öffentliche Dokumente (v. a. Anwerbeakten der Wirtschaftskammer) und Zeitungsartikel verwendet. Zudem wurden zwei Filme gezeigt, und zwar der 2004 produzierte Film „40 Jahre ‚Gastarbeit‘ in St. Pölten“ und ein Film zum Thema Wohnen aus der Gastarbajteri-Ausstellung, den uns die Initiative Minderheiten dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat.5 Ekrem Arslan produzierte zudem eine 16-minütige digitale Lebensgeschichte über das Leben seines Vaters, der als einer der ersten angeworbenen Menschen nach St. Pölten kam.
Abbildung 2: Exponat aus der Ausstellung „Angeworben! Hiergeblieben!“ (Privatbesitz Ekrem Arslan)
Erzählt wurde die Geschichte der Arbeitsmigration entlang folgender Themenbereiche:
4. Reflexion, Chancen und Grenzen des lokalen Erinnerungsprojektes
4.1. Film und Ausstellung als symbolische Anerkennung
Beide Aktivitäten wurden unter reger Publikumsbeteiligung öffentlich präsentiert. Bei der Ausstellungseröffnung und der Filmpremiere kam es zu sehr berührenden Reaktionen seitens der porträtierten Menschen und ihren Familien. Film und Ausstellung wurden als Form der symbolischen Anerkennung der vielfältigen Lebensrealitäten von St. Pöltener MigrantInnen sehr gut an- und aufgenommen. Für den Symbolgehalt waren zwei Aspekte bedeutsam: Zum einen trat die Stadt St. Pölten als Mitinitiatorin auf und räumte den Erfahrungen der ArbeitsmigrantInnen einen Platz im St. Pöltener Stadtmuseum ein. Die Filmpremiere fand im Programmkino Cinema Paradiso statt. Zum anderen waren sowohl bei der Ausstellungseröffnung als auch bei der Filmpremiere hohe offizielle Vertreter aus der Türkei und Tunesien anwesend, beides Länder aus denen aktiv nach St. Pölten angeworben wurde (siehe Abbildung 3). Die Ausstellung im Stadtmuseum wurde aufgrund des allgemeinen Interesses an der Thematik um einen Monat verlängert; auch die lokale Presse berichtete über die Aktivitäten.
Abbildung 3: Familie Firat bei der Ausstellungseröffnung mit dem türkischen Generalkonsul Tayyar Kagan Atay (Quelle: Büro für Diversität, St. Pölten)
Anhand der Lebensgeschichten, welche uns die MigrantInnen im Rahmen des Projektes erzählt haben, ließ sich der Prozess der Migration von dem zunächst nur vorübergehend geplanten Aufenthalt hin zur dauerhaften Niederlassung nachzeichnen: Die Menschen sind aus den Baracken ausgezogen, haben ihre Familien nachgeholt oder vor Ort welche gegründet, sie haben ihre Kinder hier eingeschult und sich auf dem freien Wohnungsmarkt eigene Wohnungen organisiert. Viele ZeitzeugInnen bezeichneten vor allem die Wohnungssuche als eine der großen Herausforderungen in den ersten Jahrzehnten, bei der sie immer wieder mit rassistischen Vorbehalten gegenüber MigrantInnen konfrontiert wurden.
Nach und nach entstand in St. Pölten eine migrantische Infrastruktur: Die Zugewanderten gründeten eigene Geschäfte und eröffneten Gaststätten. In einem St. Pöltener Kino gab es am Sonntag eine türkische Filmmatinee. Ab den 80er-Jahren begannen die MigrantInnen sich verstärkt in Vereinen zu organisieren. Nicht immer ging es dabei ausschließlich um die Pflege kultureller Traditionen, auch politische Arbeit wurde und wird nach wie vor geleistet. Im Jahr 1995 etwa suchte der österreichisch-türkische Freundschaftsverein um die Errichtung einer Beratungsstelle für MigrantInnen nach Wiener Vorbild an. Zugleich wurde per Petition versucht, dem Anliegen eine breitere Basis zu verschaffen. Das Vorhaben konnte nicht realisiert werden. Derselbe Verein startete auch eine in türkischer Sprache verfasste Kampagne für die Einbürgerung in Österreich und beriet Landsleute bei den Einbürgerungsformalitäten. Die sprunghaft angestiegenen Einbürgerungszahlen in der amtlichen Statistik belegen den Erfolg dieser Kampagne.
Es konnte jedenfalls eindrucksvoll aufgezeigt werden, wie sich die Menschen ihr Leben vor Ort eingerichtet haben und wie sie dabei „das Gemeinwesen durch ihre Leistungen und Beiträge zum wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben entscheidend und nachhaltig mitgeprägt haben“ (Hollomey-Gasser/Amoser/Hetfleisch 2015: 1). All dies bewerkstelligten die Zugewanderten in Eigenregie, gleichsam hinter dem Rücken der österreichischen Politik, welche Integration als Thema erst Anfang der 1990er-Jahre entdeckte. MigrantInnen waren und sind strukturell stark benachteiligt; allerdings sind sie den gesellschaftlichen Strukturen nicht „passiv“ ausgeliefert. Es war uns daher ein großes Anliegen, die Zugewanderten als realitätsverarbeitende Akteure sichtbar zu machen und sie nicht auf die Rolle der „Leidenden“ zu reduzieren (vgl. Juhasz/Mey 2003: 40). Die von uns gewählte Perspektive weist somit deutliche Parallelen zu dem Konzept bzw. zur Arbeitshaltung des Empowerment in der Sozialen Arbeit auf (vgl. Herriger 2006). Gerade lebensgeschichtliches Erinnern lenkt den Blick auf den aktiven Umgang mit strukturell bestimmten Lebenschancen und ist somit immer auch eine Spurensuche nach bislang wenig sichtbaren bzw. mitunter verschütteten Lebenskräften. Die Kommentare im Ausstellungsbuch (etwa „Ich bin sehr stolz auf unsere Familie und Großväter…“) und die Rückmeldungen der Beteiligten belegen, dass uns dies durchaus gelungen ist.
4.2 Migration als Konfliktgeschichte – Grenzen der St. Pöltener Aktivitäten
Mit unserem Erinnerungsprojekt wollten wir den Verständigungs- und Selbstverständigungsprozess in St. Pölten anregen und auch den Begriff der „Zugehörigkeit(en)“ verhandeln. Das ist kein einfaches Unterfangen, denn Migrationsgeschichte ist immer auch Konfliktgeschichte; es geht im Kern um gesellschaftliche Ausschlüsse, Rassismus und ungleiche Machtverteilung. Das Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach einem möglichst harmonischen lokalen Geschichtsbild und den realen Erfahrungen zugewanderter Menschen haben wir in unserem Projekt mehrmals erlebt. Dieses Spannungsfeld bedarf über die rein symbolische Repräsentation von MigrantInnen im Museum hinaus einer diskursiven Bearbeitung. Hier hätte ein Begleitprogramm ansetzen können, für welches leider keine Mittel zur Verfügung standen. Aufgrund der Unterfinanzierung und der Zeitknappheit konnten zudem nicht alle Themen (z. B. Wohnen, Arbeitsbedingungen, Frauenmigration) in der gewünschten Tiefe bearbeitet werden. Die Spurensuche gestaltete sich generell als schwierig, da die vielfältigen Zeugnisse der Migration von den etablierten gedächtnispolitischen Institutionen bislang weder systematisch gesammelt noch entsprechend ausgewiesen werden.6 Zwar haben Schlagwörter wie Interkulturalität bzw. Mainstreaming von Migration, Integration und Diversität mittlerweile auch im Museumsbereich Hochkonjunktur, allerdings haben die gesetzten Maßnahmen häufig additiven Charakter in Form von einmaligen Projekten (meistens in Form von Sonderausstellungen).7 Auch in unserem Fall wirkte sich der kurzfristig angelegte Projektcharakter auf die Ergebnisse aus: Die Aktivierung und der Einbezug von MigrantInnen über die bereits bestehenden Kontakte der beiden Initiatoren hinaus hätten einer längeren Vorlaufzeit bedurft. Der Sammlungsaufruf und das aktive Zugehen auf MigrantInnen zeigte erst unmittelbar vor der Ausstellungseröffnung breitere Wirkung: Die zugewanderten Menschen brachten buchstäblich bis zur letzten Sekunde Material ins Museum. Zwar wurden einige der Objekte noch berücksichtigt, für eine Bearbeitung und Repräsentation der Lebensgeschichten dieser Menschen war es zu diesem Zeitpunkt aber leider schon zu spät.
Angesichts dieser Beschränkungen haben wir unsere Projektaktivtäten als Work-in-progress definiert. Erfreulicherweise konnten aufbauend auf den Jubiläumsaktivitäten bereits weitere Akzente gesetzt werden: So etwa schloss das zweisemestrige Bachelorprojekt „Bildungs- und Lebensgeschichten von Menschen mit Migrationshorizont. Inklusion in St. Pölten“ unmittelbar an unser Ausstellungs- und Filmprojekt an.8 Die Studierenden der Sozialen Arbeit konzentrierten sich auf die Erforschung und Darstellung der Lebenschancen von Nachkommen der „GastarbeiterInnen“ im Bildungsbereich. Zudem entwickelten die Studierenden auf Basis ihrer Erhebungen geeignete Maßnahmen – etwa ein Konzept, um Menschen mit Migrationserfahrung die Fachhochschule St. Pölten als Ausbildungsangebot näher zu bringen. Das Zentrum für Migrationsforschung entwickelte auf Basis der Rechercheergebnisse zur lokalen Migrationsgeschichte den inhaltlichen Arbeitsschwerpunkt „Der andere Kollege: Arbeitsmigration in die St. Pöltener Glanzstoff-Fabrik“. Die Vorarbeiten unserer Projektgruppe haben zudem dazu geführt, dass die Geschichte der Arbeitsmigration im Rahmen des vom Landestheater NÖ produzierten Bürgertheaters über die Glanzstoff-Fabrik umfassend behandelt wurde. In dem von Felix Mitterer geschriebenen und von Renate Aichinger inszenierten Stück „Glanzstoff“ wirkte ein tunesischer „Gastarbeiter“ mit, der dem Publikum seine eigene Lebensgeschichte seit seiner Ankunft in St. Pölten erzählte. Zudem wurde die von Ekrem Arslan für die Ausstellung produzierte digitale Lebensgeschichte seines Vaters in gekürzter Fassung gezeigt.
Insgesamt konnten wir mit unseren Jubiläumsaktivitäten einen ersten Schritt setzen und die Bedeutung der jüngeren Geschichte der Arbeitsmigration als wichtigen Teil der lokalen Geschichte St. Pöltens aufzeigen. Über die symbolische Repräsentation im Sinne eines Sichtbarmachens hinaus geht es um grundlegendere Fragen, die auch für die Soziale Arbeit überaus relevant sind und zwar: Wie können wir Interkulturalität in unseren Institutionen so verankern, dass sie der Heterogenität unserer Gesellschaft tatsächlich gerecht wird? Partizipation und soziale Inklusion sind wesentlich mehr als bloßes „Mitmachen“, vielmehr sind es die Spielregeln selbst, die zur Debatte stehen (vgl. Sternfeld 2012: 122).
Verweise
1 Ein erstes Abkommen wurde 1962 mit Spanien geschlossen. Dieses Abkommen wurde in der Praxis jedoch kaum umgesetzt. Zahlenmäßig bedeutsamer erwies sich eine Übereinkunft zwischen österreichischen und tunesischen Stellen, auf deren Basis in den Jahren von 1971 und 1973 Menschen aus Tunesien angeworben wurden. Die Angaben schwanken zwischen 1.000 und 2.000 Zugewanderten aus Tunesien. In St. Pölten war es vor allem die Glanzstoff-Fabrik, welche Menschen aus Tunesien beschäftigte. Insgesamt ließen sich rund 100 TunesierInnen dauerhaft in St. Pölten nieder.
2 Eine Auflistung der einzelnen Projekte findet sich in der schriftlichen Dokumentation der 5. Tiroler Integrationsenquete „Erinnern – verstehen – anerkennen. Migration und Geschichte“, S. 11 unter https://www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/gesellschaft-soziales/integration/downloads/Enquete_Dateien_2014/DokumentationEnquete2014.pdf (15.12.2015)
3 Ebenfalls bedeutsam sind Unterschiede und Parallelen zu Fluchtgeschichten und der Inklusion von Menschen mit Fluchterfahrungen in gesellschaftliche Systeme wie Gemeinde- und Schulstrukturen. Da im Jahr 2015 einige Monate die nationalen Grenzen von manchen EU-Staaten u. a. auch von Österreich für Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan relativ offen waren, kam es zu einem erhöhten Zuzug von AsylwerberInnen. Welche Bedeutung dies für eine lokale Geschichte und für (schon länger) Einheimische und für (mehr oder minder neu) Zugewanderte haben wird, wird ebenfalls zu untersuchen sein.
4 Die Glanzstoff-Fabrik war einer der größten Arbeitgeber in der Region St. Pölten. Ab 1964 wurden gezielt Arbeitskräfte aus der Türkei und ab 1971 Menschen aus Tunesien angeworben. Anfang der 1970er-Jahre arbeiteten bereits an die 300 „Gastarbeiter“ in der Fabrik.
5 Die Ausstellung „Gastarbajteri – 40 Jahre Arbeitsmigration“ wurde 2004 von der Initiative Minderheiten im Wien Museum realisiert. Ausführliche Informationen über die Ausstellung: http://www.gastarbajteri.at/ (16.12.2015)
6 In Wien gibt es seit 2012 eine Initiative, welche ein „Archiv der Migration“ fordert. Ausführlicher Informationen inklusive eines Konzeptes für ein solches Archiv finden sich unter: http://archivdermigration.at/de (16.12.2015)
7 Das Vorarlberg Museum ist bislang das einzige Museum, welche Migration als Thema in der neukonzeptionierten Dauerausstellung inkludiert hat. Darüber hinaus wurde mit dem „Vielfaltenarchiv“ eine Dokumentationsstelle zur Migrationsgeschichte Vorarlbergs eingerichtet. http://www.vielfaltenarchiv.at/ (16.12.2015)
8 Das Bachelorprojekt wurde von Gertraud Pantucek von der FH St. Pölten, Anne Unterwurzacher (Zentrum für Migrationsforschung, St. Pölten) und Özgür Tasdelen (Mitwirkender bei der Fokusgruppe Bildung im Filmprojekt) durchgeführt. Durch das Seminar konnte die im Rahmen des Erinnerungsprojektes erzielte Vernetzung mit migrantischen Communities v. a. mit der alevitischen Gemeinschaft vertieft werden.
Literatur
Gächter, August (2012): Kaum beachtet. Bildungszugewinne der Jugend- gegenüber der Elterngeneration. Arbeitspapiere Migration und soziale Mobilität Nr. 28. Wien, https://www.zsi.at/users/153/attach/p28_12_bmukk2.pdf (03.12.2013).
Gürses, Hakan (2004): Eine Geschichte zwischen Stille und Getöse. In: Gürses, Hakan / Kogoj, Cornelia / Mattl, Sylvia (Hg.): Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration. Wien: Mandelbaum Verlag, S. 24-30.
Herriger, Norbert (2006): Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine Einführung. 3. Auflage, Stuttgart: Walter Kohlhammer Verlag.
Hollomey-Gasser, Christina / Amoser, Marcel / Hetfleisch, Gerhard (2015): Erinnerungskulturen. Dialoge über Migration und Integration in Tirol. Projektbericht Zentrum für Migrant/innen in Tirol. http://www.zemit.at/images/stories/projekte/erinnerungskulturen/Projektbericht-Erinnerungskulturen.pdf (16.12.2015)
Juhasz, Anne / Mey, Eva (2003): Die zweite Generation: Etablierte oder Außenseiter? Biographien von Jugendlichen ausländischer Herkunft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Rupnow, Dirk (2013): Deprovincializing Contemporary Austrian History. Plädoyer für eine Geschichte Österreichs als Migrationsgesellschaft in transnationaler Perspektive. In: Zeitgeschichte, 40 (2013), 1: Arbeitsmigration in Österreich. Historische Perspektiven und methodische Herausforderungen, S. 5-21.
Sternfeld, Nora (2012): Um die Spielregeln spielen! Partizipation im post-repräsentativen Museum. In: Susanne Gesser / Handschin, Martin (Hg.): Das partizipative Museum: Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen. Bielefeld: transcript Verlag, S. 120-126.
Über die Autorinnen
Mag.a Dr.in Anne Unterwurzacher
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FH-Prof.in DSA Mag.a Dr.in Gertraud Pantucek
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