soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 15 (2016) / Rubrik "Einwürfe/Positionen" / Standort Eisenstadt
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/440/814.pdf


Michael Noack:

Sozialraumorientierung

Anmerkungen zu aktuellen Debattenbeiträgen


„Weist man konsequent darauf hin, was alles besser sein müsste, so ist das alles richtig und notwendig, aber es löst den Horizont nicht ein. Die Spannung zwischen einem Denkhorizont, der darauf besteht, dass diese generelle Frage nach dem Möglichen nicht stillgelegt werden darf und dem, wie man das im je Einzelnen einlöst, ist etwas, das mich beschäftigt.“ (Thiersch in Bitzan/Bolay/Thiersch 2006: 64f)


1. Einleitung
Auch mich hat diese Frage beschäftigt, nicht erst nachdem ich den Beitrag „Sozialraumorientierung: Von der Reformhoffnung zum Heilsversprechen“ von Kessl und Reutlinger (2015) in „soziales_kapital“ gelesen haben, aber seit dem wieder besonders intensiv. Und das aus zwei Gründen:

Einerseits ist es erstaunlich, wie sich die beiden Autoren damit begnügen, ihre Einschätzungen und Argumentationen durch den Verweis auf eigene Quellen zu belegen, Akteure jedoch, die sie kritisieren, gar nicht erst zitieren. Kessl und Reutlinger beziehen sich mit ihrem Beitrag implizit auf das Fachkonzept Sozialraumorientierung (SRO), das seit über 20 Jahren am Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universität Duisburg-Essen entwickelt wird und schaffen es, dies nicht einmal zu erwähnen – geradeso, als dürfe man die Namen bestimmter Autoren und Wissenschaftler nicht in den Mund nehmen (etwa: Hinte/Treeß 2014, Früchtel/Cyprian/Budde 2013a, 2013b). Dieser Beitrag reiht sich ein in Publikationen der Autoren, in denen sie sich relativ belegfrei zu konzeptionellen Elementen der SRO äußern (siehe etwa Kessl/Reutlinger 2014).

Andererseits durchzieht den Beitrag eine Vorgehensweise, die in der qualitativen Sozialforschung als „selektive Plausibilisierung“ kritisch hinterfragt wird. Kessl hat sein DFG-Forschungsprojekt (vgl. Dirks/Kessl/Schulz 2015) „Urbane Raum(re)produktion Soziale Arbeit“ abgeschlossen und belegt zentrale Argumentationen im oben genannten Beitrag mit Originalzitaten aus Befragungen von Experten (vgl. Kessl/Reutlinger 2015: 376). Es wird jedoch nicht angegeben, welche Expert*innen in welcher Funktion wieso mit welcher Methodik befragt wurden und ob es sich bei den zitierten Aussagen um Mehrheits- oder Außenseitermeinungen der befragten Expert*innen handelt. Flick (2009) weist daraufhin, dass

„(…) über dieses Vorgehen, das sich auch als ‚selektive Plausibilisierung’ bezeichnen lässt, (…) das Problem der Nachvollziehbarkeit nicht hinreichend gelöst [ist; Anm. d. Verf.]: Vor allem bleibt die Umgangsweise mit den Fällen und Passagen, von denen der Forscher ‚meint’, sie seien nicht so anschaulich für das Typische oder gar davon abweichend bzw. dazu im Widerspruch, häufig im Dunkeln.“ (Flick 2009: 488)

Ist die Genese von Forschungsergebnissen nicht nachvollziehbar, können sie ihr Potenzial im akademischen Diskurs nicht entfalten, da weitere Forschungsaktivitäten und Fachdebatten kaum bis gar nicht an diesen Ergebnissen ansetzen können.

Im Folgenden wird dargestellt, welche Konzeptbestandteile der SRO im oben genannten Beitrag von Kessl und Reutlinger aus ihrem zusammenhängenden Kontext gerissen oder unzutreffend gedeutet wurden, um sie kritisieren zu können. Zudem wird dargestellt, welche vermeintlichen Forschungsergebnisse – zumindest – mit Vorsicht zu genießen sind, da sie über eine selektive Plausibilisierung persönlicher Einschätzungen der beiden Autoren nicht hinaus kommen.


2. Ausblendung von Debattensträngen
Ein Faktor, der den akademischen Diskurs rationalisieren und intellektualisieren kann, ist die Aufarbeitung zentraler Bestandteile jenes Konzepts, dem man sich kritisch widmet. Dazu gehört auch die Sichtung aktueller Veröffentlichungen zu diesem Konzept. Ein von Kritiker*innen der SRO immer wieder ins Feld geführtes Argument ist die Empirielosigkeit dieses Fachkonzepts:

„Während die Implementierung sich mit der nachfolgend beschriebenen historischen Reformkonstellation erklären lässt, ist die inzwischen erreichte Etablierung allerdings nur zu verstehen, wenn Berücksichtigung findet, dass sich (…) (4) keine angemessene Beurteilung der bisherigen Ergebnisse zulassen, die mit den vielfältigen Neujustierungsprozessen hin zu einer Sozialraumorientierung der Kinder- und Jugendhilfe erreicht wurden (sic!)“. (Kessl/Reutlinger 2015: 371)

An dieser Stelle bleibt offen, wer keine Beurteilung zulässt. Ein solch vager Vorwurf genügt, um bei den Leser*innen den Eindruck zu vermitteln, es gebe Protagonist*innen der SRO, die jedwede Forschung zu diesem Fachkonzept machtvoll verhindern. Jedoch: Forschungsergebnisse zur sozialraumorientierten Weiterentwicklung kommunaler Kinder- und Jugendhilfesysteme liegen vor (etwa Bestmann 2013, Bittscheidt/Lindberg 2013, Kalter/Schrapper 2006). Gleichzeitig darf gefragt werden, welches der aktuellen in der Sozialen Arbeit diskutierten Konzepte überhaupt systematisch über Zeitverläufe hinweg beforscht wurde: die Lebensweltorientierung im Hinblick auf deren Wirkungen? Oder die Nachhaltigkeit systemischer Arbeit?

Wer an die SRO diesbezügliche Anfragen stellt, sollte sie in gleicher Intensität auch an andere und eigene Konzepte richten. Zudem darf darauf verwiesen werden, dass es mittlerweile zahlreiche, auch datengestützte Erfahrungsberichte aus vielen Kommunen gibt (vgl. Krammer 2012, Pichelmeier/Rose 2010, Brünjes 2006, Volk/Till 2006, Josupeit 2006).1

Neben der fehlenden Sichtung des Forschungsstands zur SRO im oben genannten Beitrag von Kessl und Reutlinger scheinen jene Literaturstellen, auf die sich die Autoren beziehen, von diesen nicht immer in Gänze rezipiert worden zu sein. Dies zeigt sich an folgender Passage:

„Eine A-Historizität tritt in den Sozialraumorientierungsprogrammen in zweifacher Weise auf. Erstens legitimieren sich die gegenwärtig vorherrschenden Ansätze und Positionen über eine eigene, selektive Geschichtsschreibung (vgl. demgegenüber Bingel 2011).“ (Kessl/Reutlinger 2015: 372)

Zusätzlich zur fehlenden Konkretisierung, inwiefern eine vermeintlich „selektive Geschichtsschreibung“ durch wen erfolgt(e), ist auf folgende Ausführung von Bingel zu ihren Analysen der Geschichtsschreibung über SRO hinzuweisen:

„Die besonderen Diskurse zur Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe mussten leider ausgeklammert werden, damit die Arbeit machbar blieb und der lange Untersuchungs-zeitraum erhalten werden konnte.“ (Bingel 2011: 22)

Bingel hat sich nicht mit der Umsetzungshistorie des Fachkonzepts SRO in kommunalen Kinder- und Jugendhilfesystemen auseinandergesetzt, auf die sich die Autoren beziehen. Bedauerlicherweise haben Kessl und Reutlinger auch auf eine Sichtung der zahlreichen Veröffentlichungen zum Verhältnis von SRO und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz im SGB VIII verzichtet (siehe dazu etwa Merten 2002) und betten ihre Kritik somit tatsächlich in einen a-historischen Kontext ein.

„Insofern ist seither in der bundesdeutschen Fachdebatte, aber auch im zeitgleich verabschiedeten Sozialgesetzbuch, eine Berücksichtigung der AdressatInnen- und NutzerInnenperspektive ebenso wie die Inblicknahme von deren Alltag und von deren Lebenswelt für die Kinder- und Jugendhilfe konstitutiv – unabhängig von der tatsächlichen oder angestrebten Präsenz von Sozialraumorientierungsprogrammen.“ (Kessl/Reutlinger 2015: 372)

Freilich ist den Protagonist*innen der SRO die Soll-Vorschrift des § 27, Abs. 2, SGB VIII (KJHG) bekannt, wonach das engere soziale Umfeld der Menschen in die Hilfegestaltung einzubeziehen ist. Auch der Erhalt bzw. die Förderung einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt, wie sie in § 1, Abs. 3, Nr. 4, SGB VIII (KJHG) als Soll-Vorschrift formuliert wurde, ist ihnen geläufig. Es ist jedoch verkürzt gedacht, von einer Kongruenz zwischen sozialrechtlich kodifizierten „Soll-Vorschriften“ und der sozialarbeiterischen Praxis auszugehen.

Der Erhalt bzw. die Förderung einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt erfordert Tätigkeiten im Vorfeld der konkreten Fallarbeit, um bspw. Informationen über Schwierigkeiten junger Menschen und ihrer Familien – vor der Feststellung ihrer Leistungsberechtigung – durch Kontakte zu Regelinstitutionen, wie der Schule, zu erfahren. Gegenwärtig erfolgt die Förderung nicht einzelfallbezogener Tätigkeiten auf der Grundlage von § 74, SBG VIII. Dessen Funktion wird von Baltz folgendermaßen beschrieben:

„Diese [Regelung; Anm. d. Verf.] soll die freiwillige Tätigkeit des freien Trägers auf dem Gebiet der Jugendhilfe anregen und erfolgt hoheitlich durch einen Zuwendungsbescheid (als Verwaltungsakt), d. h., der öffentliche Jugendhilfeträger handelt hier nicht als grundsätzlich gleichberechtigter Vertrags- oder Vereinbarungspartner, sondern als hoheitliche Behörde gegenüber Dritten, hier einem Träger der freien Jugendhilfe“ (Baltz 2002: 207).

Grundsätzlich besteht auf diese Förderung kein Rechtsanspruch. Über die Art und die Höhe der Zuwendungsfinanzierung entscheidet der öffentliche Kostenträger nach pflichtgemäßem Ermessen. Jedoch wird der öffentliche Kostenträger zu Zwecken der Konsolidierung des öffentlichen Haushaltes diese „Soll-Vorschrift“ zugunsten der „Muss-Vorschrift“ Einzelfallfinanzierung vernachlässigen (vgl. Groppe/Noack 2014, Hinte/Litges/Springer 1999: 27).

Der von Kessl und Reutlinger zitierte Beitrag von Steckmann, den sie als Beleg für ihre Einschätzung heranziehen, „dass der Wille des Einzelnen keine unabhängige, intentionale Größe, sondern immer auch eine ‚adaptive Präferenz’ (vgl. Steckmann 2008)“ (Kessl/Reutlinger 2015: 373) darstelle, wurde von den beiden Autoren scheinbar ebenfalls nicht vollständig rezipiert. In Steckmanns Beitrag finden sich Passagen, mit denen er ausführt, inwiefern der Wille nicht immer eine adaptive Präferenz ist, sondern dass dies differenzierter zu beurteilen ist (siehe dazu auch: Noack 2013):

„Eine Feststellung adaptiver Präferenzen setzt sich vielmehr aus zwei voneinander unabhängigen Partialurteilen – einem deskriptiven und einem evaluativen – zusammen. Diese Differenzierung ist sachlich geboten, weil die kontextbezogene Anpassung von Präferenzen ein Resultat jeglichen sozialisatorischen bzw. erzieherischen Einflusses ist, so dass davon ausgegangen werden muss, dass die Menge der jeweils angepassten Präferenzen keineswegs schon als Gradmesser für eine Entfremdung von den wahren Bedürfnissen der Person fungieren kann. Die Anpassung der eigenen Präferenzstruktur an veränderte Lebensumstände kann beispielsweise auch, worauf Elster ausdrücklich hinweist, das Resultat einer überlegten Entscheidung sein (siehe Elster 1982: 224). In diesem Fall liegen keine adaptiven Präferenzen in dem genannten Sinne vor. Die Unterscheidung zwischen selbstbestimmter und entfremdeter Anpassung ist insofern von systematischer Bedeutung, als derjenige, der Anpassungen per se als Entfremdungsphänomene auslegen möchte, zur Übernahme eines idealisierenden Autonomiebegriffs gezwungen wird.“ (Steckmann 2010: 103)

Die Frage „wie Aktivierungsstrategien angesichts der zunehmenden Dominanz einer neuen ‚Aktivgesellschaft’ (Lessenich 2009) zu legitimieren sein sollen bzw. eben zu problematisieren sind“ (Kessl/Reutlinger 2015: 373), ist eine wichtige. Der Begriff der Aktivierung, so wie er im Rahmen des GWA-Diskurses der 1970er- und 1980er-Jahre verwendet und im Fachkonzept SRO zum zweiten Handlungsprinzip erhoben wurde, ist als „Aktivitätserkundung“ zu verstehen. Dem sozialraumorientierten Aktivierungsverständnis liegt die Erkenntnis zugrunde, dass versorgende und/oder betreuende Tätigkeiten nicht ausreichen, wenn Soziale Arbeit auf die Befähigung der Menschen abzielt, das von ihnen gewollte Leben zu führen, worauf auch in der internationalen Fachdebatte hingewiesen wird:

„Die Ziele und Mittel von Entwicklung erfordern es, den Standpunkt der Freiheit in den Mittelpunkt zu rücken. In dieser Perspektive müssen wir die Menschen als aktive Subjekte ihres eigenen Schicksals behandeln und ihnen die entsprechenden Spielräume zubilligen, statt in ihnen passive Empfänger der Früchte ausgeklügelter Entwicklungsprogramme zu sehen.“ (Sen 2007: 70; Hervorhebung durch Verf.)

Daher wird im Rahmen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit erkundet, in welchen Lebensbereichen die leistungsberechtigten Menschen aktiv sind oder aktiv werden wollen, um die sozialarbeiterische Intervention an diesen Aktivitäten anzudocken. Somit lässt sich dieses Aktivierungsverständnis von dem des „aktivierenden Sozialstaats“ abgrenzen, der das Verhältnis von Fördern und Fordern umdreht: „Gefördert wird nur, wer sich fordern lässt.“ Darüber hinaus ist es erstaunlich, mit welch reduktionistisch-verallgemeinernden Formulierungen der SRO alles Mögliche unterstellt wird.

„Vorgeschlagene Begrifflichkeiten, Methoden und Bausteine bleiben dabei aber generalistisch und häufig auch proklamatorisch-allgemein, d. h. systematisch unbestimmt.“ (Kessl/Reutlinger 2015: 373)

Wie kann diese Einschätzung im fachlichen Austausch aufgegriffen und diskutiert werden, wenn nicht konkretisiert wird, welche Begrifflichkeiten und Methoden inwiefern systematisch unbestimmt und häufig auch proklamatorisch-allgemein bleiben?

Gleiches gilt für den Vorwurf,

„dass die Förderung lokaler Gemeinschaftlichkeit im Kontext einer sich verstärkenden Klassengesellschaft Ausschließungsprozesse mit legitimieren (vgl. Groenemeyer/Kessl 2013), ja sogar verstärken kann (…). Eine ebensolche Verkürzungsgefahr enthält die Reduzierung einer Ressourcenorientierung auf Checklisten“ (Kessl/Reutlinger 2015: 373).

In der Fachdebatte ist es nicht möglich, auf diesen Vorwurf einzugehen, wenn kein Hinweis auf jene Quelle gegeben wird, auf die sich die Autoren beziehen, wenn sie von einer auf Checklisten reduzierten Ressourcenorientierung sprechen. Mir sind solche Checklisten im Fachkonzept SRO ebenso wenig bekannt wie die Bestrebung, lokale Gemeinschaftlichkeit zu fördern. Auch eine Diskussion der Ausschließungsprozesse, auf die die Autoren hindeuten, ist nicht möglich, da nicht konkretisiert wird, inwiefern eine vermeintliche Förderung lokaler Gemeinschaftlichkeit welche Menschen woraus ausschließt. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit erhöht zumindest die organisatorische Aufmerksamkeit des Jugendamts für bisher verdeckte Hilfebedarfe. Bestmann (2013) hat empirisch aufgedeckt, dass „durch fallunspezifische Angebote bestimmte einzelfallspezifische Bedarfslagen erst sichtbar werden“ (Bestmann 2013: 110 f). Dies kann „in bestimmten Wohngebieten (…) bedeuten, dass aufgrund der sozio-ökonomischen Ausgangslage möglicherweise durch niedrigschwelligere Zugänge entlang fallunspezifischer Arbeit auch Zugänge zu einzelfallspezifischen Bedarfslagen ermöglicht werden. Nicht alle Familien, die einen prinzipiellen Bedarf an HzE haben, sind durch das Jugendamt erfasst“ (ebd.: 113).


3. Selektive Plausibilisierung von Einschätzungen
Anahnd der folgenden Passage zeigt sich, inwiefern die selektive Plausibilisierung diskurshemmend wirkt:

„Sozialraumorientierung scheint ihres [der befragten Expert*innen; Anm. d. Verf.] Erachtens nach – in ihrer gegenwärtig dominierenden Version (vgl. Kapitel 2.2) – primär nicht den fachlichen Erbringungskontext und die Ebene sozialpädagogischer/sozialarbeiterischer Erbringung im Blick zu haben, sondern die Politikberatung und den damit verbundenen Berater-Markt (vgl. IV 4: Z. 499ff).“ (Kessl/Reutlinger 2015: 371)

In der Fachdebatte ist eine reflexive Auseinandersetzung mit diesem vermeintlich empirischen Befund nicht möglich. Dies hätte dreierlei erfordert:

  1. Eine Skizze der angewendeten Erhebungs- und Auswertungsverfahren. Es macht einen Unterschied für den Diskurs über qualitative Forschungsergebnisse, ob Expert*innen narrativ (vgl. Schütze 1987) oder problemzentriert (vgl. Witzel 1985) befragt worden sind und ob die Interviews inhaltsanalytisch (vgl. Mayring 2010) oder nach der Logik der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996) ausgewertet wurden. Werden diese methodischen Implikationen nicht offen gelegt, ist es kaum möglich zu eruieren, ob bei einer identischen Anwendung der Erhebungs- und Auswertungsverfahren unter gleichen Bedingungen ähnliche Ergebnisse aufgedeckt werden.
  2. Die oben bereits erwähnte fehlende Darstellung von Hinweisen, die das Forschungsprojekt intersubjektiv nachvollziehbar machen. Dazu gehören Angaben darüber, warum welches Verfahren der Stichprobenziehung angewendet wurde und wie viele Expert*innen aus welchem Handlungsfeld befragt wurden (n = ?). Auch eine Darstellung interviewübergreifender Auswertungsergebnisse ist notwendig (handelt es sich bei den zitierten Aussagen um Mehrheits- oder Außenseitermeinungen der befragten Expert*innen?). Daher lässt sich die Frage, ob die (Auswahl der dargestellten) Ergebnisse vom Untersuchungsleiter unabhängig sind, nicht adäquat bearbeiten.
  3. Eine – selbstverständlich anonymisierte – Darstellung der beruflichen Funktion sowie beruflichen Hierarchieposition der befragten Expert*innen. Da diese fehlt, kann nicht darüber debattiert werden, ob die zitierten Aussagen von Akteuren stammen, die über die nötige Expertise verfügen, solche Aussagen zu treffen. Die Beurteilung, ob SRO die Ebene „sozialarbeiterischer Erbringung“ (Kessl/Reutlinger 2015: 371) im Blick hat oder die Politikberatung und den damit verbundenen Berater-Markt, wird, je nachdem, ob eine Expertin/ein Experte aus der Kommunalpolitik oder eine Expertin/ein Experte aus dem Feld leistungserbringender Organisationen befragt wird, anders ausfallen. Es bleibt also unklar, aus welchem institutionellen Kontext die befragen Expert*innen stammen. Somit kann nicht reflektiert werden, von welchen Interessen ihren Aussagen möglicherweise geprägt sind. Es bleibt also unklar, auf der Grundlage welchen Erkenntnisinteresses welche Akteur*innen wieso im genannten Forschungsprojekt als „Expert*innen“ etikettiert und befragt wurden.

Darüber hinaus wird nicht transparent gemacht, auf welchen „Erbringungskontext sozialpädagogischer/sozialarbeiterischer Erbringung“ (ebd.) sich der oben befragte Experte bezieht. Es macht einen Unterschied, ob das Fachkonzept Sozialraumorientierung im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe umgesetzt wird, oder dem Quartiermanagement als fachliche Hintergrundfolie dient. Im ersten Fall, wenn eine Kommune ihr Kinder- und Jugendhilfesystem sozialraumorientiert umbaut, „dann tut sie das in allen Teilgebieten (…) und nicht nur in den als ‚belastet‘ qualifizierten Stadtteilen“ (Fehren/Kalter 2012: 29).

Beim Quartiermanagement fungiert Sozialraumorientierung als konzeptioneller Rahmen für die Arbeit in den als belastet qualifizierten kommunalen Teilgebieten (siehe dazu ausführlich: Grimm/Hinte/Litges 2004).


4. Resümee
Die neuerdings eingeschlagene Strategie, mit der Reutlinger und Kessl auf den „Beratermarkt“ verweisen, auf dem die SRO angeboten wird, bietet aus zweierlei Gründen kaum Ansätze für Kritik.

Einerseits ist es per se nicht schlecht, wenn ein sozial- und vor allem sozialarbeitswissenschaftlich fundiertes Konzept (siehe dazu Noack 2015) von Akteur*innen verbreitet wird, die sich für ihre Beratungsleistungen zur Konzeptumsetzung bezahlen lassen. Ohne diese Akteur*innen verbliebe das Konzept in der Schublade, wie bei so vielen Konzeptionen Sozialer Arbeit. Andererseits agieren Reutlinger und Kessl ebenfalls seit Jahren auf einem Markt: dem Kritikermarkt (vgl. Kessl/Reutlinger 2015: 376). Insofern bestehe „die Gefahr, dass eine Kritik einzelner Sozialraumorientierungsprogramme nur formuliert wird, um sich selbst auf dem Beratungsmarkt zu positionieren, z. B. um Drittmittel zu generieren, indem man ein eigenes, alternatives Beratungsprodukt etabliert“ (ebd.). Worin dabei die Gefahr bestehen soll, erschließt sich mir nicht. Es wäre spannend, eine alternative Konzeption der Sozialraumorientierung diskutieren zu können, die neben Hinweisen, was besser sein müsste, auch Vorschläge enthält, wie sich diese Hinweise realisieren lassen.

In diesem Zusammenhang ist abschließend auf einen Beitrag von Reutlinger (2014) zu verweisen, mit dem er im Kontext eines völlig anderen Debattenstrangs dafür plädiert, Perspektiven für Soziale Arbeit „jenseits des bisherigen“ aufzuzeigen. In seinem Beitrag „Hellsehen, orakeln, interpretieren. Ein Spiel mit den Zukünften Sozialer Arbeit“ weist Reutlinger (ebd.) auf das Themenheft der Zeitschrift Sozialmagazin von Anfang 2013 mit dem Titel „Zukunft der Sozialen Arbeit“ hin, in dem sich die Autor*innen mit unterschiedlichsten zukunftsrelevanten Themen beschäftigt haben und beklagt sich über fehlende Zukunftsvisionen:

„Keiner lobt die Gegenwart, utopische Elemente sind insgesamt kaum zu finden. Vielmehr beziehen sich die AutorInnen auf einen spezifischen Teilaspekt oder Einzelelemente – also ihre Lieblingsthemen oder die jeweiligen Arbeitsgebiete – und entwickeln daraus kleine und kleinste Trends. Keiner wagt also den großen Wurf für die Zukunft, indem beispielsweise eine Perspektive Sozialer Arbeit jenseits des bisherigen aufgezeigt würde.“ (Reutlinger 2014: 61)

Leider zitiert der Autor seine Argumentation im oben genannten Beitrag (Kessl/Reutlinger 2015) nicht, mit der er sich in derselben Position wiederfindet, wie die von ihm kritisierten Protagonisten:

„Die globale Welt ist (zu) groß und unübersichtlich, gestaltbar ist hingegen der lokale Nahraum! (…) Deshalb rückt der lokale Nahraum vermehrt in den Fokus – auch in sozialpolitischen Bemühungen und sozialarbeiterischem Handeln.“ (Reutlinger 2014: 66)

„Vieles deutet darauf hin, dass es heute vermehrt darum geht, ausgehend von der Lebenswelt vor Ort ein für den Klienten geeignetes familiäres, familienergänzendes oder soziales Umfeld zu schaffen – der Nahraum wird deshalb immer bedeutsamer.“ (ebd.)

Diese Deutung wird ausdrücklich geteilt. Aus ihr geht hervor, wie nah sich der Autor und die von ihm kritisierten Protagonisten der SRO gedanklich sind. Vielleicht gelingt es eines Tages über sozialraumorientierte Soziale Arbeit so zu debattieren, dass sich keine „Emotionalität Bahn“ (Schreier/Reutlinger 2013: 9) bricht, sondern innovative Ideen zur Weiterentwicklung der SRO sachlich ausgetauscht werden. Dies kann gelingen, wenn kritisierte Autoren ihre Argumente nur mit dem notwendigsten polemischen Beiwerk schmücken, um ihrer fachlichen Motivation Ausdruck zu verleihen, das Fachkonzept SRO auf der Grundlage nachvollziehbarer und berechtigter Kritik weiterentwickeln zu wollen. Von Kritiker*innen ist jedoch auch zu erwarten, nicht nur jene Konzeptbestandteile der SRO aus ihrem zusammenhängenden Kontext zu reißen, um sie einer Kritik zugänglich machen zu können, die sich erübrigen würde, wenn dieses Fachkonzept zuvor umfassend dargestellt werden würde.


Verweise
1 Zudem werden relevante Forschungsergebnisse zu den Effekten sozialraumorientierter Arbeit gegenwärtige in einer Veröffentlichung zusammengeführt (vgl. Noack 2016). Die in dieser Veröffentlichung versammelten Studien beleuchten einerseits die Auswirkungen sozialraumorientierter Arbeit auf die Verwirklichungschancen der Adresat*innen aus einer interkommunal vergleichenden Perspektive. Andererseits werden Studien vorgestellt, in deren Rahmen der Erreichungsgrad von Hilfeplanzielen in der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendhilfe aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Adressat*innen und Fachkräfte analysiert wurde.


Literatur

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Über den Autor

Dr. phil. Michael Noack, Jg. 1982

ist Vertretungsprofessor am Fachbereich für Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialräumliche Organisations- und Netzwerkentwicklung, qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung, sowie interdisziplinäre Netzwerkforschung.