soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 15 (2016) / Rubrik "Editorial" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/447/786.pdf


Dunja Gharwal & Peter Pantuček-Eisenbacher:

Worin besteht die Krise?

Überlegungen zu den Herausforderungen für Gesellschaft und Soziale Arbeit in Österreich anlässlich der Fluchtbewegungen


Die sogenannte Flüchtlingskrise beherrscht seit Monaten die Medien. Was sind die Tatsachen?

In dieser Situation gibt es Anlass zur Sorge.

Es ist zu erwarten, dass eine große Zahl der nun nach Österreich gekommenen Menschen zumindest für einige Jahre, viele auf Dauer im Land bleiben werden. Es bedarf einer Anstrengung, um ihnen ein rasches Ankommen in der österreichischen Gesellschaft zu ermöglichen. Der einzige Weg zur Integration ist Bildung, Arbeit und soziale Unterstützung, sodass möglichst viele der Personen, die in den letzten Monaten angekommen sind und die noch kommen werden, so bald wie möglich ihr Leben selbstständig finanzieren und organisieren sowie einen Beitrag zum Wohlergehen der Bevölkerung leisten können.

Für die Soziale Arbeit ist die gegenwärtige Situation besonders dramatisch und eine mehrfache Herausforderung:

Die Organisationen der Sozialen Arbeit und die Hochschulen sind unseres Erachtens gefordert, auf diese Situation rasch und entschlossen zu reagieren. Soziale Arbeit ist nicht nur Erfüllungsgehilfin staatlicher Sozialpolitik oder gar staatlicher Repression. Wie andere Professionen vertritt sie grundlegende gesellschaftliche Werte und erhebt ihre Stimme zu deren Schutz. Soziale Arbeit versteht sich als den Menschenrechten verpflichtet, sie ist angehalten, den sozialen Wandel zu fördern und Gemeinschaften dahingehend zu unterstützen und zu begleiten, selbst ihren Willen und Bedarf zu formulieren (vgl. IFSW 2012).

Was braucht es, um diesem Auftrag ernsthaft gerecht zu werden und ihn umzusetzen?

Es braucht Solidarität unter den Kolleginnen und Kollegen. Sie arbeiten mehrheitlich schlecht bezahlt nach den Vorgaben ihrer Arbeitgeber- und AuftraggeberInnen, viele werden angehalten, gegen den Berufskodex zu verstoßen. Gegenseitige Unterstützung sowie interprofessionelle Zusammenarbeit kann jene stärken, denen die Erfüllung professioneller Pflichten wichtig ist.

Es braucht einen Paradigmenwechsel bei der Unterstützung der Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin. Das Erfahrungswissen von Generationen ist derzeit kaum zugänglich, da das Sammeln, Sichten, Aufschreiben, Diskutieren mit dem Argument der Verschwiegenheitspflicht verhindert wird. Forschung und die kritische Sichtung und Verbreitung der akkumulierten beruflichen Erfahrung werden so behindert, Forschungsprojekte, Evaluationen etc. nicht finanziert. Es ist um die Freiheit der Forschung zum Sozialen in Österreich nicht gut bestellt. Soziale Versorgung und Hilfe sind ein bedeutender Wirtschaftssektor – allerdings mit einer mangels Finanzierung verschwindend geringen Forschungsleistung und mit einem künstlich niedrig gehaltenen Anteil an höher qualifiziertem Personal.

Die Versuche der Sozialen Arbeit, sich als Fachwissenschaft für Inklusionsfragen und gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt zu etablieren, müssen nun noch deutlicher werden. Die Emanzipation der Sozialen Arbeit als grundsolide Wissenschaft und Profession ist ein dringendes Anliegen.

Unsere Gesellschaft benötigt die Soziale Arbeit für die Aufrechterhaltung der Errungenschaften von Jahrzehnten demokratischer Entwicklung. Die Gesellschaft und ihre politischen VertreterInnen sind gefordert, im Interesse des Landes die öffentlichen Mittel für eine wissenschaftlich gestützte soziale Entwicklung ebenso selbstverständlich bereit zu stellen, wie für die technologische Entwicklung.

Von der staatlichen Politik erwarten wir:

Dieser Tage ist im Alter von 92 Jahren Maria Loley verstorben. Sie war Sozialarbeiterin, der Schule des Case Work verpflichtet, hatte Familienberatungsstellen aufgebaut und war Pionierin einer offenen psychiatrischen Versorgung. Später organisierte sie eine international vorbildliche Versorgung von Menschen, die in den 1990er-Jahren vor dem Krieg am Westbalkan nach Österreich geflüchtet waren. 1996 wurde sie Opfer eines Briefbombenattentats. Sie war konfrontiert mit der Genugtuung und dem gar nicht so stillen Einverständnis von Teilen der Bevölkerung mit dem Terror gegen sie. Sie war entsetzt über die menschenfeindliche Haltung sogar vieler Vertreterinnen und Vertreter der Behörden. Heute ist wieder, und durchaus lauter als damals, menschenfeindliches Reden und Handeln zu beobachten.

Wenn es eine Krise gibt in Österreich, wenn man sich um die Zukunft Sorgen machen muss, dann ist das nicht durch die Flüchtlinge verursacht, sondern durch jene Kräfte, die Menschenrechte und demokratische Errungenschaften infrage stellen. Diese Kräfte finden sich sowohl in der autochthonen Bevölkerung wie auch in der zugewanderten. Es ist keine Frage von Rasse oder Kultur. Die Soziale Arbeit wird darauf Antworten finden müssen, und sie wird gesellschaftlich aktiver werden müssen, als sie es in den letzten Jahrzehnten war. Es geht um viel, und hoffentlich nicht bald um alles. Eine Neuauflage der katastrophalen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann noch verhindert werden. Wir sollten beitragen, was wir dazu beitragen können.


Literatur

IFSW – International Federation of Social Workers (2012): Statement of Ethical Principles. 2 March 2012, http://ifsw.org/policies/statement-of-ethical-principles/ (20.2.2016).


Über die AutorInnen

DSAin Dunja Gharwal, geb. 1970 in Wien

arbeitet bei MA11 (Amt für Jugend und Familie, Wien) und ist IFSW Main Representative to the UN

DSA, Mag. rer. soc. oec., Dr. phil. Peter Pantuček-Eisenbacher, geb. 1953 in Wien

leitet das Department Soziales an der FH St. Pölten und ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa).

www.pantucek.com