soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 15 (2016) / Rubrik "Editorial" / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/464/833.pdf


Editorial Online-Journal „soziales_kapital“

15. Ausgabe Februar 2016


Diversity und Gender – zwei diskursiv aufgeladene Begriffe mit der u. a. die Heterogenität und Vielfältigkeit von Menschen beschrieben, Prozesse sozialer Ausschließung reflektiert oder auch das strategische „Managen“ von Bevölkerung unter ökonomischen bzw. politischen Logiken verstanden wird. Während in den 1990er-Jahren die Rede über Gender und Diversity im deutschsprachigen Diskurs noch ein Nischendasein darstellte, sind die Begriffe aus gesellschaftspolitischen Debatten inzwischen nicht mehr wegzudenken. Ob als verpflichtende Standards in EU-Programmen oder in Auftragsformulierungen von Financiers Sozialer Arbeit – heutzutage kann sich kaum eine Einrichtung leisten, die eigene Fachlichkeit ohne eine Gender- und Diversitätsorientierung zu begründen.

Das Sichtbarmachen von Vielfalt und vielfältiger Benachteiligung gilt insofern als Pflicht und Kür Sozialer Arbeit, wenngleich die verschiedenen Zugänge als auch die professionellen Positionen in hohem Maße divergieren. Mit dem Ziel, diese unterschiedlichen Perspektiven im Fachdiskurs stärker abzubilden, entschieden wir uns als Standortredaktionen und Mitherausgeber_innen für das aktuelle Schwerpunkthema. Die eingegangenen Beiträge dieser Ausgabe zeigen eindrucksvoll, dass mit den unterschiedlichen Perspektiven auf Gender und Diversity anspruchsvolle fachliche Herausforderungen verbunden sind. Zugleich skizzieren die Autor_innen wesentliche Eckpunkte eines reflexiven Selbstverständnisses: Die Vielfalt der Adressat_innen und deren Potenziale anzuerkennen, erscheint ebenso bedeutsam, wie das Sichtbarmachen von vielfach ineinander verschränkten gesellschaftlichen Benachteiligungen aufgrund der (sozial konstruierten) Kategorien gender, race, disability u. v. m. Es zeigt sich auch, dass mit einer verklärten Sicht auf ‚Gender and Diversity‘ unterschiedliche Gefahren verbunden sind. Eine neoliberale Logik, die einzig auf die ökonomische Verwertbarkeit von Vielfalt abzielt, gilt es ebenso zu identifizieren, wie das Verschleiern sozialer Ungleichheiten oder das Tabuisieren von Diskriminierung und Rassismus. Eine stärker intersektionale Perspektive Sozialer Arbeit versucht einerseits, Ausgrenzungserfahrungen sichtbar zu machen und Handlungsfähigkeit der Subjekte zu stärken, andererseits die dahinterliegenden strukturellen Benachteiligungen zu thematisieren. Zugleich wird in den Beiträgen der Anspruch erkennbar, dass Soziale Arbeit sich stets selbst vergegenwärtigen muss, dass sie an homogenisierenden Prozessen beteiligt ist, die der ‚Entfaltung der Vielfalt‘ ihrer Adressat_innen nicht immer förderlich ist.


Vor dem Hintergrund der aktuellen Fluchtbewegungen nach Europa sowie den damit verbunden Problemstellungen für das zivilgesellschaftliche und soziale Feld in Österreich, möchten wir die Überlegungen von Dunja Gharwal und Peter Pantuček-Eisenbacher dieser Ausgabe voranstellen.


Zum Schwerpunktthema „Diversity & Gender“ beschäftigt sich Gabriele Drack-Mayer mit Gender, Migration und Feminismus und der Frage „Ist Feminismus jetzt rechts?“. Katrin Formanek befasst sich mit der Konstruktion kultureller Eigenschaften und Lobbyarbeit in der Sozialen Arbeit, Martin Gössl bearbeitet die Frage von gesellschaftlicher Diversität und den stabilisierenden Funktionen von Vielfalt. Stefan Kitzberger nimmt die Zusammenhänge und Implikationen von gesetzlich verankerter Erwerbslosigkeit und männlichem Rollenverhalten von Asylwerbenden in den Blick. Andrea Nagy lädt dazu ein, Soziale Arbeit „queer“ zu denken und sich mit Heteronormativität besonders auch in der Ausbildung sozialer Professionen auseinanderzusetzen. Eva Neußl-Duscher analysiert in ihrem Beitrag transkulturelle Gemeinschaftsgärten und deren Beitrag zur gesellschaftlichen Integration. Den Zusammenhang von mehrsprachiger Beratung und der Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund untersucht Dagmar Strohmeier. Martina Tißberger analysiert Diversity an der Intersektion von Gender und Rassismus, während Anna-Katharina Vogel wesentliche Ergebnisse einer Diskursanalyse zum Thema der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten präsentiert. Petra Wagner und Bea Hochreiter gehen der Frage auf den Grund, ob oder inwiefern digitales Medienverhalten von Jugendlichen eine Genderfrage ist. Gabriele Wild zeigt auf, wie Differenz in der offenen Kinder- und Jugendarbeit thematisiert wird und stellt Kontexte zum Diversity- und Intersektionalitätsdiskurs in der Sozialen Arbeit her.

In der Rubrik Sozialarbeitswissenschaft nehmen Bernhard Babic, Birgit Bütow und Michaela Katstaller Jugendforschung in Österreich aus institutioneller Sicht in den Blick. Antonia Zauner zeigt Potenziale, Risiken und Ambivalenzen von Dokumentation in der Sozialen Arbeit auf, und Michael Wrentschur beschäftigt sich mit partizipativer Theaterarbeit in Kontexten Sozialer Arbeit.

In der Rubrik Junge Wissenschaft gibt David Köck einen Einblick in die Lebenssituation männlicher Sexarbeiter in Wien und plädiert für die Implementierung einer niederschwelligen Anlaufstelle. Julia Reiner untersucht die organisatorischen Rahmenbedingungen, Einstellungen des Pflegepersonals und den Handlungsbedarf der Klinischen Sozialen Arbeit im Umgang mit Sexualität in Pflegeheimen. Hannah Ringhofer erforscht das Phänomen des Antifeminismus, da vor allem feministische Soziale Arbeit eine potenzielle Zielscheibe für antifeministische Angriffe darstellt.

In der Rubrik Werkstatt geht Sandro Bliemetsrieder der Frage nach, wie eine sozialpädagogische Bildungsforschung ermöglichende und/oder verunmöglichende institutionelle und gesellschaftliche Verhältnisse zentral in den Blick nehmen kann. Birigt Käsmeier, Tanja Tappeiner und Klara Unterweger stellen das Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik vor. Anne Unterwurzacher und Gertraud Pantucek präsentieren ein lokales Erinnerungsprojekt zu 50 Jahre „Gastarbeit“ in der Region St. Pölten.

In der Rubrik Nachbarschaft präsentiert Matthias Müller Strategien der Gesundheitsförderung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien im ländlichen Raum am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern.

In der Rubrik Geschichte der Sozialarbeit befassen sich Jonathan Kufner und Veronika Reidinger als zweiten Teil einer Methodengeschichte der österreichischen Bewährungshilfe mit der Methodenentwicklung ab den 1990er-Jahren.

In der Rubrik Einwürfe/Positionen macht Michael Noack Anmerkungen zu aktuellen Debatten Rund um die Sozialraumorientierung.

Rezensionen liegen für die Werke „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ von Andreas Hechler und Olaf Stuve sowie „30 Tage Sozialarbeit. Berichte aus der Praxis“ von Peter Pantuček-Eisenbacher und Monika Vyslouzil vor.


Marc Diebäcker, Sabrina Luimpöck & Susanne Sommer